Gemeinderats-Briefing #53: Ärzt:innen, Abstellplätze und Altlasten
Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Bessere Arbeitsbedingungen für Assistenzärzt:innen, Velo- statt Autoparkplätze, Abschreibung alter Postulate.
Es sind nicht viele, aber ein paar wenige finden sich doch in meinem erweiterten Freundeskreis. Manche kümmern sich um Augen, andere um Kinder. Was sie alle gemein haben, ist: Sie haben extrem wenig Freizeit und viel Stress auf der Arbeit. Die Rede ist – du wirst es dir vielleicht denken – von Ärzt:innen.
Nach dem Gesundheitsnotstand durch Corona und dem deutlichen Ja der Schweizer Stimmbevölkerung zur Pflegeinitiative vor inzwischen mehr als eineinhalb Jahren gehen die Auseinandersetzungen um eine Verbesserung unseres Gesundheitssystems weiter. Gestern stand im Gemeinderat die Ärzteschaft im Zentrum der Debatte, genauer die Assistenzärzt:innen in den städtischen Gesundheitsorganisationen.
Reis Luzhnica (SP) und Patrick Hässig (GLP) forderten den Stadtrat in einer Motion auf, mittels Weisung die Arbeitsstunden von Assistenzärzt:innen im Vollzeitpensum auf 42 Stunden pro Woche festzusetzen und ihnen mindestens vier strukturierte Weiterbildungsstunden pro Woche zu garantieren. Bei den Massnahmen zur Verbesserung der Bedingungen im Pflegeberuf, die Stadtrat Andreas Hauri (GLP) im Nachgang der Pflegeinitiative im städtischen Programm «Stärkung Pflege» auf den Weg gebracht hatte, habe die Stadt Mut gezeigt und sei vorgeprescht, so Motionär Luzhnica. Das erwarte man nun auch bei den Assistenzärzt:innen, deren Regelarbeitszeit momentan bei über 50 Stunden in der Woche liege und die gemäss einer von ihm zitierten Umfrage mehrheitlich unter Stress und der Angst vor einem Burnout litten.
Stadtrat Hauri erläuterte, warum er in diesem Fall, anders als bei den Pflegekräften, lieber auf eine kantonale Regelung warten und den Vorstoss nur als Postulat annehmen wolle. «Wir wollen Regelungen, die auch kantons- oder besser schweizweit Gültigkeit haben», erklärte er. Was er nicht wolle, sei dagegen eine Konkurrenzsituation zwischen den Gemeinden um die Arbeitsbedingungen bei einer solchen Ausbildungsstelle.
«Diese Arbeitszeitmodelle kommen nicht von einem anderen Planeten.»
David Garcia Nuñez (AL) zur Forderung einer 42-Stunden-Woche für Assistenzärzt:innen
David Ondraschek (Die Mitte) erklärte sich mit der Ansicht Hauris einverstanden und meinte, man werde lediglich ein Postulat, nicht aber die Motion unterstützen. Generell verstanden sich fast alle Ratsmitglieder darauf, dass die aktuelle Situation der Assistenzärzt:innen nicht tragbar sei. Lediglich Walter Anken (SVP) sah das Hauptübel eher in der überbordenden Bürokratie als in der Arbeitszeit und fand, man könne sich das Gesundheitssystem mit den heutigen Kosten nicht mehr leisten.
«Wir müssen und wir können uns das leisten», entgegnete Patrick Hässig (GLP). Natürlich sei die Bürokratie ein Problem, doch das heisse nicht, dass die 50-Stunden-Woche keines sei, zumal die Zeit der Assistenzärzt:innenschaft in der Regel mit der der Familienplanung zusammenfalle. David Garcia Nuñez (AL) sagte, er verstehe die Motion als eine Art Zwischenstufe zur Motion von Anna Graff (SP) und ihm selbst, die der Gemeinderat in diesem Frühjahr überwiesen hatte und die die Einführung einer 35-Stunden-Woche für städtische Angestellte im Schichtbetrieb fordert. «Diese Arbeitszeitmodelle kommen nicht von einem anderen Planeten», erklärte er: «Sie werden anderswo schon praktiziert.»
Vorausgegangen war bereits eine erste Diskussion um die Weiterbildung von Assistenzärzt:innen an den städtischen Kliniken. David Garcia Nuñez hatte die Beantwortung einer Interpellation zum Thema, die von seiner Fraktionskollegin Tanja Maag und ihm eingereicht worden war, als Anlass genutzt, von einer «Misere» im Gesundheitssystem zu sprechen. «Wir erlauben uns seit Jahren den Luxus, deutlich weniger Ärzt:innen auszubilden, als wir eigentlich brauchen», klagte er. Frank Rühli (FDP) bescheinigte Garcia Nuñez daraufhin wahl- und klassenkämpferisches Auftreten und ermahnte, das Thema differenzierter anzuschauen.
Die Motion von Luzhnica und Hässig wurde mit den Stimmen von SP, Grünen, GLP und AL locker an den Stadtrat überwiesen.
Auto- sollen zu Veloparkplätzen werden
Zwei der Lieblingsthemen des Gemeinderats verschmolzen gestern zu einem, als eine Motion der SP-, Grüne- und AL-Fraktion debattiert wurde, die deutlich mehr Veloabstellplätze auf öffentlichem Grund fordert. Ganze 10'000 Veloabstellplätze sowie 500 Cargo-Veloabstellplätze mehr wolle man, so Anna Graff (SP), und zwar zusätzlich zu den bereits geplanten und in der Umsetzung befindlichen. Sie sollten am besten durch Umwidmung von Autoabstellplätzen entstehen, um möglichst nicht zulasten von Aufenthalts- oder Verkehrsflächen des Langsamverkehrs zu gehen. Somit könne ausserdem das Ungleichgewicht von zehnmal mehr Auto- als Veloparkplatzfläche auf den Faktor acht verkleinert werden.
Die SVP sah sich durch diese Ausführungen als Autopartei natürlich provoziert und im Verdacht bestätigt, dass es der links-grünen Ratsmehrheit einzig und allein um die Verbannung des Autos aus der Stadt gehe. «Nicht durchdacht, nicht auf Zahlen basierend, nicht umsetzbar», lautete das Urteil von Johann Widmer. Sein Fraktionskollege Stephan Iten befand, die Motionär:innen gingen offenbar davon aus, dass das Angebot die Nachfrage generiere: «Wir Kapitalisten haben das anders gelernt.»
«Dass das Verkehrssystem gerade im urbanen Bereich angebots- und nicht nachfrageorientiert funktioniert, ist sehr konsistent wissenschaftlich belegt», entgegnete Michael Schmid (AL). Die Mobilitätswende sei dringend und man wolle sie deshalb mit Hochdruck vorantreiben. Dass in der Stadtverwaltung die gleichen Personen sowohl mit der Schaffung von Veloabstellplätzen als auch mit der Sicherheitsinfrastruktur für Velofahrende betraut seien, könne im Falle einer Annahme der Motion zu einer Konkurrenzsituation zwischen Abstellplätzen und Sicherheitsmassnahmen führen, gab er zu bedenken. Er kündigte an, zusätzliche Stellen im Budget 2024 zu beantragen, um dem entgegenzuwirken.
Martina Zürcher (FDP) wies die linke Ratsseite darauf hin, dass sie sich beim Abbau von Autoparkplätzen immer auf das kantonale Planungs- und Baugesetz berufe, das eine Verlagerung von Parkplätzen auf Privatgrund vorsehe. Dies gelte jedoch für alle Verkehrsmittel inklusive Velos, so dass auch diese Motion der bisherigen Argumentation im Wege stehe. «Es ist nicht Staatspflicht, Parkplätze auf öffentlichem Grund zur Verfügung zu stellen, aber man kann es machen», meinte dazu Martin Busekros (Grüne): «Und wir wollen das nun eben für Velos.» Das sei deutlich effizienter als Autoparkplätze, weil statt einem Auto zehn Velos Platz hätten.
Stadträtin Simone Brander lehnte die Motion ab und forderte die Umwandlung in ein Postulat. Der Bedarf sei unbestritten, aber: «Sie haben uns schon unzählige Aufträge erteilt, Abstellplätze zu erstellen.» Darunter seien unter anderem solche in Verbindung mit dem Velotunnel unter dem Hauptbahnhof sowie die Veloparkhäuser an den Bahnhöfen Altstetten und Stadelhofen. Die Motion könne das aktuelle Vorgehen nicht beschleunigen. Ihr Ruf blieb allerdings ungehört: Die Mehrheit aus SP, Grünen und AL überwies die Motion in ihrer ursprünglichen Form.
Ein paar Altlasten weniger
Spätestens ein Jahr nach ihrem Eingang muss sich der Gemeinderat mit Vorstössen wie Motionen und Postulaten beschäftigen, sonst drohen den Ratsmitgliedern zusätzliche Samstagssitzungen (wir haben das Zürcher Vorgehen im Vergleich mit Bern näher betrachtet). Was dabei jedoch manchmal vergessen geht: Auch nach ihrer Behandlung im Rat werden Postulate oft nicht wie üblich abgeschrieben, sondern führen ein unabgeschriebenes Geisterleben.
Über 400 Postulate seien so derzeit in der Gemeinderatsverwaltung hängig, erklärte Martina Zürcher (FDP) in ihrer Funktion als Präsidentin der Geschäftsprüfungskommission (GPK). Nachdem der Stadtrat jeweils im Frühjahr Postulate zur Abschreibung vorschlägt, prüft die Kommission diese Vorschläge jedes Jahr und verhandelt mit den verantwortlichen Fraktionen über deren endgültige Abschreibung. In diesem Jahr habe der Stadtrat 150 Postulate zur Abschreibung vorgeschlagen, von denen nach Rücksprache mit den Fraktionen die Hälfte habe zur Abschreibung freigegeben werden können, erzählte Zürcher. Man habe dann bei 44 Postulaten Rückfragen gestellt und im Ergebnis neun weitere in die Liste abzuschreibender Postulate aufgenommen.
Unter den abgelehnten Abschreibungen, die Zürcher auszugsweise präsentierte, fanden sich solche zu Postulaten für eine Sicherstellung der verfügbaren Parkplätze auf dem Stand von 1990 oder zu einer Vereinbarung mit der SBB über Wohnraum auf dem Neugasse-Areal, die bereits längst überholt scheinen. Stadträtin Simone Brander habe ihr eigenes Postulat aus ihrer Zeit als Gemeinderätin zur Abschreibung freigegeben, die SP-Fraktion lehnte diese Abschreibung allerdings ab.
Matthias Probst (Grüne), der nach neunjähriger Abstinenz von der Kommission und seiner Zeit als Gemeinderatspräsident wieder Mitglied der GPK ist, erklärte, das Problem liege eigentlich tiefer: «Viele hier drin haben schlicht nicht verstanden, dass ein Postulat ein Prüfauftrag ist und kein Umsetzungsauftrag.» Wenn ein Postulat überwiesen sei, gehöre es nicht mehr den Postulant:innen, sondern sei ein Auftrag aus dem Parlament. Statt sinnvoll prüfen zu können, ob der Auftrag jeweils erfüllt sei, ziehe die GPK nun «einen Haufen Leichen mit». Das könne letztlich dazu führen, dass der Stadtrat die Postulate nicht mehr ernst nehme.
Die Weigerung, alte Postulate abzuschreiben, bezeichnete Probst als «Arbeitsverweigerung des Parlaments», wobei er insbesondere die SP-Fraktion ansprach. Er kündigte an, im nächsten Jahr zu einzelnen alten Postulaten Anträge einzureichen, um deren Überfälligkeit zu diskutieren. Damit wolle er zu einem Paradigmenwechsel beitragen, dem Postulat als Instrument das nötige Gewicht beizumessen.
Aus der SP kam sogleich Widerstand: Rahel Habegger erkärte, man verweigere sich nicht der Aufgabe, Altlasten abzubauen, allerdings brauche man für eine konstruktive Lösung einen gewissen Vorlauf und eine Rücksprache mit den jeweiligen Postulant:innen. Marcel Tobler warnte vor den von Probst angekündigten Anträgen: «Bitte verschonen Sie uns mit solchen Metadiskussionen, wie wir sie schon in der Budgetdebatte haben.» Man könne stattdessen eine generelle Diskussion über Sinn und Unsinn des Abschreibens führen.
Die von der GPK vorgeschlagenen diesjährigen Abschreibungen wurden ohne Gegenstimme angenommen, sie waren ja im Vorhinein mit den Fraktionen abgestimmt.
Weitere Themen der Woche
- Einstimmig folgte der Gemeinderat gestern einer Weisung des Stadtrats, die die Annahme der Volksinitiative «Mehr Alterswohnungen für Zürich (Plus 2000)» empfiehlt. In die Gemeindeordnung wird nun das Ziel von 2000 zusätzlichen Alterswohnungen bis 2035 im Vergleich zum Stand vom 31. Dezember 2019 aufgenommen. Auf einen Gegenvorschlag hatte der Stadtrat verzichtet.
- Gegen die Stimmen der SVP stimmte der Rat auch einer Weisung zu, die ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Demenz vorsieht. Insbesondere sollen Massnahmen zur Beratung, Sensibilisierung und Aufklärung gefördert werden, um den mit der Krankheit verbundenen Angstgefühlen und Tabus entgegenzuwirken. Die Weisung ging auf eine Motion von Marion Schmid (SP) und David Garcia Nuñez (AL) zurück.
- Ohne Gegenstimme und damit ohne Diskussion wurde gestern eine Motion der AL-Fraktion überwiesen, die die Überweisung von Entschädigungen, die Stadtratsmitglieder aufgrund ihres Amtes erhalten, an die Stadtkasse fordert.
- David Garcia Nuñez und Tanja Maag (beide AL) haben ein Postulat eingereicht, das ein Pilotprojekt für sogenannte «Freundschafts-Bänke» fordert. Dabei handle es sich um eine in Simbabwe entwickelte Intervention mit psychologisch geschulten Laienhelfer:innen, die Menschen beraten könnten, die sich auf diese Bänke setzen. Das sei angesichts langer Wartelisten bei Spezialist:innen ein kostengünstiger und effizienter Weg, niedrigen Zugang zu psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung zu ermöglichen. In mehreren Kantonen seien sie schon aufgestellt worden.
- David Garcia Nuñez verlas gestern eine Fraktionserklärung seiner AL zur Energiekostenzulage, über welche die antragsberechtigten Haushalte in Zürich in dieser Woche informiert wurden. Man freue sich über die fraktionsübergreifende Unterstützung für die eigene Idee und den zügigen Ausführungsbeschluss des Stadtrats. Weniger erfreut sei man über das bürokratische und aufwendige Antragsprozedere und die «sportliche» Frist zur Antragsstellung. Auch Jehuda Spielman (FDP) und Reto Brüesch (SVP) beklagten sich über die Bürokratie und die kurze Frist von drei Wochen bis zur Antragsstellung.
- Julia Hofstetter (Grüne) ging in einer persönlichen Erklärung auf die beiden kürzlich vom Hauseigentümerverband (HEV) Kanton Zürich lancierten Volksinitiativen ein, mit denen dieser vom Staat eine gleich starke Förderung von Wohneigentum wie von gemeinnützigem Wohnungsbau fordert (wir berichteten). «Die Initiativen kann man zusammenfassen mit: Wenn alles schiefgeht, haftet die Allgemeinheit», so Hofstetter. Man wolle mit Steuergeldern Wohneigentum ermöglichen, ohne dass die Geförderten irgendetwas für die Allgemeinheit tun müssten, und das auch noch auf Kosten von Genossenschaften. Michael Schmid (FDP) meinte, die Diskussion zu führen, sei richtig, doch seien die Initiativen auf kantonaler und nicht auf Gemeindeebene eingereicht worden. «Eigentumsförderung ist auch ein Verfassungsauftrag», schob er noch hinterher.