Die Parlamente in Bern und Zürich suchen nach Lösungen für ihre Pendenzenberge - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Zürich, Bern und die Parlamentspendenzen: «Wenn die Vorstösse beraten werden, ist das Thema womöglich schon vorbei»

Sowohl in Zürich als auch in Bern arbeiten sich die Gemeindeparlamente an schier endlosen Pendenzenbergen ab – das kostet Zeit und bedarf vieler Ressourcen. Ein Problem, dem man in den beiden Städten mit unterschiedlichen Methoden begegnet, wie unser Vergleich der Parlamente zeigt.

Illustration: Selina Frutig / Hauptstadt.be

Im papierlosen Zeitalter müssen Nummern genügen, um die Grösse von Pendenzenbergen anzuzeigen: In Bern warteten vor der Sommerpause 217 Vorstösse auf eine Bearbeitung; in Zürich reihen sich zum Ende der Sommerferien 284 Vorstösse auf der Traktandenliste ein.

Wenn ein Parlament nicht nachkommt mit der Beratung von Vorstössen, sei das ein Problem, sagt der Politologe Michael Strebel. Er hat ein Handbuch zu den Parlamenten in der Schweiz geschrieben. «Parlamentarier:innen reichen Vorstösse oft aufgrund einer Aktualität ein. Wenn sie dann beraten werden, ist das Thema womöglich schon vorbei», so Strebel.

Der Berner Stadtrat hat 80 Mitglieder, die sich alle zwei Wochen im Rathaus in der Berner Altstadt für zwei Sitzungsblöcke à je zwei Stunden versammeln. Das Zürcher Parlament – der Gemeinderat – hat 125 Mitglieder und tagt jede Woche mindestens drei Stunden, nicht selten auch fünf oder mehr.

Das Parlament bestraft sich selbst

Doch offenbar reichen diese opulenten Sitzungszeiten nicht aus, um Schritt zu halten mit den Geschäften. Der Zürcher Gemeinderat setzt genau an diesem Punkt an: Schon seit einigen Jahren kennt er die Regelung, dass Zusatzsitzungen einberufen werden müssen, sobald Vorstösse länger als drei Jahre unbearbeitet hängig sind. Mit der neuen Geschäftsordnung 2021 wurde dieser Bestrafungsmechanismus für parlamentarische Ineffizienzen noch einmal verschärft: Nun werden zunächst einzelne dreistündige Sitzungen auf fünf Stunden ausgedehnt, sobald Vorstösse hängig sind, die über ein Jahr alt sind. Reicht das nicht aus, werden Sondersitzungen am Samstag einberufen.

Stadtrat oder Gemeinderat?

Wie politische Organe bezeichnet werden, unterscheidet sich in der Schweiz von Ort zu Ort. Nicht nur die kantonalen Parlamente und Regierungen heissen unterschiedlich, wie der Grosse Rat in Bern und der Kantonsrat in Zürich. Speziell ist auch die Bezeichnung von Exekutive und Legislative in den beiden Städten: In Zürich heisst das Parlament Gemeinderat und die Regierung Stadtrat, in Bern ist es genau umgekehrt.

Ein ungemütlicher Termin – auch für die Presse, so der ehemalige Gemeinderatspräsident Matthias Probst (Grüne): «Das führt in der Regel dazu, dass dann niemand über die behandelten Geschäfte berichtet.» In seiner Amtszeit 2022/23 führte Probst die Sitzungen verhältnismässig straff und überzog die abendlichen Sitzungen zum Ärger mancher Parlamentarier:innen manchmal sogar bis tief in die Nacht hinein. So schaffte er es, Samstagssitzungen zu vermeiden. Seine Nachfolgerin Sofia Karakostas (SP) hält die Zügel bislang etwas lockerer – Probst geht davon aus, dass deshalb im nächsten Jahr der eine oder andere Samstag als Sitzungstag herhalten muss.

Neben diesem Sondersitzungs-Automatismus hat man in Zürich auch die Redezeit eingeschränkt, um effizienter zu tagen. Schon länger ist es üblich, dass man zehn Minuten für die Vorstellung einer städtischen Vorlage hat und fünf Minuten für alle anderen Redebeiträge. Bei persönlichen Erklärungen, die zu Beginn der Sitzung zu einem beliebigen Thema abgegeben werden können, wurde die Redezeit auf drei Minuten beschränkt. «Das wurde vor allem wegen der SVP eingeführt, weil die das oft zur Selbstdarstellung benutzt hat», sagt Probst.

Eine trügerische Reduktion

Auch der Berner Stadtrat passt seine Verfahren an, um den Pendenzenberg zu verkleinern. Ende 2022 warteten 380 Vorstösse darauf, im Rat behandelt zu werden. Anfang Juli, vor der Sommerpause, sind es noch 217. Doch die rasche Abnahme ist trügerisch: Sie entspringt zu einem grossen Teil der Revision des Geschäftsreglements, die der Stadtrat per Januar beschlossen hat. Antworten auf Kleine Anfragen, Interpellationen und Begründungsberichte zu Richtlinienmotionen werden nicht mehr traktandiert. Alle diese Pendenzen seien inzwischen «bereinigt», schreibt die Staatskanzlei. Welchen Effekt die Massnahmen langfristig haben, zeige sich nach der zweiten Jahreshälfte.

Matthias Probst

Überzog lieber die Sitzungszeit, als am Samstag zu debattieren: Matthias Probst (Grüne), ehemaliger Gemeinderatspräsident in Zürich. (Foto: Steffen Kolberg)

Ebenfalls per Januar wurden die Redezeiten reduziert: Wer einen Vorstoss eingereicht hat, hat zum Beispiel acht statt zehn Minuten zur Verfügung, um ihn zu begründen; Kommissionssprecher:innen und Mitglieder des Gemeinderats dürfen während zehn statt fünfzehn Minuten ihre Meinung dazu äussern. Und für die Begründung von Anträgen gibt es sogar gar keine zusätzliche Redezeit mehr. Im Juni hat Ratspräsident Michael Hoekstra ausserdem eine ausserordentlich lange Sitzung einberufen: Statt vier Stunden tagte das Parlament deren sieben.

«Die Zürcher Lösung ist pragmatisch.»

Michael Strebel, Politologe

Zusatzsitzungen wie in Zürich oder Traktandierungsbeschränkungen wie in Bern – welche Massnahme ist effizienter? Politologe Michael Strebel kann keine eindeutige Antwort geben: «Die Zürcher Lösung ist pragmatisch.» Gespannt sei er, wie sich die Berner Massnahmen auswirken: «Vielleicht hat das Parlament dadurch irgendwann den Eindruck, dass durch die Stärkung des schriftlichen Verfahrens die Debatten fehlen.»

Fraktionsdebatte als Mittel zur Lösung?

Claude Grosjean (GLP) sitzt, mit einem Unterbruch, seit 2009 im Berner Stadtrat, 2015 hat er ihn präsidiert. Er vermutete damals, dass der hohe Pendenzenberg mit den Redezeiten zu tun habe. Seine Hypothese untersuchte er später in seiner Masterarbeit. Bestätigt wurde sie nicht: Viele Schweizer Stadtparlamente verzichten auf Beschränkungen der Redezeiten und haben trotzdem keinen Pendenzenstau.

In seiner Masterarbeit schlägt Grosjean vor, die sogenannte Fraktionsdebatte einzuführen. Die Redezeit würde fix unter den Fraktionen aufgeteilt und die Einzelvoten abgeschafft. Ob damit die Redezeit verkürzt werden könnte, ist offen. Aber: «Die Sitzungen würden planbarer. Man würde exakt sehen, wie viel Zeit es maximal braucht, um die Pendenzen abzubauen.»

«Die Mehrheit will ihr ‹guten Taten› möglichst ausführlich der Welt verkünden.»

Claude Grosjean, GLP, ehemaliger Stadtratspräsident von Bern

Um diesen Vorschlag umzusetzen, müsste das Ratsreglement geändert werden. Grosjean schätzt die Chancen derzeit gering ein, dass das passieren könnte. «Die Ratsminderheit wehrt sich, weil sie sagt, dass Reden das Einzige sei, was sie im Rat tun könnten, da sie Abstimmungen sowieso nicht gewinnen würden. Und die Mehrheit will ihre ‹guten Taten› möglichst ausführlich der Welt verkünden.»

Wo der Stadtrat nichts zu melden hat

Neben den Redezeiten weist Grosjean auf eine inhaltliche Fokussierung der Debatten als weitere Stellschraube hin: «Im Berner Stadtrat herrscht das Selbstverständnis, dass wir dazu da sind, Vorstösse einzureichen.» Dabei wäre ein kommunales Parlament vor allem dazu da, die Sachgeschäfte der Regierung kritisch zu begleiten, über Kredite zu entscheiden, das Budget und die Rechnung abzunehmen und die Oberaufsicht über Regierung und Verwaltung auszuüben. Denn Recht setzen, was gemeinhin die Aufgabe einer Legislative ist, kann ein Gemeindeparlament wie der Stadtrat nur beschränkt: In fast allen Bereichen sind Bund oder Kanton zuständig.

Der Berner Stadtrat befasst sich allerdings oft mit Themen, in denen er nichts zu melden hat. Viele Motionen, die der Stadtrat behandelt, sind nämlich sogenannte Richtlinienmotionen. Sie betreffen Gegenstände, für die der Gemeinderat zuständig ist. Dieser muss zwar begründen, wie er der Motion folgen will, juristisch verbindlich sind Richtlinienmotionen aber nicht. Nur bei «echten» Motionen – sie betreffen Gegenstände, für die der Stadtrat zuständig ist –  ist der Gemeinderat verpflichtet, die geforderte Massnahme umzusetzen.

Claude Grosjean wünscht sich, dass sich die Fraktionen freiwillig vermehrt auf Anliegen in der Zuständigkeit des Stadtrats beschränken und damit weniger Vorstösse einreichen würden.

Die Debatte auf Social Media tragen

Auch der Zürcher Gemeinderat beschäftigt sich häufig mit Geschäften, die eigentlich nicht in seine Kompetenz fallen. In den letzten zwölf Jahren waren meist etwas weniger als die Hälfte der eingereichten Vorstösse Postulate, seit dem Amtsjahr 2020/21 sind es sogar mehr als die Hälfte. Ähnlich wie die Richtlinienmotion in Bern kann der Inhalt eines Postulats ein Anliegen zu einem beliebigen stadtpolitischen Thema sein und betrifft nicht die Kompetenz des legislativen Gemeinderats, sondern des exekutiven Stadtrats. Es handelt sich hierbei um Prüfaufträge oder «Petitionen an den Stadtrat», wie es Matthias Probst nennt.

Postulate führen oft zu langen und erbittert ausgetragenen Debatten. «Alle wollen hinaus senden, dass sie etwas machen und sich einsetzen, auch wenn die Postulate am Ende mit sechs Sätzen im Geschäftsbericht abgeschrieben werden», so Probst. Mit Social Media habe sich dieser Trend verstärkt. Tatsächlich hat mit den vielen jungen Parlamentarier:innen, die nach den letzten Wahlen 2022 neu in den Rat kamen, die Tendenz zugenommen, die eingeblendeten Abstimmungsergebnisse mit dem Smartphone festzuhalten und damit quasi in Echtzeit die Debatte auf Twitter oder Instagram zu tragen.

«Heute steht der Individualismus im Vordergrund.»

Matthias Probst, Grüne, ehemaliger Gemeinderatspräsident in Zürich

Probst glaubt, dass manchen Parlamentarier:innen wohl gar nicht klar sei, dass ihr eingereichtes Postulat am Ende nicht unbedingt umgesetzt werde: «Ein grosser Teil des Parlaments hat vergessen, was eigentlich unsere Aufgabe und unser Kompetenzbereich ist.» Ein Parlament habe die Funktion eines  strategischen Organs der Gemeindepolitik. Ihm komme auch eine wesentliche Gestaltungsaufgabe zu, wenn es um langfristige städtische Strategien geht, beispielsweise im Bereich der Nachhaltigkeit. Solche wichtigen Themen gingen allerdings zu sehr in der Masse von Mikromanagement-Vorstössen unter.

Mehr Einzelkämpfer:innen als früher

Wie Claude Grosjean hat Matthias Probst als Parlamentspräsident an die Fraktionspräsident:innen appelliert, sich zusammenzusetzen und zu diskutieren, wie man den Ratsbetrieb effizienter gestalten kann: «Aber da gab es kein Interesse an einer Veränderung.» Anders als noch vor 10, 20 Jahren hätten Fraktionspräsident:innen heute auch nicht mehr so ein starkes Gewicht innerhalb ihrer Fraktion und damit weniger Kontrolle darüber, wie ihre Fraktionsmitglieder sich in der Sitzung verhalten: «Heute steht der Individualismus im Vordergrund, es hat viel mehr Einzelkämpfer:innen im Parlament.»

Probst zufolge bräuchte es eine Debatte darüber, das Geschäft des Postulats ganz abzuschaffen, um die parlamentarische Arbeit wieder näher an ihre vorgegebene Kompetenz heranzubringen und so auch den Pendenzenberg einzudämmen.

Solange eine solche Debatte aber nicht in Sicht ist, kann es aber vielleicht schon helfen, zu schauen, wie andere Parlamente mit ähnlichen Problemen umgehen. Wobei der Politologe Michael Strebel einschränkt: «Jedes Parlament hat seine Eigenheiten, ist anders organisiert, hat andere Sitzungsrhythmen. Darum muss jedes die für sich passende Lösung finden.» Denn am Schluss gehe es wie bei jedem Geschäft darum, dass die Mehrheit zustimmt.

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