Nicht nur Zürich: «Über 1000 Städte haben sich auf den Weg zu Netto-Null gemacht»
An der gestrigen Pitch-Night zum Auftakt des aktuellen Fokusmonats, legten sieben Expert:innen ihre Standpunkte zum Thema Netto-Null dar. Einige von ihnen reisten dafür direkt vom UN-Klimagipfel aus Glasgow an.
Die Reaktionen auf den jüngst in Glasgow abgehaltenen Uno-Klimagipfel driften auseinander, fasst Chefredaktor Simon Jacoby mit der Eröffnung der Pitch-Night zusammen: «Ist dies nur der Anfang historischer Kompromisse oder ein Fehlschlag?». Der Weltklimabericht der Vereinten Nationen zeichne ein düsteres Bild, sagt Jacoby: «Die Welt brennt und bei anhaltendem CO2-Ausstoss erwärmt sich die Erde demnächst um 1,5 bis 2 Grad Celsius.»
Die Schweiz spielt bei dieser Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn wir belegen auf der Liste der Länder mit dem höchsten CO2-Ausstsoss pro Kopf Platz 15. Um eine mögliche Klimakatastrophe abzuwenden, sehen Politiker:innen wie auch die Wissenschaft die Lösung in einer Reduktion der Treibhausgase auf Netto-Null. Doch bis wann und mit welchen Mitteln wollen wir diesen Zustand erreichen? Dafür habe jede:r sein eigenes Rezept, erklärt Jacoby. Während der Bund Klimaneutralität bis 2050 anstrebt, geht die Stadt Zürich noch einen Schritt weiter und definiert Netto-Null bis 2040 als Ziel.
Einige halten dieses Vorhaben jedoch immer noch nicht für ausreichend. In einer Umfrage von Tsüri.ch sagten rund 62 Prozent der Befragten, dass wir noch früher Klimaneutralität erreichen sollten, beispielsweise bis 2030. Während des Auftakts zum Fokusmonat Netto-Null legen sieben Expert:innen, Politiker:innen und Aktivist:innen ihre Standpunkte zu diesem Thema dar. Jede:r Redner:in hat genau sieben Minuten Zeit, um dem Publikum die eigenen Sichtweisen näher zu bringen.
1. Stephan Schlage - Sustainability Leader IKEA Schweiz
Bis zum Jahr 2030 will Ikea nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv sein, erklärt Stefan Schlage. Momentan verursache das grösste Möbelhaus der Welt rund 0,04 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Das seien rund 21 Millionen Tonnen CO2, wobei vor allem der Holzverbauch eine grosse Rolle spiele: «Rund 500 Millionen Bäume holzen wir für unser Unternehmen ab».
Das soll sich jedoch ändern, sagt Schlage: «Wir wollen ausschliesslich mit erneuerbaren Energien und Ressourcen arbeiten.» Dank einer langjährigen Partnerschaft mit dem WWF habe das Unternehmen deshalb bereits die neunfache Fläche der Schweiz aufgeforstet. «Nicht um diese Bäume wieder abzuholzen, sondern um die Natur zu regenerieren», führt Schlage aus.
Um klimafreundlicher zu werden, sollen in Zukunft Ikea Produkte – inklusive Verpackungsmaterialien – zirkular sein. «Das heisst, alle Produkte sollen so weit wie möglich reparierbar und am Ende ihres Lebenszyklus rezyklierbar sein», erklärt Schlage.
Aus dem Publikum kommt die Frage, ob «Fast-Furniture» nicht in einem krassen Gegensatz zu Nachhaltigkeit steht. «So etwas wollen wir auch gar nicht anbieten», antwortet Schlage. «Die Konsument:innen sollen ihre Möbel so lange wie möglich behalten und sie zurückbringen, wenn sie diese nicht mehr brauchen.»
Hier geht es zum Pitch von Stephan Schlage.
2. Nicolai Diamant - Circular Economy Switzerland
«Die Schweiz braucht heute mehr Ressourcen und Flächen, als die Welt regenerieren kann», verdeutlicht Nicolai Diamant zum Auftakt seines Pitches. Das Konzept des ökologischen Fussabdruckes zeige auf, dass wir auf Kosten zukünftiger Generationen leben würden: «Wir brauchen ein System und eine Wirtschaft, die generationenkompatibel ist.»
Das bestehende Wirtschaftssystem sei jedoch ein Weg zum 8,5-Grad-Szenario, sagt Diamant. «Um herauszufinden, wie wir das verhindern können, müssen wir uns die Natur als Beispiel nehmen und eine Kreislaufwirtschaft etablieren.»
Eine lineare Wirtschaft arbeite nach dem Prinzip Abbau, Verarbeitung und Konsum: «Letztendlich landet alles im Müll.» Eine Recyclingwirtschaft würde diesem Prozess zwar entgegenwirken, Abfall jedoch langfristig nicht verhindern. Hier komme die Kreislaufwirtschaft ins Spiel: «Das geht über Recycling hinaus. Durch Konzepte wie Wiederverwendung sowie recyclinggerechte Produktion schliessen wir Kreisläufe.»
Unternehmen müssten dafür ihre Produkte so konzipieren, dass sie am Ende ihrer Lebenszeit vollständig wiederverwertet werden können. Konsument:innen sollten die Möglichkeit haben, Produkte an die Hersteller zurückzugeben, damit keine Ressourcen weggeworfen werden, sagt Diamant. «Nur gemeinsam schaffen wir es, eine nachhaltige Wirtschaft zu kreieren.»
Hier geht es zum Pitch von Nicolai Diamant.
3. Marie-Claire Graf – Klimastreik
Direkt mit dem Zug vom Klimagipfel aus Glasgow angereist, weist Graf auf einen erfreulichen Punkt hin: «Über 1000 Städte haben sich auf den Weg zu Netto-Null gemacht, darunter auch Zürich.» Dies sei eine wichtige Entwicklung, da Städte auf diese Weise Vorreiterrollen einnehmen können. Dies sei jedoch nicht genug erklärt Graf: «Seit den Kyoto-Protokollen sind rund 80 Prozent der geplanten Pakete zur Reduktion von Emissionen nicht gelungen.»
Mit derselben Vorgehensweise Netto-Null zu erreichen, schätzt Graf deshalb als unrealistisch ein: «Anstelle von kreativen Massnahmen und Rechnungen, sollten wir in der Realität auf Netto-Null kommen.» Die Stadt müsse sich deshalb überlegen, wie sie Klimaneutralität erreichen will: «Zürich hat enormes Potenzial, um auf dem Finanzplatz Klimagerechtigkeit zu schaffen.»
Über die Stadtgrenzen hinaus könnte die Stadt mit Investitionen in nachhaltige Projekte und Technologien indirekt zu einem effektiven Netto-Null-Status beitragen. Aus dem Publikum kommt die Frage, welche klimagerechten Lösungen die Klimastreik-Bewegung nebst dem Finanzplatz sieht: «Im Bereich Landwirtschaft gibt es viel Potenzial, da dort bereits Technologien existieren, die nur noch implementiert werden müssen», antwortet Graf.
Hier geht es zum Pitch von Marie-Claire Graf.
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4. Moritz Güttinger – Zuriga
«Stellen wir uns die Klimakrise einmal als Spiel vor», fordert Güttinger das Publikum heraus. Bei diesem Spiel würden drei Teilnehmer:innen mitmachen, sagt der Gründer von Zuriga: «Die Wirtschaft, die Gesetzgeber:innen und als dritte Partei die Konsument:innen.» Die Frage sei nun, wessen Einfluss wie gross ist bei diesem Spiel. Während die Konsument:innen kein grosses Gewicht hätten und die Politik sich mit Entscheidungen schwer tue, würden die Unternehmen den grössten Einfluss ausüben. «Was müssen wir als Unternehmen also tun, um uns für eine nachhaltige Gesellschaft einzusetzen?», fragt Güttinger.
Die Antwort liege in lösungsorientierten Ansätzen: «Wir müssen begehrenswerte Produkte entwickeln, die eine geringere Klimabelastung aufweisen.» Aus diesem Grund setze Güttinger mit seiner Kaffeemaschinenmanufaktur auf langlebige Geräte.
«Wir bieten eine lebenslange Garantie für unsere Maschinen an, reparieren diese und kaufen nicht mehr benötigte Modelle zurück.» Ob Kaffee überhaupt klimagerecht sein könne, lautet eine Frage aus dem Publikum. «Wir wollen mithilfe von Wartefristen nur Geräte an Kund:innen verkaufen, die diese auch wirklich wollen», antwortet Güttinger. Dabei bestehe das Ziel darin, den Zeitraum zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung zu verlängern.
Hier geht es zum Pitch von Moritz Güttinger.
5. Silas Hobi – umverkehR
Die Antwort auf die Frage, wie wir im Verkehrsbereich Netto-Null erreichen ist für Silas Hobi einfach: «Wir müssen Benzin- und Dieselfahrzeuge verbieten.» Dabei biete ein Fahrzeug mit elektrischem Antrieb keine Alternative, da ein Grossteil des Stroms nicht klimaneutral sei. «Die Strassenbahn, der Zug oder das Velo verursachen zehnmal weniger CO2 als ein Elektroauto», betont Hobi. Mit dem Verein «umverkehR» setzt er sich deshalb für einen weniger motorisierten Individualverkehr ein.
Der öffentliche Verkehr brauche auch bedeutend weniger Platz als Autos: «Unabhängig vom Antrieb, scheidet das Auto als Beförderungsoption aus.» Auch der Flugverkehr habe sich zu einem Problem entwickelt, weil dieser in der Schweiz zu den grössten Treibern des Klimawandels zähle: «Mit dem heutigen Technologiestandard ist ein klimafreundlicher Flugverkehr in einer nützlichen Frist nicht möglich.»
Zusammengefasst erklärt Hobi: Wir müssen weniger reisen. «Autos sollen geparkt und Flugzeuge am Boden bleiben.» Die Schweiz sei sehr gut mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen, antwortet Hobi auf die Frage aus dem Publikum, ob seine Ausführungen für das ganze Land oder aber nur für die Zürcher Hardbrücke gelten. «In der Schweiz können wir so gut wie überall auf klimafreundliche Fortbewegungsmittel umsteigen.»
Hier geht es zum Pitch von Silas Hobi.
6. Martin Neukom - Regierungsrat, Kanton Zürich
«Seit über 40 Jahren wissen wir über den Klimawandel Bescheid und momentan sieht es nicht gut für uns aus», sagt Martin Neukom gleich zu Beginn, um dann aber doch zuerst auf die positiven Entwicklungen einzugehen: «Ein Zusammenspiel aus politischen Massnahmen und wirtschaftlicher Entwicklung hat in Ländern wie den USA bereits viel gebracht», so der Grünen-Politiker: «Viele Leute sind sich nicht bewusst, wie schnell sich Wind- und Solarenergie entwickelt.» Noch in diesem Jahr würden diese Formen der Energiegewinnung in der Schweiz mehr Strom liefern als Nuklearenergie. «Das ist ein Meilenstein und zeigt, welche Dynamik dahinter steckt.»
Im Kanton Zürich würden die CO2-Emissionen aus dem Gebäudebereich zwar linear abnehmen, aber nicht schnell genug, sagt Neukom: «Aus diesem Grund haben wir das Energiegesetz erarbeitet. Im Gebäudebereich lässt sich eine Umsetzung der Netto-Null-Ziele sehr einfach umsetzen.» Klimaneutralität bis 2040 sei mit dem neuen Energiegesetz zwar schwierig, dafür mehrheitsfähig.
So sollen im Kanton sollen Öl- und Gasheizungen nur noch durch klimafreundliche Heizungen ersetzt werden dürfen. Dabei verweist er auf den Kanton Basel-Stadt, der seit 2017 ein ähnliches Gesetz kennt: «Seit dort das Gesetz in Kraft ist, verringerte sich der CO2-Ausstoss enorm. Das können wir im Kanton Zürich auch.»
Hier geht es zum Pitch Martin Neukom.
7. Sonia I. Seneviratne - Professorin Land-Klima Dynamik, ETH
Die Hauptautorin des neusten UN-Klimaberichtes reiste ebenfalls direkt vom Klimagipfel in Glasgow an, um an der Pitch-Night über den Stand der Klimakrise zu berichten. «An der UN-Klimakonferenz haben wir zu wenig erreicht», sagt Seneviratne. Trotzdem bringe die Konferenz positive Aspekte mit sich: «Länder wie die Schweiz, die bisher keine neuen Klimaziele gesetzt haben, müssen bis nächstes Jahr neue Ziele einreichen.»
Weiter habe die Welt auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in Sachen Klimaschutz anerkannt, fährt Seneviratne fort. «Die Schweiz braucht eine Mobilisation im Bereich Klimaschutz, um bessere Ziele definieren zu können», betont die Wissenschaftlerin.
Die Lage sei ernst, weshalb die Klimakonferenz in Alarmbereitschaft war: «Kein:e Politiker:in kann mehr die Dringlichkeit eines wirksamen Massnahmenpakets bestreiten», sagt Seneviratne. Unseren Emissionsausstoss müssten wir noch in diesem Jahrzehnt reduzieren, um die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.
Im Vergleich zum Ende des 19. Jahrhunderts habe der menschengemachte Klimawandel die Temperatur bereits um 1,1 Grad Celsius nach oben getrieben. «Wir stellen in der Schweiz mehr als zwei Grad menschengemachte Erwärmung fest, was sich ohne Zweifel auf den CO2-Ausstoss zurückführen lässt», sagt die Wissenschaftlerin. «Niemand wird verschont bleiben und wir müssen jetzt handeln», schliesst Seneviratne ab.
Hier geht es zum Pitch Sonia I. Seneviratne.
Damit endet die Pitch-Night zum Thema «Netto-Null». Doch der Fokusmonat hat gerade erst begonnen. Am Freitag geht es weiter mit der Podiumsdiskussion «Netto-Null vs. Konsumgesellschaft». Für das Podium kannst du dich hier anmelden. Das ganze Programm des aktuellen Fokusmonates findest du hier.
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