«Verzicht allein reicht nicht», sagt ETH-Forscher zu Flughafenrekord

In der Schweiz fliegen immer mehr Menschen, und auch das Fleischangebot wächst. Anthony Patt, Professor für Klimapolitik an der ETH Zürich, erklärt, warum individueller Verzicht wenig bewirkt und wie politische Rahmenbedingungen das Verhalten verändern können.

Klimastreik Plakat
Seit der Covid-Pandemie ist das Thema Klimawandel in den Hintergrund gerückt. (Bild: Li-An Lim / Unsplash)

Jenny Bargetzi: Der Flughafen Zürich verzeichnete im Juli so viele Passagier:innen wie noch nie. Vor einigen Jahren war Flugscham ein grosses Thema – heute scheint davon kaum noch etwas übrig. Ist uns das Klima egal geworden?

Anthony Patt: Es gibt natürlich einzelne, die bewusst auf Flugreisen verzichten, aber die Mehrheit der Menschen denkt über den Klimawandel nach, ändert ihr Verhalten aber kaum. Das gilt auch beim Fleischkonsum oder bei anderen Alltagsentscheidungen.

Woran liegt das?

Entscheidend ist, ob es attraktive Alternativen gibt. Menschen ändern oft freiwillig ihr Verhalten, wenn eine umweltfreundliche Option einfacher oder gleichwertig ist. Immer mehr Menschen kaufen E-Autos, die ein wichtiger Teil der Klimalösung sind. Aber sie tun das nur, weil E-Autos auch preiswert und praktisch geworden sind. Ähnlich ist es bei Heizungen: Wärmepumpen haben inzwischen rund 80 Prozent des Schweizer Heizungsmarkts erobert, weil sie eine gute Alternative darstellen.

Sie haben den Fleischkonsum angesprochen. Wie ist die Situation dort? Laut Proviande stieg das gesamte Fleischangebot in der Schweiz gegenüber letztem Jahr um fast vier Prozent

Beim Fleisch ist die Situation anders. Vor einigen Jahren gab es eine Welle von Fleischersatzprodukten. Die Hoffnungen waren gross, aber der Markt ist wieder geschrumpft. Laborfleisch existiert nur in sehr kleinem Massstab, etwa in Singapur, und ist sehr teuer. Die Menschen wollen essen, was ihnen schmeckt. Bei Autos und Heizungen nutzen sie Alternativen, wenn sie verfügbar sind, beim Fleisch noch nicht.

Und beim Fliegen?

Da gibt es kaum Alternativen. Kurzstrecken kann man ersetzen, aber auf Strecken wie nach London ist das Flugzeug immer noch billiger und schneller als der Zug. Dass die meisten Menschen fliegen wollen, ist deshalb nachvollziehbar. Flugtreibstoffe ohne Treibhausgas, sogenannte Sustainable Aviation Fuel, werden erst in den nächsten zwei Jahrzehnten breit verfügbar sein. Das braucht auch politische Unterstützung. 

Die Verantwortung liegt also nicht ausschliesslich bei der einzelnen Person. 

Individueller Verzicht auf bestimmte Produkte spielt nur eine kleine Rolle beim Klimaschutz. Wir brauchen politische Massnahmen, die emissionsfreie Alternativen fördern. Viele Veränderungen beginnen in der Politik: Vor 25 Jahren hat man in Deutschland angefangen, Solarenergie zu fördern. Kaum jemand glaubte damals, dass das wirklich etwas bringt. Heute liefert Photovoltaik einen erheblichen Teil des Stroms.

Dasselbe gilt für E-Autos: Norwegen setzte früh auf Elektromobilität, als es nur wenige Modelle gab. Durch die politische Förderung stieg der Markt, die Autos wurden besser, die Preise fielen. Individueller Verzicht spielt nur eine kleine Rolle. Entscheidend sind Rahmenbedingungen, die Alternativen attraktiv machen. Und die werden von der Politik geschaffen.

Menschen sind also grundsätzlich nicht bereit, zu verzichten?

Die Gruppe derjenigen, die auf vieles verzichten wollen, ist klein – und das hat sich kaum verändert. Deshalb müssen wir emissionsfreie Alternativen entwickeln und anbieten. Wenn alle Menschen sie nicht freiwillig wählen, kann der Staat eingreifen. In Deutschland wurden neue fossile Heizungen verboten. Das stiess aber auf viel Widerstand, weil es noch wenig Erfahrung mit Alternativen gab. In Zürich ging es problemlos, weil der Markt schon weitgehend auf Wärmepumpen umgestellt war.

Wie sieht es mit dem Fliegen in der Schweiz aus?

Bei Flugkraftstoffen ist die Entwicklung noch langsam. Ab dem nächsten Jahr soll der Anteil nachhaltiger Treibstoffe gesetzlich zunächst zwei Prozent betragen, bis 2030 sechs Prozent, und bis 2035 sogar 20 Prozent – mit dem Ziel, langfristig deutlich mehr zu erreichen. Dass die Leute mehr fliegen, wird nicht verschwinden. Ich gehöre selbst dazu, ich bin nach zehn Jahren nun doch wieder in die Ferien geflogen. Die Welle der Flugscham hat es gegeben, aber sie ist wieder abgeflaut.

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jenny

Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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