Zürcher Bildungsprojekt: «Viele Stadtkinder waren noch nie auf einem Acker»
Zürich bekommt einen «Weltacker». Auf einem ehemaligen Fussballfeld im Kreis 12 entsteht ein neues Bildungsangebot, das Kindern unser Ernährungssystem näherbringen soll.
«Achtung, freie Laufenten!» – ein Schild, das man mitten in Zürich nicht erwartet. Doch nur wenige Gehminuten von der Tramhaltestelle Roswiesen entfernt, unterhalb vom Huebhof im Kreis 12, können Stadtkinder bald Landluft schnuppern. Vor der geplanten Ackerfläche steht zwar bislang nur ein Schild, das auf das zukünftige Projekt hinweist. Doch in den kommenden Monaten soll auf dem ungenutzten Fussballfeld ein 2000 Quadratmeter grosser Lernacker entstehen.
Die Zahl klingt zunächst beliebig, ist aber das Herzstück der Idee «Weltacker»: Die gesamte Ackerfläche der Erde umfasst rund 1,6 Milliarden Hektar. Teilt man diese durch die Weltbevölkerung, bleiben jedem Menschen 2000 Quadratmeter, auf denen alles wachsen muss, was ihn ernährt und versorgt.
Dazu gehört beispielsweise Weizen für Brot, Kartoffeln, Kohl und Karotten, Mais und Soja für Tierfutter, Zuckerrüben für den Zucker im Kaffee, Baumwolle für T-Shirts, Sonnenblumen für Speiseöl und Raps für Biodiesel. Doch die Realität sieht anders aus: Laut dem Weltacker Verband, einem internationalen Bildungsnetzwerk, beansprucht eine Person in der EU im Schnitt bis zu 3000 Quadratmeter.
Spaghetti Bolognese vom Acker
Um schon jetzt ein Gespür für diese Zusammenhänge zu bekommen und die Zeit bis zur Eröffnung des eigentlichen Weltackers im Frühjahr 2026 zu überbrücken, gibt es neben dem Huebhof bereits die sogenannte «Saison 0».
Das Projekt, das vom Verein Weltacker Zürich betrieben wird, zeigt auf kleiner Fläche exemplarisch, welche Pflanzen nötig sind, um ein einziges Gericht, etwa Spaghetti Bolognese, anzubauen. Dafür braucht es Weizen für die Pasta, Tomaten, Zwiebeln und Gewürze und in der klassischen Variante zusätzlich Futterpflanzen, um Fleisch zu erzeugen.
In der vegetarischen Variante fällt dieser Teil weg, und plötzlich bleibt ein Stück Acker frei, der für anderes genutzt werden könnte. «So wird auf einen Blick sichtbar, wie stark unsere Ernährung den Boden beansprucht.», sagt Olivia Senn, Vorstandsmitglied von Weltacker Zürich.
Dass Zürich bisher keinen eigenen Weltacker hatte, wunderte Senn schon während ihres Studiums in Umweltwissenschaften. Direkt nach ihrem Masterabschluss gründete sie mit Barbara Holzer, Rahel Fuchs und Simone Gabi den Weltacker Zürich. Doch eine passende Fläche zu finden, sei schwierig gewesen.
Nun hat der Verein die Freigabe der Stadt, das ehemalige Fussballfeld unterhalb des Huebhofs zu nutzen. «Wir sind froh, dass wir hier sein dürfen – auch wenn der Boden nicht optimal ist», erklärt Senn.
Ein lebendiger Boden macht Geräusche
Über Jahre wurde der Boden verdichtet, nie bepflanzt, kaum belebt. Bevor hier Gemüse wachsen kann, muss der Boden erst aufgelockert und mit Nährstoffen versorgt werden.
Dass der Boden hier noch wenig Leben in sich trägt, sei hörbar, so Senn: «Mit einem Bodenmikrofon klingt er sehr monoton.» Eigentlich würden Böden Musik machen. Die Geräusche stammen von winzigen Bodentieren, die sich bewegen, fressen oder miteinander kommunizieren. Je vielfältiger die Töne, desto höher die Biodiversität. Auf dem künftigen Weltacker jedoch herrscht Stille.
Bis die ersten Kinder vom neuen Bildungsangebot im Kreis 12 profitieren können, soll sich das ändern: «Viele Stadtkinder waren noch nie auf einem Acker», sagt Senn. «Sie wissen oft nicht, wie Lebensmittel wachsen und was es überhaupt bedeutet, Nahrung in einem globalisierten Landwirtschafts-System anzubauen.»
Geplant ist eine enge Zusammenarbeit mit dem nahegelegenen Schulhaus Probstei.
Das Geld fehlt
Noch aber steckt das Projekt in den Anfängen. Für den weiteren Anbau und das geplante Programm möchte der Verein eine:n Gärtner:in und eine:n Bildungsbeauftragte:n einstellen. Doch dafür fehlt aktuell das Geld.
Der Zürcher Weltacker wird bislang allein vom Weltacker Verband unterstützt, zusätzliche Fördergelder oder Sponsoren stehen noch aus. Langfristig soll sich das Projekt selbst tragen, finanziert durch Mitgliederbeiträge und ein stabiles Netzwerk vor Ort.
Politisch will man sich dabei bewusst nicht einordnen. «Uns ist wichtig, ein offenes, niederschwelliges Bildungsangebot zu schaffen», sagt Senn. «Wir möchten niemanden ausschliessen, sondern Kinder zeigen, wie komplex das globale Ernährungssystem ist. Ohne erhobenen Zeigefinger.»
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch