Frage an Experten: Warum essen wir die Quaggamuschel nicht?

Der Zürichsee steht unter Druck: Invasive Arten wie die Quaggamuschel und der Klimawandel verändern das ökologische Gleichgewicht. Gewässerforscher Thomas Müller erklärt im Interview die Folgen für Tiere, Pflanzen und Badegäste.

Thomas Müller vor dem Zürichsee
Die Erwärmung des Zürichsees bereitet ihm Sorge: Thomas Müller, Gewässerökologe am Eawag. (Bild: Kai Vogt)

Der Zürichsee glänzt an diesem Sommertag im August, vom Bürkliplatz aus sind die Umrisse der Glarner Alpen zu erkennen. Thomas Müller blickt aufs glitzernde Blau. Der Gewässerökologe arbeitet für die neu gegründete Quagga-Fachstelle des Wasserforschungsinstituts Eawag, der eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz.

Kai Vogt: Was fällt Ihnen als Erstes auf, wenn Sie auf den See schauen?

Thomas Müller: Allem voran die Hitze! Zwar hatten wir einen milden Juli, doch nun ist es erneut sehr heiss geworden. An solchen Tagen ist der Zürichsee immer stark genutzt: Es gibt viele Boote, SUPs und Schwimmer:innen, besonders an Events wie der Street Parade letzten Samstag. 

Ist das problematisch für das Ökosystem des Sees?

Zumindest für die Biodiversität. Spezielle Tierarten brauchen natürliche Uferzonen als Rückzugsgebiete. Durch die viele Nutzung und die dichte Bebauung des Seeufers fehlen diese Orte. Dadurch wird die Artenvielfalt beschränkt.

Machen Sie sich Sorgen um den Zustand des Sees? 

Durchaus – besonders wegen des Klimawandels. Der See wird Jahr für Jahr wärmer, was sich ebenfalls auf die Artenzusammensetzung auswirkt. Seit letztem Jahr breitet sich zudem die Quaggamuschel aus, eine invasive Art, die das Ökosystem stark verändern könnte. 

Zwei wichtige Themen – sprechen wir zuerst über die Quaggamuschel. Worin liegt die Gefahr?

Die Quaggamuschel ist widerstandsfähig und kann sich das ganze Jahr über fortpflanzen. Eine Muschel kann bis zu einer Million Eier pro Jahr produzieren und rund zwei Liter Wasser am Tag filtern. Dabei entzieht sie dem Wasser Nährstoffe, die dann anderen Lebewesen im See fehlen.

Zum Beispiel den Fischen?

Sie beeinflusst die gesamte Nahrungskette. Weniger Nährstoffe im Wasser bedeuten, dass Algen schlechter wachsen. Dadurch gibt es weniger Zooplankton, das von diesen Algen lebt. Weniger Zooplankton führt zu weniger Fischen, die sich davon ernähren – und in der Folge auch zu weniger Raubfischen, die auf diese Beutefische angewiesen sind. Die Quaggamuschel verdrängt zudem andere Muschelarten, die wichtige Bestandteile des Ökosystems sind.

Und die Quaggamuschel selbst schmeckt den Fischen nicht? 

Einige Fischarten, wie zum Beispiel Rotaugen, haben sich angepasst und können die Muscheln fressen. Studien aus den USA zeigen aber, dass die Fitness einiger Fische abgenommen hat, vermutlich weil die Muscheln eine weniger nahrhafte Quelle sind.

Wieso essen wir Menschen sie nicht?

Da sie beim Filtern auch Schadstoffe aus dem Wasser aufnimmt und in ihrem Körper anreichert, können die Muscheln giftige Substanzen enthalten. Deshalb raten wir davon ab, sie zu essen. Ausserdem haben sie nur wenig Fleisch.

Klingt nicht besonders schmackhaft. Welche weiteren Folgen hat die Invasion?

Auch die ökonomischen Folgen sind gravierend. Durch ihre schnelle Vermehrung kann die Quaggamuschel Wasserleitungen komplett verstopfen. Ein Teil unseres Trinkwassers wird aus dem Zürichsee entnommen. Sind die Leitungen blockiert, kann im schlimmsten Fall kein Wasser mehr durchfliessen. Auch Kraftwerke sind gefährdet: Werden ihre Entnahmestellen für das Kühlwasser von Muscheln verstopft, kann die Kühlung eingeschränkt oder gestoppt werden.

Ein Seeboden voll mit Quaggamuscheln
Im Bodensee wurde die Quaggamuschel bereits 2016 entdeckt. Letztes Jahr lagen dort im Schnitt 4'500 Muscheln pro Quadratmeter. (Bild: Eawag)

Das kommt uns teuer zu stehen?

Die Entnahmestellen für das Trinkwasser sind in über 40 Meter Tiefe. Müssen Taucher:innen diese Rohre mehrmals jährlich säubern, kann uns das auf die Dauer Millionen von Franken kosten. Neue technische Lösungen wie selbstreinigende Anlagen gibt es bereits, etwa in Biel, doch sind solche Maschinen aufwändig zu bauen und verursachen ebenfalls hohe Kosten.

Wie schlimm ist aktuell der Befall im Zürichsee?

Derzeit gehen wir von einer Muschel pro Quadratmeter aus. Das sind noch nicht viele. Im Bodensee, wo die Muschel 2016 das erste Mal nachgewiesen wurde, waren es letztes Jahr im Schnitt 4'500 Muscheln pro Quadratmeter. Wir haben sie dort schon auf allen Tiefen des Seebodens gefunden. Immer wieder berichten uns Fischer:innen, dass sie regelmässig Muscheln aus ihren Netzen entfernen müssen. Dies blüht uns auch in Zürich. 

In knapp zehn Jahren?

Ja, das ist realistisch. Das könnte auch für Badende einen Nachteil bieten, weil sich die Muscheln in den Uferzonen ansiedeln und scharfe Kanten bilden. So kann man sich beim Hineingehen in den See leicht schneiden.

Gibt es auch positive Folgen?

Höchstens fürs Auge: Das Seewasser wird durch die Muscheln klarer, da sie so viel Nährstoffe herausfiltern. Das kann aber auch zu absurden Konsequenzen führen, wie Beispiele aus Nordamerika zeigen, wo sich die Muschel bereits seit den 1980er-Jahren verbreitet. Dort hat das klarere Seewasser dazu geführt, dass die Immobilienpreise der Häuser am See gestiegen sind. 

Lassen sich die Muscheln auch in den Flüssen nieder?

Eigentlich mögen Quaggamuscheln kein schnell fliessendes Wasser. Aber im Fluss gibt es auch Zonen, wo das Wasser langsamer fliesst, etwa hinter grossen Steinen. Dort können sie sich gut ansiedeln.

Kann man etwas gegen ihre Ausbreitung tun?

Theoretisch könnte man den gesamten Seegrund ausbaggern, doch würde das viele heimische Arten vernichten und sogar dann könnten noch Larven überleben. Derzeit setzt man vor allem darauf, Seen freizuhalten, die noch nicht befallen sind. Im Kanton Zürich müssen Bootsbesitzer:innen ihre Boote bei einem zertifizierten Betrieb reinigen lassen, bevor sie in andere Gewässer fahren. Langfristig könnte eine gezielte genetische Bekämpfung eine Lösung sein.

Sprechen wir über die Auswirkungen des Klimawandels auf den See. Sie meinten, der See werde immer wärmer. Welche Folgen hat das?

Die wärmeren Temperaturen führen zu einer stärkeren Schichtung im See und zu weniger Zirkulation. Das begünstigt zum Beispiel die Ausbreitung von Burgunderblutalgen. Sie produzieren Giftstoffe, die für Hunde und auch für Menschen gefährlich sein können – Schleimhautreizungen und Entzündungsreaktionen sind mögliche Folgen. Im Spätherbst können diese Algen den Zürichsee stellenweise sogar rötlich färben.

Hat die Alge einen Einfluss auf das Ökosystem?

Die Burgunderblutalge benötigt Nährstoffe für ihr Wachstum, ist selbst aber für viele Organismen ungeniessbar. Dadurch entzieht sie, wie die Quaggamuschel, viele Nährstoffe, welche für den Rest des Ökosystems nicht mehr zur Verfügung stehen. Gleichzeitig vermehren sich andere spezifische Algen durch die höheren Temperaturen schneller in den oberen Wasserschichten, wodurch weniger Licht in tiefere Bereiche gelangt und dort weniger Sauerstoff produziert wird.

Welche Folgen hat das für Fische?

Die oberen Schichten werden im Sommer zu warm, in tieferen fehlt der Sauerstoff. Übrig bleibt nur ein schmaler Korridor in der Mitte, der mit steigenden Temperaturen immer dünner wird.

Durch den Klimawandel schmelzen die Gletscher und in den Wintern gibt es weniger Schnee in den Bergen. Wie wirkt sich das auf den See aus? 

In Zukunft wird der Zürichsee im Winter mehr Wasser enthalten, da vermehrt Schmelzwasser zufliesst, und im Sommer weniger, weil es trockener und heisser wird. Gleichzeitig brauchen wir in den Sommermonaten mehr Flusswasser zur Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen entlang der Limmat. Um diesen Bedarf zu decken, wird voraussichtlich mehr Seewasser abgeleitet werden, was den Wasserspiegel zusätzlich senkt. Dadurch schwankt der Wasserspiegel stärker, und wertvolle Lebensräume gehen verloren.

Wenn wir heute auf den See blicken, ist davon nichts zu sehen. Die Stimmung wirkt idyllisch. Ist der Pessimismus gerechtfertigt?

Ich finde nicht, dass wir pessimistisch sein sollten. Die besprochenen Faktoren hängen zusammen, weshalb schwer abzuschätzen ist, wie einzelne Arten oder Umweltfaktoren den See beeinflussen. Sicher ist jedoch: Der Zürichsee wird sich verändern. Um ihn weiter wie gewohnt nutzen zu können, werden wir neue technische Lösungen brauchen.

Im Winter 1963 fand die letzte Seegfrörni statt. Werden wir das nochmal erleben?

Mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Auch wenn es cool wäre! (lacht)

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kai

Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 zog es Kai nach Berlin. Dort absolvierte er ein Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz.

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