Jäger:innen sagen der Umweltsünderin Baubranche den Kampf an
Die Schweizer Baubranche verursacht 500 Kilogramm Abfall pro Sekunde. Bauteiljäger:innen aus Zürich fordern deshalb einen Paradigmenwechsel: Sie vermessen alte Fenster, Türen und Radiatoren, um diese vor der Mulde zu bewahren.
Er klopft mit den Fingern gegen ein Fenster, misst mit einem Laser den Rahmen aus und gibt zu Protokoll: «Fenster aus Holz, doppelverglast, aber nicht isoliert.» Sie macht sich Notizen im Handy und schiesst noch schnell ein Foto. In der Zwischenzeit ist er schon auf die Leiter gestiegen und hebt die Platten, die auf der Decke montiert sind, an. Eine solche hätten sie noch nie wiederverwendet, die Neupreise seien so tief, dass es sich finanziell nicht lohne, diese auszubauen.
Nora Meier und Alexander Schorfmann sind an diesem Morgen in einem Bürogebäude in Oberwinterthur unterwegs. Sie arbeiten für Zirkular. Ein Fachplanungsbüro, das darauf spezialisiert ist, Baumaterialien aus Gebäuden zu retten, die zum Abbruch freigegeben sind, und sich so der Kreislaufwirtschaft verschrieben hat.
Die Bauingenieurin und der Architekt machen sogenannte Screenings. Heisst, sie schauen sich Projekte an, nehmen den Bestand an brauchbaren Bauteilen auf und speichern diese in einer Datenbank. So wissen die Auftraggebenden, welche Teile ihrer Liegenschaft wiederverwendet werden können. Solche Screenings sind Teil der Bauteiljagd. Andere Bauteiljäger:innen im Team von Zirkular vermitteln und managen die Logistik der gejagten Bauteile.
Abfallsünder Baubranche: 500 Kilogramm pro Sekunde
Zirkular ist ein Schwesterunternehmen des Baubüros In Situ, das sich vor über 20 Jahren auf das Bauen im Bestand spezialisiert hat. Dass man Baumaterialien rettet, sie lagert und weitervermittelt, ist längst nicht Usus.
Der grösste Teil des Abfallaufkommens entsteht auf dem Bau. Die Branche ist für 40 Prozent der CO2-Emissionen in der Schweiz verantwortlich und mehr als 80 Prozent unseres Abfalls entsteht durch den Abriss von Häusern. Das sind umgerechnet 500 Kilogramm Bauabfall pro Sekunde, rechnet der Verein Countdown 2030 vor. Allein in Zürich wurden im Jahr 2023 gut 1050 Wohnungen abgerissen.
«Wir verbrennen Geld», sagt Fabian Hörmann. Die Baubranche brauche ein radikales Umdenken, so Anita Ni. Die Bauschaffenden standen für Countdown 2030 an der Pitch-Night zum Thema Kreislaufwirtschaft auf der Bühne. Sie plädierten für eine Mindestnutzungsdauer von Materialien. Besitzer:innen von Bauteilen wären demnach dafür verantwortlich, diese bis zum Ablaufdatum im Umlauf zu behalten. So würden viele Emissionen gespart, die bei der Materialbeschaffung, dem Bau, während der Nutzung und beim Rückbau entstehen.
Ihre Botschaft: Mit der Wiederverwendung von Bauteilen hat man einen riesigen Hebel, um umweltverträglicher zu bauen.
Der nachhaltige Gedanke hat auch Meier und Schorfmann zu Zirkular gebracht. «Wir alle möchten ein Umdenken im Bauwesen bewirken und die Kreislaufwirtschaft voranbringen», sagt Meier. «Die Zukunft liegt im Bestand. Doch dieser Ansatz wird weder an Unis noch in gängigen Architekturbüros ausreichend diskutiert», fügt Schorfmann an.
«Man spart nicht zwingend Geld, aber CO2.»
Nora Meier über die Bauteiljagd
In den oberen beiden Stöcken des Bürogebäudes ist aktuell eine Schule eingemietet. Die Wände sind bunt, überall hängen Zeichnungen und kleine Stühle und Tische stehen verteilt in den Räumen. Die Kinder seien auf einem Ausflug, ideale Voraussetzungen für die Jagd.
Nach zwei Stunden ist der 5. Stock vermessen und abgeschlossen. Schorfmann zieht ein erstes Fazit: «Die Türen haben eine gültige Brandschutzplakette, allenfalls kann man die Radiatoren wiederverwenden.» Die Fenster hingegen seien alt und schwer auszubauen – landen wohl eher auf der Mulde.
Die beiden begeben sich in den nächsten Stock. Wo sie potenzielle Schätze sehen, messen sie, machen Fotos und Notizen in einer App.
«Man spart nicht zwingend Geld, aber CO2», sagt Meier über die Beweggründe, weshalb man mit einem Fachplanungsbüro wie ihnen arbeitet. Progressive Auftraggebende, die den Mehrwert im zirkulären Bauen und dem Wiederverwenden erkennen, gibt es. Auch wenn es noch Einzelfälle sind, so sei die Anzahl an Anfragen doch kontinuierlich steigend, was ein Umdenken in der Bauwirtschaft erkennen lasse.
Eine solche Auftraggeberin ist auch die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG). Sie ist die Eigentümerin der Liegenschaft, in welcher Schorfmann und Meier an diesem Morgen unterwegs sind.
Wie Lego bauen
Auf dem ehemaligen Industriegelände plant die Stiftung das Projekt Campo. Die SKKG kümmert sich um das Erbe von Bruno Stefanini. Der mittlerweile verstorbene Winterthurer profitierte vom Immobilienboom der Nachkriegszeit und baute sich ein Imperium in Milliardenhöhe auf. Das Geld gab er für Kunst, Kuriositäten und historische Gegenstände aus. Diese Sammlung soll einst im Campo ein Zuhause finden.
Auf dem rund 9800 Quadratmeter grossen Areal stehen neben dem Bürogebäude bereits zwei Wohnhäuser und ein Hallentrakt. «All diese Bauten sollen erhalten und zu Wohnungen, Gewerbeflächen oder Werkstätten umgenutzt werden», so die Co-Projektleiterin Maja Trudel. Ein Aufbau und ein weiteres Wohnhaus sind in Planung.
Das Bauen im Bestand sei der Stiftung wichtig, sie wollen nicht alles abreissen. Dies nicht nur aus ökologischen Aspekten, der Campo soll «kein Ufo in der Landschaft sein». Wie genau sie die brauchbaren Bauteile schlussendlich wiederverwenden, ist noch unklar, für diese Beratung steht ihnen Zirkular zur Seite. Eines der geplanten Häuser soll komplett aus bereits existierenden Bauteilen entstehen.
«Wir wollen so bauen, dass man die Dinge eines Tages auch wieder auseinandernehmen kann», sagt Trudel. Das begrüssen auch die beiden Spezialist:innen von Zirkular. Hinter diesem Gedanken steht das Konzept «Design for Disassembly» – Design der Demontage, das zum Ziel hat, die Wiederverwendung von Materialien zu erleichtern. Es soll nur noch so gebaut werden, dass Teile eines Gebäudes ohne Verlust wieder rückgebaut und an einem anderen Ort eingesetzt werden können.
Im übertragenen Sinne könnte man auch von Lego-Häusern sprechen. Architekt Schorfmann macht ein Beispiel und zeigt auf den Radiator im Gang: «Solche Heizkörper kann man abschrauben und ein weiteres Mal verwenden, eine Bodenheizung hingegen nicht, diese ist im Boden versenkt.» Dinge sollten eher geschraubt statt genagelt oder verklebt werden.
Auch bei Leitungen ist es sinnvoll, diese auf statt in der Wand zu führen. «Was vielleicht an Industrial-Style erinnern mag, ist vor allem nachhaltig. Man kann Bauteile eher wiederverwenden, dazu kommt, dass auch die Reparatur einzelner Teile einfacher wird», sagt Schorfmann.
Pionierarbeit, die keine ist
Noch umweltfreundlicher wäre, gar nicht erst neu zu bauen: Im Rohbau stecke ein Grossteil der grauen Energie von Gebäuden, erklärt Meier. Gebäude sollten, sofern möglich, nicht abgerissen und neu gebaut, sondern erhalten, umgenutzt und saniert werden.
Die Bilanz nach dem Screening des Bürokomplexes in Winterthur: Es gebe einige Bauteile, die Potenzial hätten, wiederverwendet zu werden – so etwa die Türen und Radiatoren. «Gerade die oberen Stockwerke sind repetitiv, heisst es kommen viele gleiche Bauteile vor – was für die Wiederverwendung ideal ist», sagt Meier. Dutzende gleiche Türen seien interessanter wiederzuverwenden als Einzelstücke.
Doch wohin mit all den Türen und Radiatoren? Bauteile wiederzuverwenden und zwischenzulagern, ist eine logistische Herausforderung und braucht viel Platz. Ob ein altes Bauteil eine neue Aufgabe erhält, ist oft auch eine Frage des Timings. Die Bauteiljäger:innen geben ihr Bestes, um der Wegwerfmentalität entgegenzutreten.
Revolutionär ist dieses Denken eigentlich nicht: Früher, als der Transport und die Herstellung von Gütern mühsam und teuer war, war die Wiederverwendung von Baumaterial selbstverständlich. Aus ökologischen Gründen gewinnt diese alte Praxis wieder an Dringlichkeit.
Dass sich das Kreislaufbewusstsein langsam wieder in die Baubranche einschleiche, zeige sich laut dem Architekten hoffentlich bald wieder im Stadtbild. «Die Ästhetik vom zirkulären Bauen ist eine neue», sagt Schorfmann. Lego, statt hochpolierter Prunk also.
Um Netto-Null zu schaffen muss die Baubranche zirkulär werden. Wie aber soll das in der Praxis aussehen und wie steht die Branche dazu? Besuche mit uns am 2. Oktober eine Betonrecyclinganlage im Kreis 4 und diskutiere mit Vertreter:innen der Baubranche und der Politik über die zirkuläre Zukunft der Branche.