Abbruchhäuser werden zu Minen
Die Wegwerfmentalität prägt auch die Immobilienbranche – und so kommen über 80 Prozent des Schweizer Abfalls aus der Bauwirtschaft. Doch es entsteht gerade eine gegenläufige Kultur: das Wieder- und Weiterverwenden von Baumaterialien. In Zürich wird ein neues Recyclingzentrum komplett aus wiederverwendeten Materialien gebaut, ein Pilotprojekt.
Dieser Artikel erschien zuerst i
n der Zeitschrift MONETA der Alternativen Bank Schweiz.
Mit Helm und soliden Schuhen betritt Leonhard Schönfelder an einem Sommermorgen eine Baustelle mitten in Zürich. Termine an Orten, wo gebaut wird, sind für Architektinnen und Architekten nichts Ungewöhnliches – aber hier am Ernst-Nobs-Platz wird nichts aufgebaut, sondern ein modernes Bürogebäude umgebaut, und er selber hatte damit bis anhin nichts zu tun. Schönfelder ist gekommen, weil tonnenschwere Bauteile gerettet werden können: fast tausend Lamellen aus Glas, die in den letzten 20 Jahren als Sonnenschutz dienten.
Die Technik funktionierte allerdings nie ganz befriedigend, die Lamellen schienen ein Eigenleben zu haben. Mit der Sanierung der Fassade – auch sie ist aus Glas – soll der schwere Sonnenschutz jetzt wegkommen. 55 Tonnen wiegen die Elemente zusammen, es sind 2400 Quadratmeter spezielles Glas, das bei einem Bruch nicht splittert. Das hochwertige Lamellenglas kann noch lange gute Dienste leisten. Deshalb sollte es eine zweite Bestimmung erhalten. Die Architekt:innen, die für die Genossenschaft Kraftwerk auf dem Kochareal in Zürich ein neues Wohnhaus erstellen, wurden darauf aufmerksam.
Pionierinnen und Pioniere am Werk
An diesem Punkt kam das Planungsbüro Zirkular ins Spiel, für das Leonhard Schönfelder arbeitet: Es ist darauf spezialisiert, aus Abbrüchen Baumaterialien zu retten, diese zu lagern und zu vermitteln. Zirkular ist ein Tochterunternehmen des Baubüros In situ, das von Barbara Buser und Eric Honegger gegründet wurde und sich schon vor über 25 Jahren auf das Bauen im Bestand spezialisierte – eine Pionierarbeit, für die Buser und Honegger 2020 mit dem Schweizer Grand Prix Kunst/ Prix Meret Oppenheim des Bundesamtes für Kultur geehrt wurden. Beim Weiterbauen im Bestand werden, wann immer möglich, Baumaterialien verwendet, die anderswo nicht mehr gebraucht werden.
«Der grösste Impact fürs Klima liegt im Weiterverwenden der tragenden Struktur.»
Zirkular-Geschäftsführer und Architekt Pascal Hentschel
In der Vergangenheit, als der Transport schwerer Güter noch mühsam und teuer war, war die Wiederverwendung von Baumaterialien selbstverständlich, beispielsweise wenn Steine aus nicht mehr benötigten Burgen oder Stadtbefestigungen für den Hausbau verwendet wurden. Angesichts der ökologischen Krisen erhält diese alte Praxis nun eine neue Dringlichkeit: Denn Baumaterialien sind für rund 10 Prozent der hiesigen CO2-Emissionen verantwortlich – insbesondere die Herstellung von Stahl und Beton bedarf gigantischer Mengen Energie. Dennoch werden in der Schweiz jährlich 3000 bis 4000 Häuser abgerissen, wodurch jede Sekunde 500 Kilogramm Bauabfall voller grauer Energie entsteht. Nur ein Bruchteil davon wird weiterverwendet. (Oft wird die Wiederverwendung von Beton mit Recycling verwechselt, was aber nicht dasselbe ist. Denn beim Beton-Recycling wird aus altem Beton neuer hergestellt, was sehr viel Energie braucht.)
Zeitaufwendige und hektische Bauteiljagd
Bauen ist komplex, in der heutigen Zeit mit den vielen geltenden Normen erst recht. Und zirkuläres Bauen ist noch einmal anspruchsvoller, denn jedes Material ist quasi ein Einzelfall, es gibt keine Haftung für Mängel: «Wer Material abgibt, tut dies ohne Garantie», erklärt Pascal Hentschel. Der Geschäftsleiter von Zirkular befindet sich in einem der Sitzungszimmer, die Zirkular mit der Mutterfirma In situ und dem dazugehörenden Think-Tank Denkstatt in Zürich teilt.
Der Hauptsitz ist in Basel, aber auch in Zürich arbeiten rund 35 Mitarbeitende, ihre Räume haben sie in alten SBB-Werkgebäuden. Im Eingangsbereich ihrer Etage stehen Gummistiefel auf einer Kommode aus Metall, an der Wand dahinter hängt eine riesige Karte der Stadt mitsamt Umgebung, in Schwarz-Weiss. Das Grossraumbüro ist hoch und wegen der vielen riesigen Fenster hell, die Holzregale könnten selbst gezimmert sein, die Arbeitstische verschwinden hinter üppig wuchernden Zimmerpflanzen. Hier und dort sieht man eine Auslage verschiedener Materialien-Muster und Zeitschriften aus aller Welt, die sich mit dem Bauen beschäftigen, auch dem zirkulären.
Es ist Ferienzeit, und entsprechend ruhig ist es im Grossraumbüro. Das ist nicht die Norm – oft bleiben den Leuten von Zirkular nur wenige Tage, um dem Abbruch geweihte Häuser anzuschauen, Abklärungen zum Ausbau von Materialien und deren Lagerung zu treffen, Berechnungen anzustellen, zu entscheiden – und dann los! Ihre Arbeit heisst nicht umsonst «Bauteiljagd». Auch die Lagerung der Materialien ist organisatorisch anspruchsvoll. Denn diese können selten nach der Demontage sofort an einen Bestimmungsort geliefert werden. In der Regel müssen sie ausgebaut und zwischengelagert werden, bis sie bei einem neuen Projekt wieder eingebaut werden können.
Die neuen Aufgaben machen die Architektinnen und Architekten auch zu Logistikern, Erfinderinnen und Buchhaltern. Meistens komme es nicht günstiger, mit gebrauchten Materialien zu bauen, sagt Pascal Hentschel. Was man an Materialkosten sparen könne, wiegten die Arbeitskosten wieder auf. Nur schon die Suche sei aufwendig, erklärt der Geschäftsleiter von Zirkular. Es gibt kein Verzeichnis für Bauten, die abgerissen werden. Zirkular forscht eigenständig und liest beispielsweise wöchentlich die Bauausschreibungen im Amtsblatt der Stadt Zürich.
Zirkuläres Bauen muss finanziell interessant werden
Wie komplex und aufwendig das zirkuläre Bauen in der heutigen Zeit ist, zeigt das aktuelle Beispiel der Glaslamellen. Bauteiljäger Leonhard Schönfelder berechnet zusammen mit Christian Ückermann, dem Montageleiter der auf Fassaden spezialisierten Firma Geilinger, wie viele Glaslamellen bei der Lagerung aufeinandergestapelt werden können. Es geht um Masse und Gewicht der Lamellen. Im freundlich-zackigen Austausch wird gemeinsam kalkuliert. Hier ein Spruch, dort ein Witz. Dann Leonhard Schönfelder: «Wie machen wir das jetzt mit dem Preis? Der darf sich nachher nicht mehr ändern.» – Der Montageleiter: «Aha! Zuerst drücken sie den Preis runter, dann die Stückzahl hoch!» Beide lachen. Hinter ihnen dröhnt der Strassenverkehr, vor ihnen der Baulärm.
«Aufträge werden heute nicht nach Qualität oder Nachhaltigkeit vergeben – es wird meistens die schnellste, günstigste Lösung gesucht.»
Pascal Hentschel über einen unumgänglichen Paradigmenwechsel
Die Arbeiter müssen während der bevorstehenden rund einmonatigen Demontage vorsichtig mit den schweren Elementen umgehen: Falls zu viele kaputt gehen, könnte es für den Einsatz am neuen Ort flächenmässig nicht reichen. Die Demontage am Ernst-Nobs-Platz beginnt, sobald alles vertraglich geregelt ist. In den Wochen danach ist von der Strasse her gut zu sehen, wie die Arbeiter die schweren Glaslamellen ausbauen und wegtransportieren. Der «Tages-Anzeiger» schreibt eine grosse Geschichte dazu. Für einmal gibt es in der Kommentarspalte keine Polemik von Leserinnen und Lesern.
Die verschwenderische Wegwerfkultur zu überwinden, scheint ein grosses, beinahe unbestrittenes Bedürfnis zu sein. So sagten letztes Jahr 89 Prozent der Stimmberechtigten im Kanton Zürich Ja zur Kreislaufwirtschaft (siehe «Zürich macht vorwärts mit der Kreislaufwirtschaft»). Auf Kantons- und Gemeindeebene müssen nun günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Stoffkreisläufe zu schliessen. Erst wenn zirkuläres Bauen ökonomisch interessant ist, wird es einen Paradigmenwechsel geben, ist Zirkular-Geschäftsführer Pascal Hentschel überzeugt: «Aufträge werden heute nicht nach Qualität oder Nachhaltigkeit vergeben – es wird meistens die schnellste, günstigste Lösung gesucht.»
Zwölf Bauriesen bekennen sich zur Schliessung von Materialkreisläufen
Links-grün regierte Städte wie Zürich und Basel sind bereits auf dem Weg in Richtung «netto null» – ihre Stimmberechtigten erwarten das. In Zürich beispielsweise wird ein neues Recyclingzentrum komplett aus wiederverwendeten Materialien gebaut, ein Pilotprojekt. Zirkular ist involviert, die Bauteilexpertinnen und -experten haben den Materialien-Katalog erstellt, auf den die am Wettbewerb teilnehmenden Architekturbüros zugreifen konnten. Die Stadt Zürich will Erfahrungen sammeln, wo es praktisch noch keine gibt. Zusammen mit zehn der grössten privaten Bauauftraggeber haben Stadt und Kanton Zürich ausserdem jüngst die «Charta Kreislauforientiertes Bauen» unterzeichnet. Im ersten von sechs Bekenntnissen steht: «Sanieren statt neu bauen.»
Ein weiterer Punkt ist das Wiederverwenden bestehender Materialien. Ist das jetzt der Durchbruch, wenn sich die grossen Immobilienplayer – unter ihnen Swiss Life, UBS, Axa und Allreal – zum zirkulären Bauen bekennen? Die Frage geht an Marc Angst. Der Architekt und Wiederverwendungsexperte arbeitet ebenfalls für Zirkular. In Winterthur war er zusammen mit Pascal Hentschel und weiteren verantwortlich für den preisgekrönten Kopfbau Halle 118, den sie auf dem Dach einer bestehenden Gewerbehalle gänzlich aus wiederverwendeten Bauteilen erstellten.
Marc Angst ist zufrieden mit der Gewichtung der Charta und damit, dass sich die Immo-Giganten zum langfristigen Bauen bekennen, zu weniger Materialeinsatz: «Damit treffen sie ins Schwarze.» Allerdings wünschte er sich in diesem Punkt Konkretisierungen. Etwa zu den Untergeschossen: «Der Elefant im Raum sind die vielen Tiefgaragen. Das sind enorme Volumen und Klimasünden, denn unterirdisch bauen geht nur mit Beton.» Und wie ernst meinen es die zwölf Immobilienriesen mit dem zirkulären Bauen? Da ist Angst nicht bei allen gleich überzeugt. «Das Ambitionslevel ist wohl unterschiedlich gross», meint der Architekt.
Vieles ist noch nicht definiert
Bei Zirkular ist Marc Angst zuständig für Grundlagenarbeit, die allen, die Bauteile weiterverwenden und zirkulär bauen wollen, nützen soll. Zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) analysiert er prozessuale und rechtliche Aspekte des Weiterverwendens von Baumaterialien und erarbeitet einen Leitfaden sowie weitere Arbeitshilfen. Vieles sei bisher noch gar nicht klar beantwortet, sagt er. Die Fragen ergäben sich aus dem Zirkular-Alltag, beispielsweise wenn es darum gehe, eine Absichtserklärung für die Nutzung eines Gebäudes als Mine aufzusetzen: Was gehört da hinein? Was darf nicht vergessen gehen? In diesen Wochen erscheint beim Branchenverband Cirkla ein erstes Merkblatt sowie ein Glossar: «Wir haben auch Begrifflichkeiten definiert. Es ist wichtig, die Dinge präzise benennen zu können!», betont Angst.
Kreislaufwirtschaft im Bauen bedeutet auch, das Ende von Anfang an mitzudenken, Gebäude so zu bauen, dass die einzelnen Teile einfacher als heute wieder auseinandergenommen werden können. In der Fachsprache heisst das «design for disassembly»: die Möglichkeit, Bestehendes auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Würde das die gängige Praxis, könnte künftig jedes Ende eines bestehenden Gebäudes der Neuanfang eines nächsten sein.
Greenwashing-Gefahr
Aber wo Utopie auf Innovation trifft, gibt es immer auch solche, die mitprofitieren wollen. Die Gefahr von Greenwashing ist beim zirkulären Bauen entsprechend gegeben, sogar schon beim Weiterverwenden von bestehenden Materialien. Das läuft erfahrungsgemäss etwa so ab: Ein Bauherr lässt ein bestehendes Gebäude abreissen, baut an seiner Stelle ein komplett neues und verwendet dafür tonnenweise frisch hergestellten Beton und Stahl – einzig die Türen sind secondhand, aus der Bauteilbörse. Genau diese punktuelle, wenig klimarelevante Weiterverwendung hängt er dann aber an die grosse Glocke. Für solche Projekte lasse sich Zirkular nicht einspannen, sagt Pascal Hentschel. Überhaupt setzten sie sich stets für den Erhalt von Gebäuden ein. In einem Rohbau steckten die meisten Kosten, aber auch die meiste Energie, erklärt der Architekt: «Der grösste Impact fürs Klima liegt im Weiterverwenden der tragenden Struktur.»
Beim Glashaus in Zürich verabschiedet sich Leonhard Schönfelder vom Montageleiter, der dringend gebraucht wird. Danach zieht er den schützenden Helm ab und sagt: «Dass beim Rückbau eines Gebäudes die Materialien lange Zeit zu Abfall wurden, prägte die Haltung in den Architekturbüros und auf den Baustellen: Sie wurden als wertlos betrachtet.» Jetzt sollen die Menschen lernen, gebrauchte Materialien mit derselben Sorgfalt zu sehen und zu behandeln wie neue. Es braucht also nichts weniger als einen Kulturwandel. Die Bauteiljagenden nehmen sich seiner an – eine neue Art von Knochenjob auf der Baustelle.
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Wohnen müssen alle. Es erstaunt deshalb nicht, dass kaum ein Thema so stark beschäftigt wie die Wohnungssuche und Mieterhöhungen. Um rund 40 Prozent sind die Mietpreise in der Stadt Zürich in den letzten 20 Jahren gestiegen und es gibt keine Anzeichen dafür, dass dieser Trend abflachen wird. Wohnen wird zunehmend zum Luxusgut. Wie können wir auch in Zukunft in einer bezahlbaren, attraktiven und nachhaltig gebauten Stadt leben? Dieser und weiteren Fragen widmet sich Tsüri.ch einen ganzen Monat lang mit verschiedenen Veranstaltungen und redaktionellen Beiträgen. Zum Programm |