Zwischennutzung «Lagerhaus» muss teuren Apartments weichen

Seit 2022 bieten die Retro-Gebäude an der Lagerstrasse 119 und 121 ein Zuhause für Gastro-Betriebe, Agenturen, eine WG und eine Clusterwohnung. Doch 2027 werden beide Grundstücke abgerissen und müssen teuren Wohnungen weichen.

Lagerhaus WG Lagerstrasse
Unverputzte Decke, herausgeschlagene Wände, Digitaluhr aus früheren Zeiten: diesen Flur des Lagerhauses belegt eine Gross-WG. (Bild: Dominik Fischer)

Es gibt Orte, die wie ein Fels Vergangenheit jahrelang der Veränderung trotzten. Doch Zürichs Aufwertungseifer macht auch vor diesen nostalgischen Ecken nicht halt. Ob es ein neuer Burger King ist, der sich am Albisriederplatz zwischen den urchigen Läden einreiht, der Club Zukunft, der einer Wohnliegenschaft und einem Detailhändler weichen musste, oder die himmelblauen 60er-Jahre-Liegenschaften in der Sihlhallenstrasse, die ab Oktober umfassend saniert werden. 

Neuestes Opfer dieser Aufwertung: Die Zwischennutzung «Lagerhaus» an der Lagerstrasse 119 und 121. Zürcher:innen dürfte das klotzige Retro-Gebäude neben der Olé-Olé-Bar vor allem wegen des Charlatan ein Begriff sein, das im Erdgeschoss eingemietet ist, das Club-Restaurant mit der grössten Discokugel der Schweiz. 

Auf kleinerer Fläche operieren im Erdgeschoss auch der «Suppelade!», die Karaokebar KTVSing und ein Kiosk für mexikanische Tostadas, in den oberen Stöcken gibt es WG’s und Büros. Doch 2027 ist Schluss: Beide Gebäude werden bis aufs Fundament abgerissen und ersetzt.

  • Charlatan

    Neber der Charlatan Restodisco... (Bild: Dominik Fischer )

  • Suppelade Lagerhaus

    ... ist auch der «Suppelade!» im Erdgeschoss eingemietet, (Bild: Dominik Fischer)

  • Mexikanischer Kiosk Lagerstrasse Kreis 4

    ...ebenso wie ein Kiosk für mexikanische Tostadas, (Bild: Dominik Fischer)

  • Karaoke Bar Lagerhaus

    und eine Karaoke Bar (Bild: Dominik Fischer)

«Der gemeinnützige Wohnungsbau gehört nicht zu unserem Auftrag»

So will es die Stiftung St. Stephanus, die im Jahr 2020 aus dem Verein Diakonie Nidelbad hervorgegangen ist. Der Stiftung gehört das Gebäude im Kreis 4 mit seiner Waschbetonfassade.

Nach der Liquidation des Vereins 2020 gingen gemäss Unternehmensregister über 28 Millionen Franken an die neu gegründete Stiftung über, mit zusätzlichen 14 Millionen Franken Fremdkapital. 

Der Neubau soll 2029 einzugsbereit sein, 29 Wohnungen auf fünf Stöcken sind vorgesehen. Gemeinnützigen Wohnungsbau plant die gemeinnützige Stiftung jedoch nicht: Stattdessen soll ein «Wohnungsmix für mittlere bis hohe Einkommen» entstehen, wie es auf der Website heisst.  

Auf die geplant hohen Mieten angesprochen, sagt Moritz Gautschi, Geschäftsführer der St. Stephanus Stiftung: «Der gemeinnützige Wohnungsbau gehört nicht zu unserem Auftrag, aber wir wollen einen guten Mix erreichen.» So seien auch einzelne Subventionierungen für Mieter:innen möglich. 

Zugleich stellt er klar: «Das, was wir als Stiftung sozial einsetzen können, verdienen wir aus Mieteinnahmen.» Tatsächlich finanziert sich die gemeinnützige Organisation «durch die Bewirtschaftung ihrer attraktiven Immobilien», heisst es auch auf der Website. Dort werden auch möblierte Zimmer der Stiftung nahe dem Hauptsitz in Rüschlikon angeboten: 950 Franken kostet hier ein 20 Quadratmeter grosses Zimmer mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad.

Vom Kost- und Logierhaus zum Altersheim für Kreis-4-Originale

Der Verein Diakonie Nidelbad hatte das Grundstück bereits 1908 erworben und bezogen. «Das Gebäude diente einst als sogenanntes Kost und Logierhaus», erklärt Gautschi. Diese Häuser boten bedürftigen Menschen im 19. und 20. Jahrhundert Verpflegung und Unterkunft.

1947 wurde das De-Boni-Haus nebenan an der Lagerstrasse 121, dessen Name noch immer an das einstige Restaurant erinnert, dazu gekauft, sagt Gautschi.

Von 1977 bis 1979 wurde auf dem Grund der Lagerstrasse 119 und 121 ein Ersatzneubau errichtet, zwischen 1979 und 2019 wirkte darin das Pflegezentrum Erlenhof. Dieses war insbesondere in den 80er- und 90er-Jahren «für seinen eigenen Kreis 4 Groove mit Kreis 4 Originalen» bekannt, erinnert sich Gautschi. 

Sogar eine eigene «mediterrane Abteilung» habe es gegeben, in der Italiener:innen, Spanier:innen, und Portugies:innen der ersten Generation Arbeitsmigrant:innen unter sich bleiben konnten, mit Personal, das die gleichen Sprachen beherrschte. «Auf dieser Abteilung herrschte eine andere Mentalität, sie war lauter, lebendiger, und der Gang war eine Art Piazza», erzählt Gautschi. Spätere Generationen hätten diese mediterrane Abteilung jedoch nicht mehr gebraucht. 

Nach Betriebsende 2019 vermietete man die Gebäude an das Immobilienbüro Immobilienkosmos, welches diese bis 2027 als Zwischennutzung organisiert.

Seither macht das Gebäude seiner Funktion als Zwischennutzung alle Ehre. Für Passant:innen sind von aussen nur die Gastro- und Event-Betriebe im Erdgeschoss sichtbar. Doch in den verschiedenen Etagen des Lagerhauses verbirgt sich noch viel mehr.

Günstiger Wohnraum für Gastro-Arbeiter aus Bangladesch

Wer durch die oberen Stockwerke wandelt, wird durch die langen Flure und altmodischen Digital-Uhren an die einstige Nutzung als Pflegeheim erinnert. Heute gibt es im zweiten Stock eine Clusterwohnung für rund 25 hauptsächlich bangladeschische Gastro-Arbeiter:innen, die auf den zentralen und günstigen Wohnraum angewiesen sind. Im dritten Stock lebt eine Gross-WG in den Zimmern. Während der Covid-Pandemie war hier kurzzeitig auch ein Notspital für die Stadt Zürich eingerichtet.

  • Lagerhaus WG Lagerstrasse

    Die Zwischennutzung Lagerhaus bietet einer Gross-WG ein Zuhause. (Bild: Dominik Fischer)

  • Lagerstrasse 119

    Im Keller gibt es Bandräume und ein Kickbox-Studio. (Bild: Dominik Fischer)

  • Charlatan

    Im Erdgeschoss gastiert das Charlatan, mit der inoffiziell grösste Discokugel der Schweiz. (Bild: Charlatan)

  • Innenhof Lagerstrasse 119

    Und es gibt eine grosse Terasse im Innenhof. (Bild: Dominik Fischer)

Auch Gewerbe hat sich eingemietet: Podcast-Produzent:innen sowie Marketing- und Musikagenturen haben hier ihr Büro. Es gibt Bandräume, Feierlustige können Partyräume buchen und im Keller befindet sich ein Kickbox-Studio. 

Bei der Besichtigung mit Ladina Breuss vom Immobilienkosmos in dem Haus herrscht vertraute Stimmung.

Man kennt sich gut, Breuss umarmt verschiedene Mieter:innen zur Begrüssung, in der WG scheint niemand überrascht, wenn plötzlich die Tür aufgeht und Fotos gemacht werden. Small-Talk, Gespräche über die Street Parade und eine gratis Open-House-Party, die am 13. September stattfinden soll, entstehen. 

Um das sechsstöckige Haus zu füllen, hätte es kaum eine Ausschreibung gebraucht. «Wir wurden von Anfragen überrannt», sagt Breuss. Das hohe Interesse beweise, wie wichtig solche Räume und Zwischennutzungen für das kulturelle und gastronomische Angebot einer Stadt sind.

Die grösste Discokugel der Schweiz ist eingemauert

Wie es weitergeht, wenn sie 2027 herausmüssen, ist für viele Mieter:innen unklar. «Wir wollen weitermachen, auch wenn es schwierig wird, eine ähnlich grosse Location zu finden», sagt Elena Nierlich, Mit-Betreiberin der Charlatan Restodisco. Gemeinsam mit sechs Partner:innen konnten sie die gesamten 200 Quadratmeter, auf der sich früher die Mensa des Plegezentrums befand, und die 200 Quadratmeter im Innenhof für das Charlatan nutzen. Auch die grösste Discokugel der Schweiz steuert auf eine ungewisse Zukunft zu, denn: «Die Kugel wurde hineingebracht, als es noch weniger Wände gab, inzwischen ist sie eingemauert und kann nur raus, wenn die Wände wieder herausgerissen werden.» Möglich jedoch, dass sich beim Abriss eine Chance ergibt, die Glitzerkugel in Sicherheit zu bringen. 

Lagerstrasse 119 und 121
Der markante Bau mit seiner Waschbetonfassade steht seit 1979 – und diente 40 Jahre lang als Pflegezentrum. (Bild: Dominik Fischer)

Auch die Zukunft des Suppenladens ist unklar. «Wir wissen noch nicht, wo wir nachher sein werden. Aber wir sind glücklich, dass wir noch etwa zwei Jahre diesen Standort haben und hoffen, dass wir danach wieder fündig werden», schreibt das Team auf Anfrage. 

«Das Gebäude soll zu einer Stütze im Quartier werden»  

Gemäss der Vision der Stiftung St. Stephanus für das Projekt nach 2027 soll der Erlenhof zu einem «innovativen, altersdurchmischten Haus» werden, «für Menschen, die Lust haben am teilgemeinschaftlichen Wohnen und sich gerne für den Ort engagieren». Voraussichtlich 2029 sind die Wohnungen bezugsbereit. 

Das Erdgeschoss des Neubaus solle für Gewerbe zur Verfügung stehen, «das mit dem Stiftungszweck im Einklang steht: Menschen in schwierigen Situationen zu helfen, soziale Lücken zu schliessen sowie Begegnungen im Quartier zu fördern». Zu den Bauplänen an der Lagerstrasse sagt Gautschi: «Wir wollen, dass man sich im Haus kennt, sich wohlfühlt, und das Gebäude zu einer Stütze im Quartier wird und Begegnungen fördert.» Die aktuellen Mieter:innen würden wohl sagen, dass das Haus diese Zielsetzung bereits heute erfüllt. 

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Kommentare

Sämi Bänz
19. August 2025 um 06:18

Opfer?

"Neuestes Opfer (!) dieser Aufwertung"... Also diese Location ist krass deftig kaputt und nicht schön anzusehen. Wenn ich dort mit meinen Hündinnen durchlaufe, denke ich immer: Himmelarschundzwirn, warum reisst man die Baracke nicht ab? Wenn der Journi hier von "Opfer" schreibt, ist das wohl einfach der Pflicht geschuldet, als Tsüri-Journalist immer jede Verbesserung und Aufwertung schlechtzureden.