Mehr als ein Café: Sozialwerk Pfarrer Sieber eröffnet Gassenzentrum im Kreis 5
Ab Mitte Januar bietet die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber ein neues Angebot an der Konradstrasse an. Im Gassenzentrum finden Menschen am Rande der Gesellschaft Schutz, Beratung und Wohnraum. Der Standort im Langstrassenquartier wird zur Anlaufstelle für Jugendliche.
Noch herrscht an der Konradstrasse 62 Chaos: Überall liegt Baumaterial, Maschinen und Abfall herum, Bauarbeiter:innen verlegen Kabel, schleifen Bodenplatten, versiegeln Fugen. Kaum zu glauben, dass hier am Sonntag der Tag der offenen Tür stattfinden soll.
Nach einem Jahr Umbau weiht die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber ihr erweitertes Angebot für Menschen am Rande der Gesellschaft ein: Aus dem Gassencafé «Sunestube» wird an der neuen Adresse ein Zentrum mit Café, Beratungsstellen, Kleiderladen, Duschen sowie Wohnraum. Ab 19. Januar sind die Türen für Betroffene geöffnet.
«Armut und Obdachlosigkeit werden immer ein Teil unserer Gesellschaft sein, deshalb braucht es Angebote, die Betroffene gezielt unterstützen», sagt die Leiterin der Stiftung, Friederike Rass, am Medienanlass am Freitag vor dem Tag der offenen Tür.
Bedürfnisse der Betroffenen im Fokus
Kernstück des Projekts bildet das neue Café im Erdgeschoss. Hier finden Obdachlose und Armutsbetroffene nicht nur einen Raum, wo sie zur Ruhe kommen können, sondern auch kostenlose Verpflegung. Die «Sunestube» an der Militärstrasse platzt laut Rass schon seit längerem aus allen Nähten.
Seit 2021 haben sich die Besuchszahlen ihr zufolge beinahe verdoppelt. Im renovierten Haus könnten nun 35 statt 24 Plätze angeboten werden. Der frühere Standort im Kreis 4 bleibt der Stiftung als Treffpunkt für Jugendliche in prekären Lebenssituationen erhalten.
Neben dem grösseren Cafébereich bietet das neu gegründete «Pfarrer-Sieber-Huus» im Kreis 5 auch Duschen und Waschmaschinen an. Gerade obdachlosen Menschen fehle der Zugang zu fliessendem warmen Wasser, erklärt Stefan Haun. Er leitet den Bereich der niedrigschwelligen Hilfsangebote bei der Stiftung. «Das Haus sollte nach den Bedürfnissen unserer Klient:innen gebaut werden», so Haun.
«Wir wünschen uns ein offenes, buntes Haus mit vielen Gesichtern. Menschen am Rand der Gesellschaft sollen nicht abgekapselt existieren.»
Stefan Haun, Bereichsleiter «Auffangen»
Deshalb gibt es an der Konradstrasse auch einen Ruheraum. Da die Notschlafstellen wie der Pfuusbus von Pfarrer Sieber erst am Abend öffnen, brauche es einen Ort, wo sich Besucher:innen auch tagsüber hinlegen und ausruhen könnten.
Wer stabil genug ist, hat hier auch die Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten. Insgesamt 14 Kleinwohnungen bietet die Stiftung im Haus, oberhalb der Ruheräume, an. Ein Bedürfnis, das aufgrund der Wohnungsknappheit in Zürich an Dringlichkeit zugenommen habe, so Haun. «Unsere Mieten sind so tief, dass sie mit Sozialhilfe oder Ergänzungsleistung bezahlbar sind.»
Um eine möglichst durchmischte Mieterschaft zu schaffen, werden vier der Wohnungen an Personen vermietet, die nicht der Klientel der Stiftung entsprechen, sondern als Freiwillige bei der Stiftung mit anpacken. «Wir wünschen uns ein offenes, buntes Haus mit vielen Gesichtern. Menschen am Rand der Gesellschaft sollen nicht abgekapselt existieren», sagt Haun.
An der Konradstrasse nahm alles seinen Anfang
Auch für Menschen, die medizinische oder psychologische Hilfe benötigen, gibt es im «Pfarrer-Sieber-Huus» Angebote. Mehrmals wöchentlich sind kostenlose Sprechstunden und Beratungen durch die Seelsorge geplant. Gerade bei gesundheitlichen Fragen sei Niederschwelligkeit wichtig, sagt Rass.
Schwerwiegende Fälle würden – falls erwünscht – in den «Sune-Egge» überwiesen. Das Fachspital steht am Anfang der Stiftungsgeschichte und hat sich auf die ambulante und stationäre Betreuung von Suchtkranken spezialisiert.
Bis 2024 befand sich der «Sune-Egge» an der Konradstrasse. Da sich das Angebot jedoch zunehmend professionalisierte, suchte man viele Jahre für eine Nachfolgelösung, die den Ansprüchen eines Spitals entsprach. Im Sommer des vergangenen Jahres zog die Einrichtung schliesslich nach Zürich-Affoltern, weshalb das Haus an der Konradstrasse die neue Aufgabe erhielt.
Dass das Gassenzentrum ausgerechnet hier entstehen konnte, geht auf das Engagement von Pfarrer Ernst Sieber zurück. In der Garage der Liegenschaft hatte Sieber ab 1988 Kranke und Sterbende der offenen Drogenszene des nahe gelegenen Platzspitz aufgenommen und pflegen lassen. Später vermachte ihm die Eigentümerschaft das Haus, worauf er den «Sune-Egge» gründete.
Neues Angebot für Jugendliche
Nicht nur an der Konradstrasse schliesst sich damit ein Kreis. Die ehemalige «Sunestube» an der Militärstrasse soll eine Anlaufstelle für 16- bis 21-Jährige werden, wo sie sich tagsüber ohne Konsumzwang aufhalten könnten, erklärt Haun. Sowas fehle in Zürich. Im Gassencafé gilt eine Altersgrenze von 18 Jahren.
Über einen Zeitraum von zwei Jahren soll nun geprüft werden, ob der Standort im Langstrassenquartier von Jugendlichen genutzt wird. Die Kritik, Minderjährige damit ins Milieu zu bringen, dementiert Haun: «Unser junges Klientel ist bereits im Kreis 4 unterwegs. Es ist deshalb sinnvoll, den Treffpunkt dort einzurichten, wo die Jugendlichen sind – und das ist nun mal nicht irgendwo am Stadtrand.»
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.