Mehr Sicherheit auf Zürcher Strassen: Weshalb müssen zuerst Kinder sterben?

Seit kurzem gilt auf dem Escher-Wyss-Platz Tempo 30. Auslöser dafür war ein tragischer Unfall im Jahr 2022, bei dem ein Fünfjähriger sein Leben verlor. Auf anderen Stadtzürcher Strassen blockiert der Kanton eine Temporeduktion – auf Kosten der Sicherheit von Kindern, so unser Kolumnist Thomas Hug.

Escher-Wyss-Platz Gedenkstätte
Beim Escher-Wyss-Platz erinnert bis heute eine Gedenkstätte an den tragischen Unfall. (Bild: Thomas Hug)

Die Erinnerung an den Mittwochmorgen kurz vor Weihnachten 2022 löst bei mir auch heute noch Bestürzung aus. Damals wurde beim Escher-Wyss-Platz ein fünfjähriger Bub von einem Auto angefahren – und ein junges Leben endete viel zu früh. In der darauffolgenden Debatte um Verkehrssicherheit wurde oft vermittelt, dass das Sterben im Strassenverkehr ein unumgängliches Gesetz sei, das sich nicht ändern lässt: Wo viele Personen unterwegs sind, geschehen Unfälle. 

Statt als menschliche Tragödien werden Unfälle zu häufig als unvermeidbare Statistik abgetan. Der öffentliche Aufschrei weicht zu schnell dem Alltagstrott. Das schmerzhafte Bewusstsein der Gefahr auf der Strasse vergessen wir schnell wieder, wenn uns die schweren Unfälle nicht persönlich betreffen.

Sind wir tatsächlich mittlerweile so abgestumpft worden, dass jährlich nahezu 200 schwerverletzte oder tote Kinder im Schweizer Strassenverkehr stillschweigend akzeptiert werden? 

Wir wären gut beraten, dies nicht leichtfertig hinzunehmen. Nicht nur, weil dies ein Armutszeugnis für die automobile Gesellschaft wäre. Sondern auch, weil das Ausland zeigt, dass es anders geht: In der Schweiz sterben fast doppelt so viele Kinder im Strassenverkehr wie in Norwegen oder Schweden – sogar das Autoland Deutschland ist weniger gefährlich für junge Menschen.

Auch Amsterdam war einst ein Paradies für Autos, der Blutzoll der Blechkisten entsprechend hoch. In der ganzen Niederlande formierten sich deshalb in den 1970er-Jahren Proteste gegen das Sterben im Verkehr. Die bekannteste Gruppierung kämpfte unter dem Namen «Stop de Kindermoord». Der Widerstand hallt bis heute nach und führte zum Umdenken in der Niederlande, dass Menschen zu Fuss und auf dem Velo besser geschützt werden müssen.

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In den1970er-Jahren protestierte man gegen das Kindersterben auf niederländischen Strassen. (Bild: Nationales Bildarchiv Niederlanden)

Über 50 Jahre später will auch die Stadt Zürich das Problem endlich an der Wurzel packen: Auf immer mehr Strassen soll Tempo 30 eingeführt werden. Eine einfache Massnahme, die Kinder zu Fuss oder auf dem Velo wirkungsvoll schützt. So führte die Stadt auch am Escher-Wyss-Platz Mitte Mai Tempo 30 ein, nachdem sie sich mit Druck aus Politik und Gesellschaft konfrontiert gesehen hatte. So wurde im Gemeinderat ein Vorstoss lanciert und eine Petition innert kürzester Zeit über 5000 Mal unterzeichnet. Mittelfristig wird es für echte Sicherheit zwar eine komplette Umgestaltung brauchen. Trotzdem erstaunt es, dass mit der Temporeduktion nun ein erster Schritt geglückt ist.

«Tempo 30 ist gut für uns alle. Und das sollte uns bewusst werden, bevor zuerst Menschen sterben müssen.»

Thomas Hug, Mobilitätsexperte

Denn der Escher-Wyss-Platz ist eine kantonale Hauptverkehrsachse. Mit verschiedenen Initiativen machen die Bürgerlichen Stimmung für ein Verbot von Tempo 30. Der Regierungsrat des Kantons Zürich unterstützt diese Initiativen sogar. Umso erstaunlicher, dass Tempo 30 beim Escher-Wyss-Platz völlig unumstritten war. Keine Partei (ausser der SVP – «die Strassen waren schon vorher da») hatte etwas dagegen einzuwenden. Und für einmal machte auch die Kantonspolizei keine Einsprache.

Es stellt sich die Frage: Wäre dieses Temporegime auch ohne den tragischen Unfall so einfach akzeptiert worden? Oder traut sich hier schlicht niemand, sein wahres Gesicht zu zeigen? Die Kantonspolizei verhindert Tempo 30 bei der Rosengartenstrasse – auch da führen Schulwege entlang. Und auch an der Seestrasse blockiert der Kanton eine Temporeduktion, obwohl die 50er-Zone direkt neben einer städtischen Badi vorbeiführt, die gerne auch von Kindern besucht wird.

Während die Kantonspolizei unter dem parteilosen Regierungsrat Mario Fehr beim Escher-Wyss-Platz also plötzlich menschliche Einsicht walten liess, verhindert sie sonst in der Stadt weiterhin grossflächig Tempo 30. Während die FDP und Mitte auf kantonaler und nationaler Ebene gegen Temporeduktionen ankämpfen, waren sie beim Escher-Wyss-Platz plötzlich still. Weshalb muss ein Kind sterben, damit die Sicherheit aller Menschen auf städtischen Strassen genügend hoch gewichtet wird?

Der Escher-Wyss-Platz kann überall sein. Diese fossilen Grabenkämpfe gehören endlich überwunden. Tempo 30 ist gut für uns alle. Und das sollte uns bewusst werden, bevor zuerst Menschen sterben müssen.

Thomas Hug

Thomas Hug ist Verkehrsplaner und Stadtentwickler bei urbanista.ch und engagiert sich für zukunftsfähige Lebensräume – stets auf der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht von Arbeit, Aktivismus und Politik. Als Experte für Verkehrswende und nachhaltige, inklusive Mobilität versucht Thomas eine menschenzentrierte Sicht auf die Mobilität zu fördern. Er ist eher Generalist mit dem Blick auf das Ganze wie Spezialist mit dem Auge fürs Detail.

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