Netto Null bis 2040: Ein Schritt zurück – oder einer vorwärts?
Netto Null bis 2040 und nicht bis 2030 – der Zürcher Stadtrat ist von einem extrem ambitionierten auf einen sehr ambitionierten Kurs umgeschwenkt. Wie dieser Entscheid einzuordnen ist, kann erst vermutet werden. Zu viele Faktoren beeinflussen das komplexe Thema. Klar ist einzig: Das Projekt braucht breite Unterstützung. Und viel Schnauf.
Schulterklopfer von der einen, heftige Kritik von der anderen Seite: Im März 2019 erntete der Stadtrat Gemeinderat Reaktionen verschiedener Art. Damals verabschiedete er eine Motion mit dem Ziel, bis 2030 die Treibhausgasemissionen auf netto null zu senken. So divers die Meinungen damals waren – einig darüber, dass das Ziel enorm ambitioniert ist, waren sich wohl alle. In den Augen des Stadtrats zu ambitioniert, wie sich im April dieses Jahres zeigte. 2040 soll es nun soweit sein, wurde an einer vielbeachteten Medienkonferenz kommuniziert.
Ein gutschweizerischer Kompromiss
Ist dies nun ein Rückschritt? Ein Fortschritt? Dass der Klimastreik anderer Meinung sein dürfte als etwa Wirtschaftsvertreter:innen, liegt auf der Hand. Jedenfalls ist das neue Ziel nicht aus der Luft gegriffen, sondern wurzelt in einem Grundlagenbericht von Infras und Quantis. Darin wurden die Zieljahre 2030, 2040 und 2050 verglichen. Dem Bericht zufolge ist netto null bis 2030 nicht realistisch. Zu bald, zu teuer. Es ist von heute existierenden Rahmenbedingen zu lesen, von der technischen und politischen Machbarkeit, von einer strategisch sorgfältiger Planung, die vonnöten ist, auch von der Akzeptanz in der Bevölkerung oder von volkswirtschaftlichen Kosten.
Aus Sicht des Stadtrats ist es machbar – wenn alle Beteiligten daran arbeiten.
Stadtrat Andreas Hauri im SRF
Ein weiteres Argument, dass selbst für die grössten Kritiker:innen der Zielverschiebung um zehn Jahre nachvollziehbar sein dürfte: Wäre man beim Ziel 2030 geblieben, hätte das einem nachhaltigen Umbau energiebezogener Infrastruktur widersprochen. Die Frage, ob es wirklich nachhaltig ist, intakte Geräte zu ersetzen und entsorgen, darf jede:r für sich selber beantworten. Zudem hätte ein grosser Teil der Treibhausgase an einem anderen Ort kompensiert werden müssen; eine Praktik, auf welche der Stadtrat in seiner Strategie verzichtet.
2040 wurde von den Autor:innen des Berichts jedenfalls als bevorzugte Variante aufgezeigt. Wurde 2030 vom Stadtrat offenbar als technisch nicht umsetzbar eingestuft, so wäre 2050 politisch kaum umsetzbar gewesen, zu gross wohl wäre die Opposition in der links-grün dominierten Stadt Zürich gewesen. So gesehen ist 2040 ein gutschweizerischer Kompromiss. In Stein gemeisselt ist die Strategie 2040 indes noch nicht. Gemeinderat und Stimmvolk werden sich noch über die Frage äussern dürfen.
Fahren 2040 alle Velo?
Ob Kompromiss oder nicht: Das Ziel netto null in 19 Jahren ist ambitioniert. Um es zu erreichen, braucht es nicht nur finanzielle Mittel – der Stadtrat spricht von einer halben Milliarde Franken jährlich – sondern auch ein Effort der Politik, der Bevölkerung und der Wirtschaft. Oder, wie es Stadtrat Andreas Hauri unlängst gegenüber SRF ausführte: «Aus Sicht des Stadtrats ist es machbar – wenn alle Beteiligten daran arbeiten.» Es ist ein fettes «wenn».
Was bedeutet die Zielsetzung nun konkret für die Stadt und ihre Bewohner:innen? Wie das Leben 2040 sein wird, kann freilich niemand exakt vorhersagen. Netto null hin oder her. Geschätzt wird aber, dass bis dann mehr als eine halbe Million Menschen in Zürich wohnen, was das Erreichen des Ziels wiederum nicht einfacher macht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Hälfte des Co2-Ausstosses auf Gebäude, also das Wohnen und Arbeiten, zurückzuführen ist.
Hier setzt der Stadtrat einen der wichtigsten Hebel an. Das Heizen mit Öl oder Gas soll bis dahin ganz verschwinden und mit erneuerbaren Energien ersetzt werden. Das macht Investitionen nötig. Dass die Hauseigentümer:innen die Kosten auf die Mieter:innen abwälzen und die ohnehin schon teuren Mietzinsen abermals höher werden, soll mit Förderbeiträgen der Stadt verhindert werden. Konkret: Solaranlagen auf Dächern werden in Zukunft vermehrt zu sehen sein.
Wohl einen noch direkteren Einfluss auf das Leben der Stadtbewohner:innen hat die Mobilität, respektive wie sich das Bewegen durch die Stadt durch netto null verändern wird. Ein besonderes Augenmerk liegt wenig überraschend auf dem Ausbau von Fuss- und Velowegen sowie dem öffentlichen Verkehr. Konkret: Parkplätze müssen Velowegen weichen. Wenn ein:e Autofahrer:in dennoch einen Parkplatz findet, dürfte tiefer in die Tasche gegriffen werden müssen.
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Und alles rundherum?
«Aus Sicht des Stadtrats ist es machbar – wenn alle Beteiligten daran arbeiten.» Die grosse Bedeutung der Worte von Stadtrat Hauri enden nicht beim Wohnen, Arbeiten und der Mobilität, sondern werden ab dann nochmals bedeutender. Der Grundlagenbericht von Infras und Quantis beinhaltet mit Themen wie Ernährung und Konsum Themen, die jede und jeden betreffen. Erwähnt werden Präventionsprogramme zu Übergewicht, Lenkungsabgaben auf Fleisch, Förderung von klimafreundlicher Ernährung oder Massnahmenpläne zur Verminderung von Food-Waste. Allesamt interessante Ansätze, die aber einerseits Kosten verursachen und – entscheidender – nicht fruchten werden, wenn die Bevölkerung die Stossrichtung des Stadtrats nicht mitträgt. So verhält es sich beispielsweise auch mit dem Flugverkehr: Zwar kann die Stadt als Minderheitsaktionärin des Flughafens Zürich ökologische Vorgaben anbringen, vielleicht gar durchsetzen – fliegen die Bewohner:innen monatlich durch Europa, bringen die Anstrengungen reichlich wenig.
«... wenn alle Beteiligten daran arbeiten» – ja dann ist das neue Ziel netto Null 2040 ein Schritt zurück, um danach zwei vorwärts zu machen. Wenn aber der Rückhalt aller Beteiligten nicht vorhanden ist, dann nützen auch zehn Schritte nach vorne herzlich wenig.
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