Der langsame Tod der Kulturkritik – und dessen Folgen

Die Beziehung zwischen Kulturschaffenden, Kulturjournalist:innen und Kulturkonsument:innen ist in Schieflage geraten. Wir haben mit einem Journalisten, der sich an ein neues Kulturmagazin herangewagt hat, gesprochen. Und mit jenen, die unermüdlich und oft vergebens versuchen, Kulturangebote an die Medien zu vermitteln.

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Der Kulturjournalismus ist in der Krise. (Foto: Loyd Dirks/unsplash)

Zürich ist eine Kulturstadt: Von Konzerten, Theatervorführungen und Festivals bis hin zu Workshops, Podiumsdiskussionen und Kunstinstallationen finden hier täglich unzählige kulturelle Angebote statt. Doch was bringen spannende Veranstaltungen, wenn niemand etwas davon mitbekommt? Im Journalismus fehlt das Geld und das bekommen zuerst die Kulturredaktionen zu spüren, die zusammengekürzt oder ganz gestrichen werden. Dies hat dazu geführt, dass die eigentlich enge Beziehung zwischen Kulturschaffenden, Kulturjournalist:innen und Kulturkonsument:innen aus dem Gleichgewicht geraten ist, was auch eine Studie des Forschungszentrums für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich belegt. Die Wissenschaftler:innen haben für den Zeitraum von 2015 bis 2019 die Kulturberichterstattung in 48 Nachrichtenmedien der Schweiz untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass die «sinkende Vielfalt in der Schweiz aus einer Qualitätsperspektive eine zentrale Problemzone des Journalismus» darstelle. 

Will heissen: Es gibt in der Schweiz nur noch einige wenige grosse Medienhäuser, die in allen Regionen die gleichen Inhalte verbreiten; zudem erreichen neue, zumeist Onlinemedien, zu wenig Publikum; und die Vielzahl existierender Plattformen werden zum grössten Teil von Verbänden betrieben. Sind somit also kein Garant für vielfältigen und unabhängigen Kulturjournalismus. Besonders von dieser Entwicklung betroffen, seien «meinungsbetonte Formate, allen voran Rezensionen», so die fög-Studie. Ohne Kulturjournalismus fehlt jedoch viel Kompetenz in der Vermittlung von Kulturangeboten an die breite Öffentlichkeit. Infolgedessen fehlen auch die Besucher:innen. Diesen Mittwoch werden wir am Tsüri-Podium «Zürich: Kulturstadt ohne Kulturjournalismus?» über das langsame Verschwinden des Feuilletons diskutieren. Doch davor haben wir mit eben jenen gesprochen, die unermüdlich versuchen, die Kulturangebote an die breite Öffentlichkeit sprich an die Medien zu vermitteln.

«Oft kriegen wir keine Antwort.»

Sarah Bleuler, Leiterin Kommunikation und Marketing Museum für Gestaltung Zürich

Bevor Sarah Bleuler beim Museum für Gestaltung Zürich die Leitung Kommunikation und Marketing übernommen hat, war sie beim Kulturhaus Kosmos in derselben Position tätig. Sie hat also Erfahrung darin, Kulturprojekte und Veranstaltungen bei den Medien zu platzieren, doch die Reaktionen sind ihren Aussagen zufolge oftmals ernüchternd – wenn denn überhaupt welche kommen. «Oft kriegen wir keine Antwort», erzählt Bleuler. Sie überlege sich deshalb jeweils genau, wem sie welche Inhalte weiterleitet.

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Sarah Bleuler. (Foto: zvg)

Gute (Kultur-)Geschichten seien zwar zur Genüge vorhanden, doch sie habe das Gefühl, dass die wenigen noch existierenden Kulturjournalist:innen manchmal nicht einmal mehr die Kapazität hätten, sich diese auch anzuhören, geschweige denn, sich tiefgehend damit auseinanderzusetzen. «Das führt dazu, dass wir unsere Ressourcen oft eher in eigene Social Media-Kampagnen investieren, als nochmals sieben E-Mails an Redaktionen zu schreiben, auf die keine Reaktion kommt. So wiederum gelangen die Geschichten noch seltener direkt zu den Journalist:innen. Es ist eine Abwärtsspirale.» Ihre Erfahrung habe zudem gezeigt: Über Rezensionen in Zeitungen lassen sich nur wenig Tickets verkaufen.

Verschiedene Wege, die Säle zu füllen

Dass Kunstkritiken ohnehin immer seltener werden, bestätigt auch Michel Rebosura, der seit einem Jahr beim Theater Neumarkt in der Kommunikation arbeitet und nebenbei für das «Kunstbulletin» und «041 – Das Kulturmagazin» Kunstkritiken und Reportagen schreibt. «Selbst Kulturmagazine überlegen sich, ob andere Formate als die klassischen Rezensionen spannender sein und mehr Leser:innen anziehen könnten. Vielleicht, weil man denkt, dass Empfehlungen und Kritiken vermehrt über andere Kanäle recherchiert werden», so Rebosura. Die aktuelle Kulturberichterstattung sei immer mehr «People»-orientiert, vieles auch in Form von Interviews oder Reportagen. 

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Michel Rebosura. (Foto: zvg)

Doch oftmals sei man nur schon froh, wenn grosse Premieren überhaupt in den Agendas der Zeitungen einen Platz finden – was früher eine Selbstverständlichkeit war. Auch beim Theater Neumarkt spüre man den Druck, der auf den Redaktionen lastet. Doch es sei schade, wenn als Folge dessen nur noch die ganz grossen Player einen Platz in den Zeitungen erhalten würden, quasi à la «the winner takes it all». 

Eine Tendenz in diese Richtung sei bereits spürbar. Nebst den Namen grosser Kulturhäuser würden auch grosse Namen unter den Mitwirkenden von Produktionen Medien und Publikum anziehen. «Das jüngste Beispiel ist das Stück ‹Porno mit Adorno› mit Faber, über das viel berichtet wurde und bei dem jede Vorstellung ausverkauft war», erinnert sich Rebosura. «Auf der anderen Seite gab es etwa ‹The Lobster›, das so gut wie gar nicht abgedeckt worden ist, aber enorm gut beim Publikum ankam. Hier traf womöglich das Thema – Liebe in Zeiten des Kapitalismus – einen Nerv, vor allem beim jüngeren Publikum, und half wohl die Mund-zu-Mund-Propaganda.» Rebosura: «Wir sind aber auch auf Instagram und Facebook aktiv und lassen auf Social Media auch Trailer sponsern.» 

Hauptfokus nicht mehr bei allen auf den klassischen Medien

Lora Davies Sommer, die bei der Gessnerallee die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit leitet, hat ihren Hauptfokus inzwischen längst weg von den klassischen Medien bewegt. Letztere seien zwar noch immer wichtig und würden auch regelmässige Mitteilungen und Hinweise auf Stücke erhalten, sofern es einen spannenden «Aufhänger» dazu gibt. Die Gruppen produzieren lange Zeit relativ unabhängig vom Haus und so wisse Davies oft erst kurz vor der Premiere, was die Künstler:innen genau inhaltlich und ästhetisch entwickelt hätten. «Das ist manchmal ein wenig schade, weil ich ganz andere Möglichkeiten hätte, wenn wir in der Produktionsphase enger zusammenarbeiten würden. Ich wäre dramaturgisch näher dran und könnte zielgerichteter über die Inhalte sprechen», erzählt Davies. 

«Wir laufen also Gefahr, dass wenn weniger über Kultur berichtet wird, die Akteur:innen die Berichterstattung darüber selbst immer weniger wichtig finden.»

Michel Rebosura, Mediensprecher Theater Neumarkt

Ihr war es deshalb schon zu Beginn ihrer Anstellung wichtig, darüber nachzudenken, was für alternative Kanäle vorhanden sind, um die Menschen anzusprechen, die generell an den Ästhetiken, Inhalten und Themen der Gessnerallee interessiert sein könnten. Auch, weil sie gemerkt hat, dass immer weniger über Kultur berichtet wird. Vor allem Vorabberichterstattungen, in denen man zum Beispiel mit den involvierten Künstler:innen spricht, seien sehr selten geworden. Für die neue Spielzeit wurde nun jemand eingestellt, der:die für die digitale Kommunikation zuständig sein und auf Social Media kleine Kampagnen umsetzen wird. Die Gessnerallee bespielt bereits jetzt Instagram und Co. und versucht auf Blogs, alternativen Medienplattformen oder in Telegram-Gruppen spezifische Communities zu erreichen. «Ich frage mich stets: Für wen könnten unsere Inhalte interessant sein? Ich glaube, dieses gezielte Vorgehen ist auf die Besucher:innenzahl bezogen effektiver.» 

Auch Bleuler bestätigt, dass die Zuschauer:innen längst nicht mehr über die reine Medienberichterstattung geholt werden können. Und umgekehrt sei es so, dass es vor allem bei Online-Medien darum gehe, dass die Inhalte geklickt werden. «Mit dem reinen Inhalt von Kulturthemen generierst du wenig Klicks, was schade ist. Auch ich merke selber: Je weniger Kulturberichterstattung es in den klassischen Medien gibt, desto weniger vermisse ich sie dort.» 

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Lora Davies Sommer. (Foto: zvg)

Entfremdung von Kulturproduzent:innen und der Kulturkritik?

Sie fordert vonseiten der Medien deshalb mehr Innovationslust. «Es wäre schön, wenn wir gemeinsam mit Medienschaffenden neue Formate finden könnten, welche die Leserschaft interessieren.» Zumal Kultur die Aufgabe hat, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein, Themen aufzunehmen und sie kritisch zu beleuchten. Deshalb würde sie es begrüssen, wenn in den Artikeln immer wieder mal eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Inhalten der vielfältigen Kulturlandschaft stattfinden würde. «Über die Form können wir gerne diskutieren.» Dies auch als eine Art Wertschätzung gegenüber den Künstler:innen, findet Davies Sommer. Mittlerweile würden sich viele davon selber helfen, indem sie Journale auf ihrer Homepage führen. 

Rebosura indes fürchtet sich vor Entfremdung von Kulturproduzent:innen und der Kulturkritik. «Früher hat man gesagt: Lieber schlechte Kritik als gar keine. Heute muss man froh sein, dass es überhaupt eine Kritik gibt. Doch eigentlich wäre eine kritische Berichterstattung, ein gegenseitiges Befruchten sehr wichtig. Die Medien verlieren das Interesse, weil sie keine Ressourcen haben und die Institutionen, Künstler:innen und Communities verlieren ihres an den Medien, weil sie andere Kanäle gefunden haben. Wir laufen also Gefahr, dass wenn weniger über Kultur berichtet wird, die Akteur:innen die Berichterstattung darüber selbst immer weniger wichtig finden. Die Medien machen sich so selbst überflüssig und man wird ihnen noch mehr überdrüssig.»

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Mathias Balzer. (Foto: zvg)

Einer, der sich diesen Entwicklungen entgegensetzt, ist Mathias Balzer. Der Kulturjournalist hat gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Balzer und seinem Sohn Luis das Kulturmagazin «FRIDA» gegründet, das seit zweieinhalb Monaten online ist. Bereits 1000 Member unterstützen die Plattform, bis in zwei Jahren sollen es 3000 sein. Ein Gespräch über den Schwund der Stimmenvielfalt in der Schweizer Medienlandschaft und die Frage, ob es neben dem Format der Kritik nicht auch andere Arten und Herangehensweisen geben soll, wie über Kultur berichtet werden kann.

Isabel Brun: Ihr müsst verrückt sein, in solchen Zeiten ein neues Kulturmagazin zu gründen!

Mathias Balzer: Nun ja, ein bisschen vielleicht. Aber das Leben ist dafür da, um etwas zu wagen.

Wie kam es zu diesem Wagnis?

Ich bin schon lange als Kulturjournalist tätig – habe über neun Jahre lang auf Kulturredaktionen der Tageszeitungen «Südostschweiz» und «bzBasel» gearbeitet. 2018 gründeten meine Frau Brigitte und ich als Nebenprojekt den Verlag «Edition Frida», auf dem wir literarische Texte veröffentlichen. Bücher zu schreiben ist zwar schön, aber auch sehr langsam. Deshalb wurde der Gedanke, eine Onlineplattform ins Leben zu rufen, immer lauter. Konkret wurde die Idee allerdings erst während des Lockdowns. Brigitte und ich schrieben ein Konzept und unser Sohn Luis gestaltete ein Design. 

FRIDA ist also gewissermassen ein Familienprojekt.

Im Kern schon. Aber das soll es ja nicht bleiben.

Natürlich nicht. Was für Rückmeldungen habt ihr in den vergangenen zweieinhalb Monaten erhalten, seit das Magazin online ist?

Im Journalismus erhält man bekanntlich erst Feedback, wenn es kontrovers genug ist, deshalb hielt sich die Anzahl Rückmeldungen in Grenzen. Eine Erkenntnis aber ist, dass die Leserschaft fundierte Berichterstattung über Kultur zu schätzen weiss. Weniger ist mehr scheint auch online zu funktionieren. Zum Glück, denn das  machte uns zu Beginn nervös, weil Onlinejournalismus vor allem von Klicks lebt. 

Fehlende Klickzahlen gelten auch als das Totschlagargument der Medienhäuser, um ganze Ressorts zu streichen. Ist das der Grund, weshalb das Feuilleton langsam auszusterben droht?

Vermutlich. Und wirtschaftlich gesehen macht es durchaus Sinn, das Themengebiet zu streichen, das am wenigsten abwirft. Allerdings wusste man schon zu meiner Zeit im Printjournalismus, dass nur 10 bis 15 Prozent den Kulturteil lesen. Doch damals gehörte es noch zum Selbstverständnis der Medien, die Kulturszene journalistisch abzudecken. Das scheint heute anders.

Mit welchen Konsequenzen?

Die Mantelsysteme haben zu einem Schwund der Stimmenvielfalt geführt. Kulturseiten wie die des «Bündner Tagblatts» wurden eingestellt. Die grossen Zürcher Zeitungen beschränken sich auf Blockbusters.Das führt wiederum dazu, dass viele kleinere Produktionen schon von Beginn an ausgesiebt werden, da gar keine Ressourcen vorhanden sind. Das ist absurd, denn die Menge an Kultur hat in den letzten zwanzig Jahren stark zugenommen. Es ist ein gegenläufiger Prozess. 

Und diese Lücke wollt ihr mit FRIDA füllen?

Nein, es ist nicht unser Ziel, den Kulturteil der Tageszeitungen zu ersetzen. Das können und wollen wir nicht. FRIDA ist eine Plattform, auf der neue Formen und Formate ausprobiert werden können. Wir machen Kulturjournalismus auf der Metaebene und wollen Geschichten nicht nur journalistisch, sondern auch aktivistisch erzählen. Das ist auch der Grund, weshalb es bei uns selten Besprechungen über Theaterstücke zu lesen gibt. 

Dabei ist das Format der Kritik doch für viele der Inbegriff des Feuilletons.

Ist es das wirklich? Es gibt doch so viele Arten und Herangehensweisen, wie über Kultur berichtet werden kann. Die Kritik ist nur eine davon. Auch wenn es natürlich gerade für Theaterschaffende wichtig ist, Rückmeldungen von der Öffentlichkeit zu erhalten. Ganz zu schweigen von dem Nutzen für die Institution selber, denn gute Kritik ist immer auch Werbung.

Gutes Stichwort. Schaltet ihr auf eurer Webseite ebenfalls Werbeanzeigen oder wie finanziert ihr euch?

Der Aufbau wurde durch das gemeinsame Transformationsprojekt des Kantons Graubünden und dem Bund finanziert. Jetzt setzen wir auf ein Abosystem. Momentan stehen wir bei etwas mehr als 1000 Abonnent:innen. Allerdings müssen bis in zwei Jahren knapp 2000 dazukommen, damit wir einigermassen selbsttragend sind. Wir gehen aber davon aus, dass Menschen, die sich für die Schweizer Kulturszene interessieren, auch bereit sind, dafür acht Franken pro Monat auszugeben.

Und wenn ihr euch täuscht?

Dann haben wir es zumindest versucht. Aber klar, es kann sein, dass wir in drei Jahren merken, dass das Interesse an einem Kulturmagazin zu gering ist, um es weiterzuführen. 

Dann stirbt das Feuilleton tatsächlich aus.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Immerhin setzt die Kreativszene in der Schweiz jährlich mehr Geld um als alle Landwirtschaftsbetriebe zusammen: 4,3 Milliarden zu 3,5 Milliarden Franken. Ich glaube deshalb schon, dass das Kulturverständnis auch weiterhin gepflegt werden will – nur das Wie steht noch in den Sternen.

Ein Podium über die Krise des Zürcher Kulturjournalismus

Am Mittwoch, 15. Juni, diskutieren wir mit Mathias Balzer (FRIDA Magazin) und Christine Ginsberg (Kulturmarkt) über das langsame Verschwinden des Kulturjournalismus. Alle Infos findest du hier: «Zürich: Kulturstadt ohne Kulturjournalismus?»

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