Ruth Gantert: «Was, wenn nicht Literatur, ist Teil des Sprachenaustauschs der Schweiz?»

Nach fast zwei Jahrzehnten verlässt Ruth Gantert das Magazin Viceversa Literatur. Im Interview kritisiert sie ein System, in dem der Sprachenaustausch zu kurz kommt – und verteidigt Literatur als Brücke zwischen den Kulturen.

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Ruth Gantert beschäftigt sich als Übersetzerin, Kritikerin und Vermittlerin mit der Schweizer Gegenwartsliteratur. (Bild: Nina Graf)

Das Gedächtnis der Schweizer Gegenwartsliteratur wohnt im Kreis 4. Im fünften Stock eines Zürcher Mehrfamilienhauses lebt und arbeitet Ruth Gantert, 58 Jahre alt, Literaturkritikerin, Vermittlerin, Übersetzerin. Im Regal, das die Wände des Wohnzimmers einfasst, sind Bücher vor Büchern und Bücher über Bücher gestapelt.

Als künstlerische Leiterin des Vereins Service de Presse Suisse verantwortete Gantert das dreisprachige Jahrbuch der Schweizer Literaturen Viceversa. Nach 17 Jahren hat sie nun gekündigt. Nina Graf: Die jüngst erschienene Jahrbuch-Ausgabe von Viceversa Literatur mit dem Titel «Dazwischen», «Entre-deux», «In bilico», «Tranteren» war auch die letzte unter Ihrer Leitung. Als Übersetzerin bewegen Sie sich oft in diesem Dazwischen. War das ein Gruss zum Abschied?

Ruth Gantert: Als wir den Titel gewählt haben, wusste ich noch nicht, dass es mein letztes Jahrbuch sein wird. Aber jetzt passt es gut so, denn das «Dazwischen» ist mein liebster Ort: zwischen den Sprachen, zwischen den Kulturen. Hier ist es nicht immer bequem, aber man bekommt viel von beiden Seiten mit. In dieser Vermittlungsarbeit ist Raum für Kreatives und Neues.

Sie übersetzen Literatur teilweise kaum bekannter Autor:innen aus dem Rätoromanischen, Französischen, Italienischen ins Deutsche und wurden damit zur Schnittstelle zur romanischen Schweiz. Und das als geborene Zürcherin.

Ich bin auch vom Namen her nicht prädestiniert dazu. Doch Italienisch und Französisch haben mich schon immer interessiert, deswegen habe ich dann auch Romanistik studiert. Zu Beginn aber nicht wegen der Schweiz. Mich haben die Autor:innen Italiens und Frankreichs fasziniert. Erst später kam ich dann darauf, dass es ja auch in der Schweiz Literatur in diesen Sprachen gibt.

Es hat sicher auch geholfen, dass mein Lebenspartner Westschweizer ist und ich deswegen beruflich, wie auch privat viel Zeit in der Romandie verbringe. Im Tessin kümmere ich mich noch um eine Stiftung.

Die Fondazione Casa Atelier Bedigliora, die kulturschaffenden Frauen über 50 für eine bestimmte Zeit Atelierräume zur Verfügung stellt.

Genau. Ich verbringe also sehr viel Zeit im Zug und im Tessin und in der Romandie. Zum Rätoromanischen kam ich über meine Arbeit bei Viceversa Literatur. Insofern habe ich dem Service de Presse Suisse viel zu verdanken.

Dennoch haben Sie sich entschieden, Ihre Tätigkeit als künstlerische Leiterin nach 17 Jahren zu beenden. Sind Sie jemand, dem Abschiede leicht fallen?

Nein, im Gegenteil. Abschiede fallen mir schwer. Lange bin ich davon ausgegangen, dass ich bis zur zwanzigsten Ausgabe bleibe.

Wie kam es zur Entscheidung, eher zu gehen?

Die letzten zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundesamt für Kultur waren nicht einfach und haben mich auch ermüdet. Ich habe diese Arbeit lange gemacht und natürlich habe ich auch gewisse literarische Vorlieben. Deswegen denke ich, dass es an der Zeit ist, jüngeren Personen Platz zu machen.

Und es ist ja kein Abschied von der Literatur. Im Gegenteil. Ich hatte in den letzten Jahren immer weniger Zeit, mich mit Literatur oder dem Schreiben auseinander zu setzen. Das wird jetzt anders sein, wo ich mich als freie Übersetzerin wieder vermehrt darauf konzentrieren kann.

Sie sprechen die strukturelle Veränderung beim Service de Presse Suisse an. 2022 stellte das Bundesamt für Kultur (BAK) die Unterstützung ein. 

Die Argumentation war juristischer Natur. Die Sprachenverordnung hätte sich geändert und die Literatur sei nicht mehr Teil davon. Die Finanzierung lief bis 2024. Letztes Jahr wurde sie eingestellt.

Für meine Arbeit bedeutete das, dass die Geldersuche immer mehr im Zentrum stand. 

Service de Presse Suissse Vice Versa Literatur
Seit 2007 gibt das Jahrbuch «Viceversa Literatur» einen Überblick über die Schweizer Literaturwelt. (Bild: Nina Graf)

Sie beschreiben einen Nebeneffekt der Medienkrise. Wenn die Finanzierung knapp wird, bedeutet das, dass man ist nicht länger «nur» Journalistin ist, sondern zur Unternehmerin werden muss.

Ich habe auch Verständnis dafür, dass die Suche nach Geldern Teil meiner Arbeit ist. Wenn sie aber zu viel Platz einnimmt, dann wird es zum Problem, denn dann fehlt die Zeit für die eigentliche inhaltliche Arbeit.

Und das merken auch die Autor:innen.

«Die Lage im Kulturjournalismus ist schon lange prekär und das zeigt sich auch in der Art, wie Literatur rezensiert wird.»

Ruth Gantert, Literaturkritikerin und Übersetzerin

Wie meinen Sie das?

Die Lage im Kulturjournalismus ist schon lange prekär und das zeigt sich auch in der Art, wie Literatur rezensiert wird. Kommt ein neues Buch heraus, liest man immer weniger Kritiken, die sich mit dem Buch auseinandersetzen. Stattdessen steht die Autorenperson im Fokus, ihre Biografie. Man macht ein Interview, behandelt ein bestimmtes Thema des Buchs.

Vielleicht auch, weil die Verlage sich denken, dass sich solche Texte besser verkaufen. 

Wie haben Sie den Entscheid des BAK erlebt?

Negativ. Einerseits habe ich mich daran gestört, dass man mit uns nicht vorgängig das Gespräch gesucht hat. Andererseits fand ich die Argumentation nicht nachvollziehbar: Literatur basiert ja auf Sprache und was, wenn nicht Literatur, ist Teil des Sprachenaustauschs der Schweiz?

Aus der Kulturbranche haben sie damals viel Unterstützung erhalten. Viele haben kritisiert, dass das BAK damit die Vielsprachigkeit der Schweiz schwäche. 

Diese Reaktion kam aus der Branche selbst, wir haben niemanden extra mobilisiert. Das hat mich gefreut.

Könnte der Entscheid des Bundes auch damit zusammenhängen, dass man mit Literatur nur einen kleinen Kreis von Menschen erreicht?

Literatur ist, im Vergleich zu Fussball beispielsweise, sicher nicht der Ort, an dem man die allermeisten Leute erreicht. Und bei Viceversa haben wir uns bewusst dafür entschieden, auch weniger bekannte Autor:innen zu veröffentlichen.

Wie haben Sie das in der Praxis umgesetzt?

Wir brachten beispielsweise nicht den Genfer Autoren Joël Dicker im Jahrbuch. Seine Bücher finden bereits ein Publikum. Unser Ansatz ist, jene Stimmen zu portieren, die uns interessieren und deren Verbreitung in andere Sprachräume wir fördern möchten. Damit uns bewusst wird, welche Vielfalt wir haben.

«Gibt es typische Zürcher Literatur?» «Zum Glück nicht!»

Ruth Gantert, Literaturkritikerin und Übersetzerin

Doch warum braucht es dazu Literatur?

Literatur ist eine Form des kulturellen Austauschs. In der mehrsprachigen Schweiz ist gerade jetzt die Frage, was uns zusammenhält, virulent. Für das gegenseitige Verständnis ist da der Dialog zwischen den Sprachen und den Kulturen essenziell. In den Literaturen und den Übersetzungen geschieht diese Auseinandersetzung mit uns selbst und den «anderen».

Wir haben über die Romanische Schweiz gesprochen. Gibt es typische Zürcher Literatur?

Zum Glück nicht! Die Autor:innen, die hier leben und arbeiten, kommen, wie der Rest der Bevölkerung, meistens von woanders her. Viele sind auch Secondo:as, haben in der Familie eine Migrationsgeschichte, was sich auch in ihren Werken zeigt. Zum Glück also ist die Zürcher Literaturszene nicht eintönig, sondern divers und gross und lebhaft. So widerspiegelt sie auch die Stadt, in der wir leben. 

Ruth Gantert Literatur
Züri Literaturtipps

Frau Gantert, gibt es Zürcher Autor:innen, die Ihnen über die Jahre besonders aufgefallen sind?

Da gibt es viele. Eine Autorin, die ich besonders schätze, ist Monique Schwitter. Sie hat nun eine Weile nichts mehr publiziert, umso gespannter bin ich auf ihr nächstes Werk. Natürlich die vor zwei Jahren verstorbene Ruth Schweikert, eine grosse Autorin, die in Zürich lebte. Lukas Bärfuss, unter anderem Büchnerpreisträger, Melinda Nadj Abonji, Zora del Buono, Julia Weber und Heinz Helle, Simone Lappert, Rebecca Gisler, Julia Kohli, Tabea Steiner, Gina Bucher, Anaïs Meier, Ivna Žic und viele mehr lese ich mit Genuss. Und gerade jetzt das neue Buch von Ulrike Ulrich, es erscheint im August.

Sie alle haben etwas zu sagen und finden eine Sprache, die lebendig ist, mit unerwarteten Bildern, speziellen Rhythmen und Klängen eine neue Sichtweise eröffnet. «Literatur belebt die Sprache, beatmet sie», wie Melinda Nadj Abonji in Viceversa14 sagt.

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2023-05-02 Nina Graf Portrait-13

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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