Gemeinderats-Briefing #17: Ab welchem Gehalt ist es ein Beruf?
Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Erhöhung der Entschädigungen für Ratsmitglieder, Mutterschaftsurlaub für Stadtangestellte, Velounfall und Verkehrssicherheit in Zürich.
Sind 25 bis 30 Franken Stundenlohn zu wenig? Würde ich meine ehemaligen Kolleg:innen in der Gastronomie fragen, würden sie antworten: 25 bis 30 Franken sind eine verdammt gute Entlohnung. Meine jetzigen Kolleg:innen in der Redaktion frage ich besser nicht. Im Gemeinderat sind die allermeisten Anwesenden der Meinung, es handle sich um einen sehr geringer Stundenlohn, nur die SVP sieht das ganz klar anders. Um welche Branche es geht? Um die der politischen Parlamentsarbeit. Die Gemeinderät:innen diskutierten gestern nämlich über ihre eigenen Entschädigungsleisungen.
Auslöser war ein Beschlussantrag der SP-, Grüne-, GLP-, Mitte/EVP- und AL-Fraktion, welcher eine Erhöhung der Entschädigungen und Spesenvergütungen sowie die Anbindung an die Pensionskasse für die Tätigkeit im Rat forderte. Laut Isabel Garcia (GLP) war der Antrag Ergebnis zahlloser Diskussionsrunden, die Initiative sei ursprünglich von der IG Frauen im Gemeinderat gekommen. Die Bewältigung der zunehmenden Arbeitsbelastung im Rat sei nur durch ein Zurückstecken im Beruf möglich, erklärte sie. Und das wirke sich insbesondere bei Frauen negativ aus, welche neben Beruf und Amt oft auch noch Betreuungsaufgaben in der Familie übernähmen. Im entsprechenden Dokument ist von einer «angemessenen» Entschädigung die Rede, zudem wird eine Vergütung der Kinderbetreuung und von allfälligem Assistenzbedarf sowie ein ZVV-Jahresticket für die Zone 110 gefordert. Die genaue Summe der Entschädigung habe man bewusst offengelassen, so Monika Bätschmann (Grüne). So solle die Geschäftsleitung die Möglichkeit haben, von Grund auf eine angemessene Entschädigung festzulegen. Sie sprach von einem 30- bis 40-Prozent-Pensum bei der Parlamentsarbeit, das mit durchschnittlich 13'000 Franken im Jahr vergütet werde.
«Der Aufwand hat sich massiv erhöht. Die Sitzungen sind länger, auch weil vielleicht fünf SVPler zu einem Antrag schwätzen.»
Karin Weyermann, Die Mitte, zur Erhöhung der Entschädigung für Ratsmitglieder
Während Roger Bartholdi (SVP) den Vorrednerinnen vorwarf, das Milizparlament in ein Berufsparlament verwandeln zu wollen und von einer Vergütung von 60 Franken pro Stunde für die Sitzungen sprach, rechnete sein Parteikollege Bernhard im Oberdorf die Vorbereitungszeit dazu. So kam er auf 25 bis 30 Franken Stundenlohn, nur um diese Feststellung gleich zu relativieren: «Aber wir sind ja Idealisten.» Tanja Maag (AL) verwies darauf, dass gerade nach der Annahme der AHV-Reform die Anbindung an die 2. Säule für Frauen noch wichtiger werde. SVP-Fraktionschef Samuel Balsiger erging sich in seinen gewohnten Tiraden gegen städtische Mehrausgaben. In Zeiten, in denen die Preise explodierten und die Prämien sich erhöhten, bekämen die Antragssteller:innen «den Hals nicht voll», erklärte er. Im Antrag verstecke sich die Forderung nach einer Verdopplung des Lohns, führte er weiter aus. Dies, weil der Koordinationsabzug bei der 2. Säule 25'000 Franken betrage.
Michael Schmid (FDP) erklärte Balsiger, er verwechsle bei seiner Rechnung Koordinationsabzug und Eintrittsschwelle, die nötige Kompetenz in diesem Gebiet könne er sich aber gern bei den Kolleg:innen von FDP oder der Mitte abholen. Im Übrigen handle es sich um eine rein hypothetische Debatte, erläuterte er. Das sei der Grund, warum sich seine Partei enthalte. Man wolle auf der Grundlage dessen entscheiden, was die vorbereitende Kommission aufgrund der Forderung nach «angemessener» Entschädigung vorlege. Ausser der FDP und der SVP stimmten alle Fraktionen dem Beschlussantrag zu.
Mutterschaftsurlaub für Stadtangestellte
Marion Schmid (SP) stellte eine Motion vor, die sie zusammen mit der gerade erst zurückgetretenen Natascha Wey (SP) eingereicht hatte. Darin fordern sie die Einführung eines vorgeburtlichen Mutterschaftsurlaubs von drei Wochen im städtischen Personalrecht. 70 Prozent der werdenden Mütter liessen sich zwei Wochen vor der Geburt krankschreiben, so Schmid, «und trotzdem wäre es auch für jene gesundheitlich besser, wenn sie möglichst erholt gebären könnten.» Während eine SP-Motion zum gleichen Thema in Bern hängig sei, könne die Stadt Zürich hier bereits eine Vorreiterrolle einnehmen. Zudem sei die Schweiz das einzige Land im EU- und EFTA-Raum, das keinen solchen Mutterschaftsurlaub kenne. Martin Götzl (SVP) fand, das Anliegen solle in Bundesbern geklärt werden und nicht in Zürich. Derselben Meinung war auch Karin Weyermann (Mitte). Martina Zürcher (FDP) wiederum verwies darauf, dass sich viele Frauen auch nur teilweise krankschreiben liessen, was im Sinne der Frauen, die Teilzeit arbeiten wollten und könnten, sinnvoll sei. Ihre Parteikollegin Yasmine Bourgeois pflichtete ihr bei. «Warum sollten Frauen nicht arbeiten dürfen, wenn sie das wollen?», fragte sie. Kleine KMUs könnten durch einen gesetzlich festgelegten Urlaub zudem in Schwierigkeiten kommen.
Auch die GLP lehnte die Motion ab. «Was die SP in Bern versucht, versucht sie auch in Zürich», so Guy Krayenbühl: «Nach dem Motto: Wenn schon nicht für alle Mütter, dann für die bei der Stadt Zürich.» Seine Partei wolle aber eine Lösung für alle, nicht für wenige. Für die Grünen pflichtete Anna-Béatrice Schmaltz den Motionärinnen zu: «Schwangerschaft ist keine Krankheit. Sich krankschreiben zu lassen ist immer auch mit einem Stigma verbunden und hängt vom guten Willen der Gynäkolog:in ab.» «Gesamtschweizerische Lösungen dauern ewig», meinte Tanja Maag (AL): «Deshalb sind wir heute hier.» Sie brachte einen Textänderungsvorschlag ein, der auch die Absicherung der Angestellten sichern soll, die die Frau im Mutterschaftsurlaub vertreten. Durch die Annahme dieser Änderung könnte die Motion aber gefährdet sein, so Stadtrat Daniel Leupi (Grüne), denn sie sei so nicht motionabel. Die Stadt sei aber bereit, das Kernanliegen der ursprünglichen Motion umzusetzen, so der Finanzvorsteher, der seine Verwunderung darüber äusserte, dass die Schweiz ohne Mutterschaftsurlaub in Europa fast allein dasteht. Für die geänderte Motion stimmte trotzdem die dünne Mehrheit von SP, Grünen und AL.
Weitere Themen der Woche
- Der tödliche Velounfall beim Lochergut am letzten Freitag beschäftigte gestern auch die Gemeinderät:innen. Roger Suter (FDP) sprach den Angehörigen sein Beileid aus und verlas eine Erklärung der Kreisparteien AL, SP, Grüne, GLP, Mitte, EVP und FDP im Wahlkreis 4+5. Man habe beschlossen, sich über Parteigrenzen hinweg für eine schnelle und unbürokratische Lösung bei der Entschärfung der gefährlichen Stelle einzusetzen. Dabei betonte Suter, es werde für keine Partei eine Wunschlösung geben. Michael Schmid (AL) sprach in einer persönlichen Erklärung von einer «logischen Konsequenz von fehlender Veloinfrastruktur». Er wolle den Spezialist:innen für Verkehrssicherheit in der Verwaltung Mut zusprechen, ihre Projekte noch konsequenter voranzutreiben. Bezüglich der Einsprachen gegen die Aufhebung von Parkplätzen bei geplanten Velovorzugsrouten bat er die Beschwerdestellen, «die entsprechenden Verfahren prioritär zu behandeln».
- Gegen ein Postulat der Grüne- und GLP-Fraktion, das die Priorisierung von Strassenprojekten mit grossen Defiziten auf kritischen Veloabschnitten, im Trottoirbereich und beim Stadtklima forderte (wir berichteten im Zusammenhang mit dem Velounfall), wurde seitens der SVP ein Ablehnungsantrag gestellt. Es wird nun in einer späteren Sitzung diskutiert.
- Luca Maggi (Grüne) und Walter Angst (AL) verlasen eine gemeinsame Erklärung von Grüne-, SP- und AL-Fraktion zur Aufarbeitung der Missstände im Jugendheim Lilienberg der Asylorganisation Zürich (AOZ). Die Verantwortlichen von Stadt und Kanton hätten seit Bekanntwerden vor vier Monaten «geschwiegen, beschwichtigt und vertuscht», heisst es darin. Insbesondere Kantonsrat Mario Fehr werfen sie «Arbeitsverweigerung» vor. Anlass ist die externe Betriebsprüfung, deren Ergebnisse am Dienstag erschienen (wir berichteten im Züri Briefing). Man erwarte, dass die von der Stadt in Aussicht gestellten zusätzlichen Plätze für minderjährige Geflüchtete in dezentralen WGs und nicht in Heimen zur Verfügung gestellt werden, hiess es unter anderem.
- Das Finanzdepartement hat dem Gemeinderat in einer Weisung die neu überarbeiteten Reglemente der Stiftung PWG zur Kenntnisnahme vorgelegt. SVP und AL beantragten eine ablehnende Kenntnisnahme des Berichts. Aus Sicht von Walter Angst (AL) ist vor allem der neue Passus, nach dem bei Unterbelegung der Wohnung eine Solidaritätsabgabe erhoben werden soll, rechtlich unzulässig und werde zu jahrelangen Rechtsstreits führen. Alle anderen Parteien stimmten der Kenntnisnahme zu.
- Vor dem Hintergrund des Pächter:innenwechsels bei der Gastronomie am Oberen Letten stellten Flurin Capaul und Dominique Zygmont (FDP) eine Schriftliche Anfrage zu den Gastronomiebetrieben in städtischer Hand und zur Vergabepraxis der Stadt. Stadtrat Daniel Leupi (Grüne) antwortete direkt darauf und erklärte, es herrsche Transparenz und ein klares, mehrstufiges Auswahlverfahren der Pächter:innen: «Wir haben nichts zu verbergen.» Die AL-Fraktion reichte gestern zu dem Thema ein Postulat ein, das bei der Ausschreibung von Vermietungen von Gastronomiebetrieben zusätzliche Bewertungskriterien fordert. Damit solle eine grosse Vielfalt unabhängiger Anbieter gewährleistet werden.
- Dominique Zygmont (FDP) ist nach drei Jahren aus dem Gemeinderat zurückgetreten. Grund dafür ist laut seinem Rücktrittsschreiben der Umzug seiner Familie in den Bezirk Meilen. «Ich kann Sie beruhigen», schreibt er darin: «an unserem neuen Wohnort ist der Steuersatz zu meinem grossen Bedauern genau gleich hoch wie in der Stadt Zürich.» Im Bezirk Meilen stehe Zygmont auf der FDP-Kantonsratsliste, werde also womöglich schon bald wieder im gleichen Gebäude an Sitzungen teilnehmen, so Gemeinderatspräsident Matthias Probst (Grüne).
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Sein Studium in Politikwissenschaften und Philosophie in Leipzig brachte Steffen zum Journalismus. Als freier Journalist schrieb er für die WOZ, den Tagesspiegel oder die Schaffhauser AZ. Laut eigenen Aussage hat er «die wichtigste Musikzeitschrift Deutschlands, die Spex, mit beerdigt». Seit 2020 ist Steffen bei Tsüri.ch. Sein Interesse für die Zürcher Lokalpolitik brachte das wöchentliche Gemeinderats-Briefing hervor. Nebst seiner Rolle als Redaktor kümmert er sich auch um die Administration und die Buchhaltung.