Stadtratswahlen: FDP jammert über Glättli, statt zu liefern
Balthasar Glättli will für die Grünen einen dritten Sitz im Stadtrat erobern. Der FDP-Präsident spricht von einem «absolutistischen Machtanspruch». Dies ist natürlich Quatsch. Ein Kommentar.
Trauen sich die braven Zürcher Grünen tatsächlich zum Frontalangriff? Die Parteileitung wollte eigentlich bei den zwei Sitzen in der Stadtregierung bleiben, doch die Basis plädierte für eine Dreier-Kandidatur. Seit Anfang Woche gibt es einen ersten Interessierten: Es ist der national bekannte Balthasar Glättli.
Die Chancen für einen zusätzlichen grünen Sitz im Stadtrat stehen nicht schlecht, wenn die Partei tatsächlich Glättli nominiert. Nur eine sehr bekannte Person kann für die Partei, die einen Wähler:innenanteil von 14 Prozent hat, einen dritten Sitz holen. Nationalrat Glättli will diesen zusätzlichen Sitz auf Kosten der FDP erobern, so kündigte er es im Tages-Anzeiger an.
FDP in Gefahr
Für die FDP wäre es besser, würden die Grünen jemand jüngeres, unbekannteres nominieren. Jemanden ohne realistische Wahlchancen.
Denn die beiden Stadtratssitze der FDP sind in Gefahr. Nicht nur muss die Partei den nicht mehr kandidierenden Filippo Leutenegger ersetzen, sondern den auch eher blassen Michael Baumer – den Mann, den niemand kennt – wieder in die Regierung bringen.
Doch damit nicht genug: Die FDP will zusätzlich einen dritten Sitz erobern und das Stadtpräsidium angreifen. Përparim Avdili, Präsident der Zürcher FDP sagt in der NZZ: «Rot-Grün erhebt einen absolutistischen Machtanspruch.»
Als Freisinniger müsste sich Avdili eigentlich über die Kandidatur von Glättli freuen. Für einen gesunden Wettbewerb braucht das Stimmvolk eine möglichst breite Auswahl mit den besten verfügbaren Kandidat:innen. Wettbewerb belebt das Geschäft, das gilt auch in der Politik.
Keine bürgerliche Solidarität
Von einem «absolutistischen Machtanspruch» zu sprechen, ist darum völlig absurd. Richtig ist, dass SP und Grüne mit sechs von neun Sitzen im Stadtrat bereits heute übervertreten sind, denn nur etwas mehr als die Hälfte der Zürcher:innen wählt linke Parteien.
Die starke Vertretung der Linken in der Regierung hat auch damit zu tun, dass sich AL, Grüne und SP jeweils gegenseitig zur Wahl empfehlen – und die meisten Wähler:innen auch entsprechend handeln. Solche Versuche haben bei den Bürgerlichen jeweils bei weitem nicht gleich gut funktioniert. Es geht also nicht um ein Diktat der Linken, sondern um ein überzeugendes Angebot an die Zürcher Bevölkerung.
Statt mit dem «absolutistischen Machtanspruch» die Demokratie in Gefahr zu sehen, sollte sich die FDP an den Grünen ein Beispiel nehmen. Während fast alle anderen Parteien ihre Kandidierenden zusammen haben, macht die städtische FDP bislang vor allem lautstark Ansagen: Es brauche einen Politikwechsel, es brauche mehr Blau für Zürich.
Die mediale Wirkung dieser Kampfansagen hat sich irgendwann aber abgetragen. Statt sich über die guten Kandidierenden der Gegner:innen aufzuregen, könnten die Freisinnigen ebenfalls die besten Köpfe aufstellen. Ein Dreierticket mit dem bisherigen Michael Baumer und den neuen Përparim Avdili und Sonja Rueff-Frenkel könnte die freisinnigen Chancen erhöhen. Entscheiden will die Partei erst nach den Sommerferien.
So oder so: Die Machtansprüche der einzelnen Parteien entscheiden nicht, wer unsere Stadt regiert. Die Stimmbevölkerung wählt im nächsten März aus den zur Verfügung stehenden Kandidierenden jene aus, die sie für am kompetentesten halten.
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An der Universität Zürich hat Simon Politikwissenschaften und Publizistik studiert. Nach einem Praktikum bei Watson machte er sich selbstständig und hat zusammen mit einer Gruppe von motivierten Journalist:innen 2015 Tsüri.ch gegründet und vorangetrieben. Seit 2023 teilt er die Geschäftsleitung mit Elio und Lara. Sein Engagement für die Branche geht über die Stadtgrenze hinaus: Er ist Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft und macht sich dort für die Zukunft dieser Branche stark. Zudem ist er Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. 2024 wurde er zum Lokaljournalist des Jahres gewählt.