Gemeinderats-Briefing #23: Komplex und knapp

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Fortführung der Zusammenarbeit von Bundesasylzentrum und GZ Wipkingen, Polizeiwache für Betroffene sexualisierter Gewalt, freie Tage während den Tagen

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Illustration: Zana Selimi

Manchmal geht es im Gemeinderat äusserst knapp zu. Und häufig auch recht komplex. Gestern fiel beides, die Knappheit und die Komplexität, in einem einzigen Geschäft zusammen. Sechs mal mussten die Ratsmitglieder abstimmen, bis eine Entscheidung feststand. Warum? Weil es bezüglich der betreffenden Weisung aus dem Stadtrat drei Meinungen innerhalb der Sachkommission Sozialdepartement gab. Und weil die Abstimmung dem Quorum der Ausgabenbremse unterstellt war und damit eine Mehrheit aller Ratsmitglieder für eine Entscheidung brauchte.

Bei der entsprechenden Weisung ging es um die Fortführung eines Pilotprojekts in den regulären Betrieb und den Betrag, den die Stadt dafür zukünftig ausgeben will. 2017 hatte der Rat beschlossen, das Bundesasylzentrum (BAZ) in Form eines halböffentlichen Begegnungsraums in das Gemeinschaftszentrum (GZ) Wipkingen zu integrieren. Damit sollte ein Ort des Austauschs zwischen Geflüchteten und der Quartierbevölkerung ermöglicht werden und die Integration der Geflüchteten, die vor allem aus Frauen und unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (MNA) besteht, gefördert werden. Der Stadtrat hatte beantragt, den bisherigen jährlichen Maximalbeitrag von 350'000 Franken auf 400'000 Franken zu erhöhen. Ihm folgte die GLP. Die linksgrüne Mehrheit aus AL, SP und Grünen forderte jedoch eine deutliche Erhöhung auf 500'000 Franken. Denn der Raum werde sehr gut genutzt, erläuterte Walter Angst (AL), «ich würde fast sagen übernutzt.» Und diese Situation werde sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Es gehe ihnen vor allem um eine intensivere Betreuung der MNA, so Angst, der auch gleich noch aktuelle Pläne des Bundes enthüllte: Dieser habe vor, über 16-jährige MNA zukünftig als «selbständige Minderjährige» einzustufen, die keine Betreuung brauchten und damit keine zusätzlichen Ressourcen brauchten. «Das ist sehr tragisch für die Betroffenen», so der AL-Gemeinderat.

Eine Minderheit aus FDP und SVP forderte, den Betrag bei 350'000 zu belassen. Susanne Brunner (SVP) erkärte, dass das bisherige Angebot bereits «sehr grosszügig und generös» sei und man angesichts roter Zahlen im städtischen Haushalt keinen Spielraum für Ausgabenerhöhungen habe. Patrik Brunner (FDP) erklärte seine ablehnende Haltung gegenüber einer Erhöhung damit, dass das Ziel der Begegnung zwischen Bevölkerung und Geflüchteten gescheitert sei. Ein Austausch finde kaum statt. Ronny Siev (GLP) und Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) führten das unter anderem auf die Kontaktbeschränkungen während der Covid-Zeit zurück, Walter Angst meinte, das habe auch mit dem Standort zu tun. Mitten im Quartier Escher Wyss im Kreis 5 halte sich der Anteil der Wohnbevölkerung in Grenzen. Obwohl die Forderung nach 500'000 Franken eine Mehrheit hatte, scheiterte sie. Denn mit 58 Stimmen verpasste sie das wegen der Ausgabenbremse nötige Quorum von 63. Damit setzte sich am Ende der Antrag des Stadtrats durch, den Beitrag auf 400'000 Franken zu erhöhen.

Polizeiwache für Betroffene sexualisierter Gewalt

Erschreckende Zahlen wurden bei der Diskussion um ein Postulat von Fanny de Weck und Natascha Wey (beide SP) präsentiert. Sie stammen aus einer Umfrage von Amnesty International zusammen mit dem gfs.bern und zeigen das Ausmass sexueller Gewalt in der Schweiz: Demnach haben 59 Prozent der befragten Frauen bereits Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht, jede fünfte Frau ab 16 Jahren hat bereits einen sexuellen Übergriff erlebt, mehr als jede zehnte Frau Geschlechtsverkehr gegen ihren eigenen Willen. Erschreckend ist besonders: Nur acht Prozent der Betroffenen erstatteten nach dem Vorfall Anzeige. Oft aus Scham oder Angst, abgewiesen zu werden. Das Postulat fordert vor diesem Hintergrund eine eigene Polizeiwache mit einer spezifischen Beratungs- und Annahmestelle für Anzeigen zur sexualisierten Gewalt. Denn viele Opfer sexualisierter Gewalt hätten berichtet, dass der erste Kontakt mit der Polizei für sie nicht gut verlaufen sei, so de Weck. Zürich solle mit der eigens eingerichteten Polizeiwache dem Beispiel anderer Städte folgen.

Zustimmung kam von fast allen Seiten. Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) setzte mit einem Textänderungsantrag durch, dass zusätzlich noch häusliche Gewalt im Postulat Erwähnung findet. Serap Kahriman nannte das Postulat einen Baustein in einer ganzen Reihe von Massnahmen, die nötig seien. Tanja Maag (AL) und Andreas Egli (FDP) betonten, es sei notwendig, dass das ganze Polizeikorps dahingehend sensibilisiert und geschult werde und das Thema nicht auf diese eine Wache abgeschoben werde. Derek Richter wiederholte die altbekannte SVP-Position, dass es sich bei sexualisierter Gewalt vor allem um ein kulturelles Problem handle, dem seine Partei mit strengeren Migrationsgesetzen begegnen wolle. Ausser seiner Fraktion nahmen alle Ratsmitglieder das Postulat an.

«Züri bringts uf d'Strass. Aber was bringt Züri uf d'Strass? PS! Und das ist auch gut so.»

Susanne Brunner, SVP, (im weitesten Sinne) zum Postulat von Yves Henz und Martin Busekros (beide Grüne), das die Durchführung eines Tausch-und Secondhandstrassenmarkts auf Gemeindestrassen fordert und im Rat eine knappe rot-grüne Mehrheit fand.

Freie Tage während den Tagen

«Eine alte feministische Forderung» brachte Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) mit ihrer Fraktionskollegin Selina Walgis in die Diskussion. Sie fordern in ihrem Postulat die Prüfung von bis zu fünf freien Tagen für städtische Angestellte mit starken Menstruationsbeschwerden. Das könne auch dazu beitragen, aus der Tabuisierung und Stigmatisierung bei diesem Thema herauszukommen, so Schmaltz. Die Betroffenen wüssten selbst, was für sie am besten sei: «Enttabuisierung ermöglicht auch Selbsthilfe.» Yasmine Bourgeois (FDP) und Susanne Brunner (SVP) sprachen sich gegen die Forderung aus: Wer starke Menstruationsbeschwerden habe, könne sich in städtischen Betrieben auch heute schon fünf Tage lang krankschreiben lassen, ohne dafür Gründe zu nennen, so Bourgeois. Das Postulat bewirke das Gegenteil dessen, was es fördern wolle, indem es sogar Stereotype vom schwachen Geschlecht zementiere. Brunner sah darin sogar «das Ende einer erfolgreichen Berufskarriere von Frauen» und erklärte: «Feministinnen lehnen dieses Postulat ab.»

Nadia Huberson (SP) schaute auf andere Länder: Während in Europa Spanien erst kürzlich den Menstruations«urlaub» eingeführt habe, seien es bislang interessanterweise vor allem asiatische Länder wie Japan, Taiwan oder Indonesien, die dieses Prinzip schon länger anwendeten. Als einzige Männer wagten sich Patrick Hässig (GLP) und Josef Widler (Die Mitte) ans Redner:innenpult. Hässig erklärte, er sei sich unsicher gewesen, ob er überhaupt dazu sprechen solle. Doch er finde, die Stadt sei in dieser Hinsicht bereits eine gute Arbeitgeberin, bei der man sich recht problemlos freinehmen könne. Widler wiederum fand, die mit der bezahlten Absenz einhergehende Offenlegung des Grunds sei der falsche Weg. «Denken wir an andere Beschwerden: Was machen wir zum Beispiel mit Menschen mit depressiven Episoden?», fragte er in die Runde. Auch der zuständige Stadtrat Daniel Leupi bekundete seine Unsicherheit bei dem Thema. Er habe viele Gespräche mit Frauen dazu geführt, und könne als Fazit festhalten, dass die Jungen sich aus einem modernen Selbstverständnis heraus eher dafür assprächen, während die Älteren es eher als Privatangelegenheit ansähen und ablehnten. Die Mehrheit aus AL, Grünen und SP stimmte dem Postulat am Ende zu, Mitte, FDP und SVP dagegen. Die GLP beschloss Stimmfreigabe: Ein Teil stimmte dafür, ein Teil dagegen, vier Fraktionsmitglieder enthielten sich der Stimme.

Weitere Themen der Woche:

  • Der Platzspitz wird neu gestaltet. Dafür hat der Rat einstimmig das vom Stadtrat beantragte Budget bewilligt. Im Rahmen des Bauvorhabens werde der Mattensteg, die jetzige Brücke zum Sihlquai, um 80 Meter in Richtung Hauptbahnhof verschoben, so Kommisionsreferent Patrick Hässig (GLP). Zusätzlich werde eine neue Platzspitzbrücke gebaut.
  • Die Dienstreisen städtischer Angestellter sollen reduziert werden. Das fordern Martin Götzl (SVP), Felix Moser (Grüne) und Isabel Garcia (GLP) in einem Postulat. Nur noch erforderliche Dienstreisen, die nicht durch Online-Meetings ersetzt werden könnten, sollen noch physisch durchgeführt werden. Walter Angst (AL) sprach von einem «blöden Postulat», das eine Feindseligkeit und mangelndes Vertrauen gegenüber städtischen Angstellten ausdrücke. Ausser der AL nahmen alle Fraktionen den Vorstoss an.  
  • Der Stadtrat legte gestern einen Bericht zu getroffenen Massnahmen zur Verbesserung des Veloverkehrs in der Langstrassenunterführung vor und schrieb damit eine Motion von Marco Denoth (SP) aus 2017 ab, die eine attraktive Veloverbindung auf dem Abschnitt gefordert hatte. Gleichzeitig nahm er eine neue Motion der SP-, Grüne-, GLP- und AL-Fraktion an, die noch einmal eine attraktive Veloverbindung in der Unterführung fordert. Stadträtin Simone Brander zeigte sich trotz baulicher Schwierigkeiten, unter anderem aufgrund zahlreicher Versorgungsleitungen in dem Bereich, zuversichtlich, dass die neuerliche Motion umgesetzt werden könne. Abgelehnt wurde sie von einer Minderheit aus SVP, FDP und Mitte/EVP.  
  • Nachdem der Gemeinderat kürzlich bereits ein Postulat überwiesen hat, das die Ausstellung von Polizeiquittungen gegen Racial Profiling forderte (wir berichteten), folgte gestern die Parlamentarische Initiative der AL zum gleichen Thema. Sie hat das nötige Quorum im Rat erreicht, die Sachkommission Sicherheitsdepartement/Verkehr muss nun einen entsprechenden Antrag ausarbeiten.

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Sein Studium in Politikwissenschaften und Philosophie in Leipzig brachte Steffen zum Journalismus. Als freier Journalist schrieb er für die WOZ, den Tagesspiegel oder die Schaffhauser AZ. Laut eigenen Aussage hat er «die wichtigste Musikzeitschrift Deutschlands, die Spex, mit beerdigt». Seit 2020 ist Steffen bei Tsüri.ch. Sein Interesse für die Zürcher Lokalpolitik brachte das wöchentliche Gemeinderats-Briefing hervor. Nebst seiner Rolle als Redaktor kümmert er sich auch um die Administration und die Buchhaltung.

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