Frauen und Gewalt: Das Problem ist nicht «weiblich, links, aggressiv»
Gemäss einem Bericht der Sonntagszeitung sind Frauen, die als linksextrem eingestuft werden, gewalttätiger als Rechtsextremistinnen oder Islamistinnen. Diese Darstellung ist verkürzt. Ein Kommentar.
Sie würden immer aggressiver: Frauen, die sich in linksautonomen Kreisen aufhalten. So die Hauptaussage des am Sonntag erschienenen Beitrags einer Journalistin der Sonntagszeitung. Als Beweis sollen verschiedene Polizeieinsätze aus Zürich dienen. Zum Beispiel jener, bei dem zwei Frauen laut Polizeimeldung in der Nacht auf den 25. Mai einen Streifenwagen im Kreis 4 blockiert und das Auto mit Tritten und Schlägen traktiert haben. Oder jenem von der diesjährigen 1.-Mai-Nachdemo, bei der die Hälfte der ein paar Dutzend kontrollierten Personen weiblich gewesen seien.
Um ihre These zu untermauern, wird eine Studie aus Schweden zitiert, bei der zwischen 2007 und 2016 Anhängerinnen der linksextremen, rechtsextremen und islamistischen Szene untersucht wurden. Das Ergebnis sei klar: Frauen, die linkes Gedankengut vertreten, würden «Gewalt gutheissen und selbst ausüben». Als «auffällig» bezeichnet die Autorin, dass 57 Prozent der linksradikalen Frauen wegen psychischer Störungen in Behandlung gewesen seien.
Was im Beitrag unerwähnt bleibt: Untersucht hat man gerade einmal 35 Personen, die in Schweden als linksextrem eingestuft wurden. Zudem weisen die Forschenden explizit darauf hin, dass es bei den Studienergebnissen zu Verzerrungen kommen kann, wenn Informationen von der Polizei stammen. So könnten Resultate unter anderem von «polizeilichen Prioritäten und Ressourcen, Sichtbarkeit der Organisationen und Personen abhängen». Ausserdem wird auf stereotype Wahrnehmungen in der Gesellschaft und innerhalb der Strafverfolgungsbehörden hingewiesen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Journalistin eine Studie nach ihrem Weltbild interpretiert. So sorgte letzten Sommer bereits der Artikel unter dem Titel «Links, urban, gebildet – und intolerant» für Kritik. Auch da wurden die Ergebnisse nicht differenziert eingeordnet.
«Früher gab man ihr Medikamente, heute drückt man ihr einen Stempel auf: ‹Linksextrem und kriminell.›»
Isabel Brun
Dabei wäre es wichtig, ein vollständiges Bild zu illustrieren. Stattdessen werden Vorbehalte zur Untersuchung lieber verschwiegen. Vielleicht, weil es zu komplex geworden wäre. Die Studie sowie auch der Beitrag an Aussagekraft verloren hätten. Oder man auf den reisserischen Titel hätte verzichten müssen: «Weiblich, links, aggressiv». Zugegeben, die Wörter in dieser Kombination sind geschickt gewählt; sie polarisieren.
Nicht nur, weil sich das Adjektiv «aggressiv» mit dem allgemeinen Verständnis von Frauen, die sich als links positionieren, zu beissen scheint, weil sie für gegenteilige Werte stehen. Sondern auch, weil laute, wehrhafte Frauen grundsätzlich in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen werden. Sie passen nicht in die Vorstellung jener weiblich gelesenen Person, die sich unsere patriarchalisch geprägte Welt wünschen würde. Angepasst und gefügig soll sie sein. Früher gab man ihr Medikamente, heute drückt man ihr einen Stempel auf: «Linksextrem und kriminell.»
Was dabei vergessen wird: Worum es eigentlich geht. Die Gründe, weshalb demonstriert wird. Weshalb man wütend ist auf staatliche Strukturen. Noch immer stirbt alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn. Noch immer wird Hate Speech von der Polizei nicht ernst genommen. Noch immer ist es schwierig, seinen Vergewaltiger zur Rechenschaft zu ziehen. Noch immer werden weiblich gelesene Menschen in vielen Lebensbereichen diskriminiert.
Klar, Gewalt kann nie die Lösung sein. Egal, weshalb oder gegen wen. Doch mit ihrem Beitrag suggeriert die Autorin, dass Frauen, die sich linksautonomen Kreisen anschliessen, eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Dabei handelt es sich um eine Minderheit. Das Problem sind nicht die «linksextremen Frauen». Es sind die gesellschaftlichen Strukturen, die Frauen systematisch unterdrücken, um die wir uns Sorgen machen müssen.
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