Gemeinderats-Briefing #80: Ein Raum nur für Mädchen

Der Gemeinderat spricht zusätzliches Geld, um am OJA Oerlikon einen eigenen Mädchentreff zu etablieren. Weitere sollen folgen: Insbesondere Leimbach und die Kreise 3 und 9 stehen im Fokus.

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Illustration: Zana Selimi

Warst du schon einmal in einem Jugendtreff der offenen Jugendarbeit (OJA)? Ich schon. Im letzten Jahr quartierte sich die Tsüri-Redaktion für unseren Schwamendingen-Fokus für einige Tage im OJA Schwamendingen ein. Für unseren diesjährigen Blick auf Altstetten hat sich meine Kollegin Isabel Brun gerade erst ins dortige OJA gewagt und mit zwei Teenagern gesprochen.

Isabel sprach mit Jan und Raffael über Games, Gewalt und Fussball. Diese Themenpalette macht deutlich, was Gemeinderat Ruedi Schneider (SP) meinte, als er in der gestrigen Debatte davon sprach, dass Jungs die OJA-Treffs prägen.

65 Prozent der Treff-Besucher:innen seien Buben, so Schneider. Die offene Jugendarbeit wolle das ändern. Auch Mädchen sollen vermehrt die OJA-Treffs besuchen und die Angebote nutzen. Doch dazu brauche man eigene Mädchentreffs. Die gebe es in Bern, Basel oder St. Gallen längst, in Zürich fehlten sie bislang.

«Nach Erfahrungen der offenen Jugendarbeit ist es für Mädchen wichtig, sich zuerst unter sich zu treffen und danach die gemischtgeschlechtlichen Angebote zu nutzen», erläuterte Schneider zur Begründung. Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) ergänzte, es könne für Mädchen und junge Frauen wichtig sein, in solchen Räumen Themen wie erste Liebe, Beziehung, Körper und Sexualität, aber auch Sexismus und geschlechtsspezifische Gewalt zu besprechen.

Szene aus dem OJA-Treff in Altstetten. (Quelle: Isabel Brun)

Die Beiträge von Schneider und Schmaltz waren Teil der Diskussion zu den städtischen Beiträgen für die Soziokultur. 36 soziokulturelle Angebote wie die Gemeinschaftszentren und die OJA-Treffs sollen laut der Weisung in der nächsten Beitragsperiode 2025 bis 2030 städtische Beiträge sowie den Erlass der Kostenmiete im Umfang von fast 38 Millionen Franken pro Jahr bekommen. Das sind knapp 3 Millionen Franken mehr, als sie 2024 erhalten, was unter anderem mit der steigenden Bevölkerungszahl gerechtfertigt wurde.

Zusätzliche 250’000 Franken budgetierte der Gemeinderat für das OJA Oerlikon, um hier Kapazitäten für den bereits erwähnten Mädchentreff zu schaffen. Ruedi Schneider, Anna-Béatrice Schmaltz und Karin Stepinski (Die Mitte) legten mittels Postulat sogar noch einmal nach und forderten den Stadtrat auf, die Kapazitäten für weitere Mädchentreffs an OJA-Standorten auszuloten, insbesondere in Leimbach und den Kreisen 3 und 9.

«Es braucht nicht in jedem OJA ein eigenes Tonstudio, so viele Starrapper bildet auch Zürich nicht aus.»

Patrik Brunner (FDP) zu den städtischen Beiträgen für die Soziokultur.

Unterstützt wurden die Anliegen für Mädchentreffs von allen Fraktionen ausser der SVP. Die lehnte als einzige Fraktion auch alle Beiträge zur Soziokultur ab, bis auf den Erlass der Kostenmiete für den Kinderzirkus Robinson (ob aus Liebe zu Clowns-Nummern oder aus anderen Gründen, wer weiss?).

Für die FDP erklärte Patrik Brunner, es fliesse sehr viel Geld in die Soziokultur und es lasse sich sicher hier und dort etwas sparen, doch das Geld sei insgesamt gut investiert. Er würde sich vom Stadtrat wünschen, dass man zukünftig genauer auf einzelne Posten schaue: «Es braucht nicht in jedem OJA ein eigenes Tonstudio, so viele Starrapper bildet auch die Stadt Zürich nicht aus.»

Gute Zähne für alle (Zürcher:innen)

Ob jemand arm oder reich ist, erkennt man in der Schweiz nicht an der Garderobe – Markenklamotten trägt hier jede:r – sondern an den Zähnen. Das war eine der ersten Erkenntnisse, die ich in Zürich hatte, und die ich immer wieder an Besuch von ausserhalb weitergebe. Für Neuankömmlinge aus dem nahen Ausland gehört die Tatsache, dass zahnmedizinische Behandlungen nicht in der obligatorischen Krankenversicherung inkludiert sind, zu den ersten grossen Verrücktheiten dieses Landes.

Eine parlamentarische Initiative der Zürcher Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber, die Behandlung bestimmter zahnmedizinischer Fälle in die Krankenversicherung mit aufzunehmen, war vor einem Monat vom Nationalrat abgelehnt worden.

«Die Folge dieser unsozialen Gesundheitspolitik der bürgerlichen Mehrheit im Bundesparlament ist, dass Menschen mit geringem Einkommen und Vermögen nicht, oder nur bei schwerwiegenden Schäden, zahnärztliche Behandlungen in Anspruch nehmen», ärgerte sich gestern im Gemeinderat Anna Graff (SP). Gemäss einer Untersuchung habe 2020 mehr als ein Viertel der Schweizer Bevölkerung aus Kostengründen auf eine zahnärztliche Untersuchung verzichtet.

Schon im letzten Juli hatte Graff zusammen mit Moritz Bögli (AL) eine Motion eingereicht, die ein Pilotprojekt zur zahnmedizinischen Versorgung von Menschen mit geringem Einkommen in Zürich fordert. Dabei geht es insbesondere um Menschen, die genug verdienen, um nicht mehr sozialhilfe- oder ergänzungsleistungsberechtigt zu sein, aber eben insgesamt wenig Geld haben.

In der gestrigen Debatte zur Motion fand sich eine grosse Mehrheit für die Idee. Samuel Balsiger (SVP) schaffte es in seinen Ausführungen, wieder einmal Ausländer:innen die Schuld für alle Probleme zu geben (sie seien diejenigen, die in Jobs für zu wenig Lohn arbeiteten und nun mit solchen Gratisleistungen gelockt würden) und plädierte dafür, Gesundheitsleistungen ab- statt auszubauen, um «den Mittelstand zu entlasten».

Nebst der SVP lehnte auch die GLP das Pilotprojekt ab. Man verstehe die Notwendigkeit, doch sei dies ein nationales und nicht ein kommunales Thema, erläuterte GLP-Gemeinderat Ronny Siev. Die FDP dagegen stimmte zu. «Es gibt so etwas wie einen Gemeinsinn und ein soziales Netz», so Patrik Brunner: «Und das muss hier bei den ärmsten der Armen greifen.»

Beratungsangebot für Selbständige

Doch auch die GLP ist nicht ganz herzlos, den Selbständigen hilft sie gern. Ronny Siev hatte zusammen mit Mélissa Dufournet (FDP) ein Postulat eingereicht, das die Einrichtung eines kostenlosen Beratungsangebots für Selbständigerwerbende in schwierigen finanziellen Situationen fordert. Damit solle der Erwerbsarmut unter Selbständigen vorgebeugt werden.

Viele Kleinunternehmer:innen hätten nicht das Know-how, um schwierige Wirtschaftslagen zu bewältigen, so Siev. Ein gezieltes Angebot könne dazu beitragen, das Ruder herumzureissen. Die Beratung könne aber auch zum Schluss kommen, dass es besser sei, das Geschäft aufzugeben.

Jürg Rauser (Grüne) formulierte einen Textänderungsvorschlag: Das Angebot soll in bereits bestehende Stellen integriert werden können. «Das ist ein wichtiges Anliegen, aber vielleicht braucht es dazu nicht noch eine neue Stelle», erklärte er.

«Haben wir überhaupt Erwerbsarmut?»

Michele Romagnolo (SVP) zweifelt an, dass die wirtschaftliche Lage einen Einfluss auf das Geschäft von Selbständigen hat.

Mit der Textänderung nahmen alle Fraktionen den Vorstoss an, nur die SVP spielte wieder einmal nicht mit. «Haben wir überhaupt Erwerbsarmut?», fragte Michele Romagnolo in den Raum. Er zitierte einen Bericht des Bundesamts für Statistik, demzufolge der Lebensstandard und die Armutsquote wieder auf demselben Niveau seien wie vor der Pandemie.

Für ihn ergab sich daraus der Schluss, dass die wirtschaftliche Lage gar keine Auswirkungen auf die Lage von Kleinunternehmer:innen habe. Vielmehr seien viele von ihnen selbst schuld, da sie unüberlegt und ohne Kenntnisse den Weg in die Selbständigkeit wählten. Das betreffe – wie könnte es anders sein bei der SVP? – vor allem die Ausländer:innen.

Weitere Themen

  • Einhellige Zustimmung gab es gestern für eine Weisung, nach der zwei Wohnintegrationsangebote, die bisher als Pilotprojekte liefen, definitiv eingeführt werden sollen. Dabei handelt es sich um die beaufsichtigte Wohnintegration und das Übergangswohnen für Einzelpersonen und Paare. Angesichts der Geschichte der Wohnangebote, die vor allem mit den sogenannten «Gammelhäusern» in der Neufrankengasse verknüpft war, zeigte sich Stadtrat Raphael Golta erfreut über das «Happy End» der erfolgreich durchlaufenen Pilotphase.
  • Gegen die Stimmen von FDP und SVP wurde gestern ein Postulat von Tanja Maag (AL) und Pascal Lamprecht (SP) überwiesen. Darin fordern die beiden, städtische Liegenschaften mit tiefem Auslastungsgrad oder sogar Leerstand für Zwischennutzungen wie Wohnraum für Asylsuchende oder Studierende oder Ateliers, Proberäume und Co-Working-Spaces zu öffnen. Ein Textänderungsvorschlag der GLP, der ein «Einfordern» der gleichen Vorgehensweise von privaten Liegenschaftsbesitzer:innen in ein «Motivieren» veränderte, wurde angenommen. Die FDP hätte die privaten Grundstückseigentümer:innen lieber aus dem Postulat gestrichen, da die Stadt diesen sowieso nichts vorschreiben könne. Ihr Textänderungsvorschlag wurde allerdings abgelehnt.  
  • Knapp an der linksgrünen Mehrheit scheiterte ein Vorstoss von Mélissa Dufournet (FDP) und David Ondraschek (Die Mitte), der eine Anpassung der Preise von städtischen Kindertagesstätten an jene von privaten Trägern forderte. Städtische Kitas seien nämlich 25 Franken pro Tag günstiger als private, was einen Wettbewerbsnachteil für letztere bedeute, so Ondraschek. Marcel Tobler erklärte, seine SP zeige sich grundsätzlich bereit, über die Preispolitik der städtischen Kitas noch einmal zu reden, allerdings müsse das im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Kosten für Kinderbetreuung geschehen. Eine Verteuerung gehe jedenfalls in die falsche Richtung.
  • Moritz Bögli (AL), Leah Heuri (SP) und Anna Graff (SP) haben eine schriftliche Anfrage zum Polizeieinsatz an der Universität Zürich am letzten Freitag im Rahmen von propalästinensischen Aktionen (wir berichteten) eingereicht. Darin wird unter anderem nach der rechtlichen Grundlage für die Zugangskontrollen und die spätere Schliessung des Uni-Hauptgebäudes sowie nach der polizeilichen Kommunikation mit Universität, Stadt und Kanton gefragt.

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