Tag der Vorwürfe im Gemeinderat - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Gemeinderats-Briefing #70: Tag der Vorwürfe

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Angriff und Gegenangriff, Pilotquartier für Netto-Null, keine Abgabe auf Gas

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Die letzte Gemeinderatssitzung vor den Sportferien hinterlässt mich ein wenig ratlos. Was lässt sich darüber berichten? Fast zwei Drittel der Sitzungszeit waren erfüllt von polemischen Angriffen der SVP gegenüber der linken Ratsseite und vorwurfsvollen Gegenangriffen derselben gegen die SVP. Es ging – es lässt sich bereits erahnen – um den sogenannten Extremismus von links und rechts.

Ich belasse die Ausführungen hierbei und schliesse dieses Thema mit folgendem Gedanken: Wer Demonstrationen gegen den Rechtsruck mit der Gefahr von links zu diskreditieren versucht, vergleicht Äpfel mit Birnen. Er ist Teil eines Kommentars, den ich zur Demonstration vom letzten Samstag für Tsüri.ch geschrieben habe, und auf den ich mir hiermit erlaube hinzuweisen.

Hardturmbrache

Die Vorgänge auf der Hardturmbrache sind rechten Kreisen immer wieder ein Dorn im Auge. (Archivbild) (Foto: Tsüri.ch)

Im weiteren Verlauf der Sitzung sorgten mehrere SVP-Vorstösse für heftige Debatten, waren aber von Mehrheiten weit entfernt. Unter anderem beschäftigte sie das Areal rund um die Hardturmbrache. So wurde mehr Repression gegenüber der dortigen Besetzung und mehr Überwachung des nahen Bundesaslyzentrums gefordert. Ausserdem verlangte die SVP ein Ende des bisherigen Umgangs mit Besetzungen in der Stadt, der in einem polizeilichen Merkblatt geregelt und verhältnismässig tolerant ist.

Dabei bezeichnete Johann Widmer (SVP) Besetzende als «asoziale Elemente» und bediente sich damit nationalsozialistischen Sprachgebrauchs, während sein Fraktionskollege Balsiger ein permanentes Mantra der Vorwürfe gegen die linke Ratsseite herunterbetete, das sich in etwa so zusammenfassen lässt: Wer gegen uns und unsere Vorstösse ist, ist linksextrem und verherrlicht Terror und Gewalt.

Andreas Kirstein (AL) attestierte dem SVP-Fraktionspräsidenten daraufhin eine Obsession mit dem moralischen Innenleben seiner politischen Gegner:innen, «die uns in all diesen Fragen nirgendwohin führt». Und für Matthias Probst (Grüne) war klar: Die SVP bewirtschaftet Probleme, die keine sind.

Ein Pilotquartier für Netto-Null

Immerhin zwei Debatten beschäftigten sich an diesem Abend konstruktiv mit den Herausforderungen dieser Stadt. Zum einen lag eine Weisung für ein Pilotquartier Netto-Null im Gebiet Binz / Alt-Wiedikon vor. Von Ende 2024 bis 2030 sollen dort bereits bestehende sowie neue Klimaschutzmassnahmen sowohl vonseiten der Stadtverwaltung als auch aus dem Quartier heraus umgesetzt werden.

Dabei sollen vor allem Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie sich die freiwillige Bereitschaft der lokalen Bevölkerung zu einem Engagement für Netto-Null 2040 erhöhen lässt. «Die Transformationsbereitschaft der Bevölkerung ist ein ganz wichtiger Punkt, um unser Ziel zu erreichen», erklärte Stadtrat Andreas Hauri (GLP). «Und da haben wir im Moment noch wenige Erkenntnisse.»

«Legen Sie dem Gemeinderat etwas vor, das den Namen Projektplan verdient.»

Deborah Wettstein, FDP, hält die Pläne für ein Pilotquartier Netto-Null nicht für ausreichend.

Kosten soll das Ganze 7,7 Millionen Franken, was vor allem bei SVP und FDP Skepsis auslöste. Letztere stellte sogar einen Rückweisungsantrag, um das Projekt noch einmal neu auszuarbeiten. Fraktionsmitglied Deborah Wettstein meinte, das Projekt töne auf den ersten Blick gut, doch wenn man nach der konkreten Umsetzung frage, wie das die FDP mit einem 50-Fragen-Katalog gemacht hatte, dann kämen keine konkreten Antworten. Bei einem so teuren Projekt wünsche man sich «mehr Fleisch am Knochen», so Wettstein. «Wir schlagen vor, das zu etappieren. Legen Sie dem Gemeinderat etwas vor, das den Namen Projektplan verdient.»

Julia Hofstetter (Grüne) entgegnete, die Idee sei, auf Initiativen, Engagements und Projekte aus dem Quartier zu reagieren. Es brauche deshalb ein agiles Projekt und kein «starres Korsett», wie es die FDP fordere. Pascal Lamprecht (SP) fand, das Projekt sei ein wichtiger Mosaikstein beim Erreichen der Klimaziele. Im Hinblick auf den Rückweisungsantrag der FDP sagte er: «Wir sollten Klimamassnahmen nicht zu Tode diskutieren, sondern jetzt angehen.»

Moritz Bögli (AL) meinte, das Projekt werde die Klimakrise und auch die Aufgaben der Stadt in diesem Zusammenhang nicht lösen, denn eine Individualisierung der Probleme reiche nicht: «Ich wünsche uns trotzdem den bestmöglichen Erfolg.» Für die Mitte erklärte David Ondraschek, man erwarte eine Zwischenevaluation für konkrete, zielführende Ergebnisse und die Formulierung von Abbruchkriterien. Alle Fraktionen ausser FDP und SVP stimmten dem Pilotquartier zu.

Keine Abgabe auf Gas

Eine zweite Weisung beschäftigte sich mit der Möglichkeit, eine Abgabe auf den Gasbezug einzuführen, um damit eine Lenkungswirkung in Richtung einer klimaneutralen Energieversorgung zu erreichen. 2021 hatten Markus Kunz (Grüne) und Beat Oberholzer (GLP) eine entsprechende Motion eingereicht, die dem Stadtrat überwiesen wurde. Darin wird argumentiert, es sollten nicht nur die Strombezüger:innen wie bisher mittels Abgabe zur Erreichung des 2000-Watt-Ziels der Stadt beitragen, sondern eben auch diejenigen, die Gas beziehen. Das 2000-Watt-Ziel war der Vorläufer des jetzigen Netto-Null-Ziels 2040.

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Der Stadtrat hatte ein Rechtsgutachten erstellen lassen und dargelegt, dass es beim Gas, anders als beim Strom, keine gesetzliche Grundlage auf Bundesebene gebe für die Einführung einer Abgabe. Die Motion solle daher abgeschrieben werden. 

Stadtrat Michael Baumer (FDP) erklärte, die Gemeinden, die eine solche Abgabe auf Gas eingeführt hätten, wie die Stadt Biel und der Ort Lichtensteig in St. Gallen, seien nicht eins zu eins vergleichbar. Führe Zürich eine solche Abgabe ein, sei die Gefahr gross, dass sie damit eine Klage bis vor das Bundesgericht provoziere. Zudem habe der Angriff Russlands auf die Ukraine die Gaspreise inzwischen deutlich stärker ansteigen lassen, als dies die vorgeschlagene Abgabe jemals habe erreichen können.

Heizung

Geheizt wird in Zürich häufig noch mit Gas. Aber wie lange noch? (Foto: Sigmund / Unsplash)

Motionär Oberholzer sagte, er fände es im Falle des Falles besser, die Gerichte über die Rechtmässigkeit entscheiden zu lassen, als nun einfach zurückzuziehen. Auch Sibylle Kauer (Grüne) meinte, man könne durchaus etwas mutiger sein. Doch die SP stellte sich dagegen, die Motion nicht abzuschreiben und den Auftrag weiter beim Stadtrat zu belassen.

Seine Partei sei bekannt dafür, dass sie den Kampf durch die Instanzen nicht scheue, so Fraktionsmitglied Davy Graf. In diesem Fall habe das Rechtsgutachten aber dargelegt, dass die Chance für einen Sieg auf Bundesebene verschwindend gering sei. Letztlich unterstützte nur die AL das Veto von Grünen und GLP, die Motion wurde also abgeschrieben.

Weitere Themen der Woche

  1. Ohne Diskussion wurde ein Postulat von Rahel Habegger (SP) und Serap Kahriman (GLP) dem Stadtrat überwiesen, das die Prüfung einer breit angelegten Sensibilisierungskampagne zum Thema Kinderschutz in der digitalen Welt fordert. Damit solle insbesondere dem Phänomen des «Sharenting» begegnet werden, also dem Veröffentlichen von Kinderbildern auf öffentlich zugänglichen Social-Media-Kanälen durch deren Eltern.

  1. Diskussionslos überwiesen wurde auch ein Postulat von Martin Götzl (SVP) und David Ondraschek (Die Mitte), unterzeichnet auch von FDP- und GLP-Mitgliedern. Darin werden Massnahmen gefordert, um am Marktplatz Oerlikon Verbesserungen insbesondere im Hinblick auf Nachtruhe und Sauberkeit zu erreichen.

  1. Serap Kahriman (GLP) verlas eine gemeinsame Fraktionserklärung von GLP, Grünen, SP und AL. Man sei erstaunt, über die Presse erfahren zu haben, dass die Oberstaatsanwaltschaft per 1. Januar die Stadtpolizei Zürich anweist, in Medienorientierungen die Nationalität von Täter:innen, Tatverdächtigen und Opfern zu nennen, heisst es darin. Dies, nachdem die genannten Fraktionen erst im November ein Postulat überwiesen hatten, das zum Verzicht auf die Nennung aufruft (wir berichteten). Die Fraktionen forderten mehr Transparenz vonseiten der Oberstaatsanwaltschaft, aber auch des Stadtrats. Stadträtin Karin Rykart (Grüne) legte daraufhin dar, dass sie die Oberstaatsanwaltschaft gebeten habe, ihren Entscheid zu kommunizieren. Diese habe aber abgelehnt mit dem Verweis, dass sie keine politische, sondern eine juristische Akteurin sei. Der Stadtrat selbst könne als Behörde nicht für eine andere Behörde die Kommunikation übernehmen. Marcel Tobler (SP) dankte daraufhin der Stadträtin für die Offenlegung der Geschehnisse, bat aber gleichzeitig darum, das Gespräch mit der kantonalen Justizdirektorin zu suchen, schliesslich übernehme diese bei der Oberstaatsanwaltschaft die Funktion einer politischen Leitung.

  1. Nach gerade einmal eineinhalb Jahren verlässt Claudio Zihlmann (FDP) den Gemeinderat wieder. Er rutschte im Dezember in den Kantonsrat nach. In seinem Rücktrittsschreiben mahnte der Bruder der GLP- Nationalrätin Corina Gredig unter anderem eine stärkere Förderung der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik an. Dies meine er nicht zwingend nur monetär, sondern auch auf die Ausgestaltung des Sitzungsbetriebes bezogen.

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