Gemeinderats-Briefing #62: Seid ihr sicher? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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30. November 2023 um 15:40

Gemeinderats-Briefing #62: Seid ihr sicher?

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Sichere Schulwege, Digitalisierung im Klassenzimmer, Nationalitätsangaben bei Polizeimeldungen

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Es hätte gestern im Gemeinderat die ganz grosse Sicherheits-Show werden sollen. «Messerstechereien», «Jugendgewalt», «Ausschreitungen» war in den für die Sitzung traktandierten Vorstössen zu lesen, die allesamt von der SVP eingereicht worden waren. Doch weil die Fraktion bereits mit einem Postulat zur Nennung des Aufenthaltsstatus in Polizeiberichten für eine fast einstündige Diskussion sorgte (später dazu mehr), blieb den Anwesenden die grosse Show erspart.

Stattdessen drehte sich der grosse Sicherheits-Block des Abends um diejenige von Schulkindern auf ihrem Schulweg. Genauer um die von Kindern, die in der Siedlung Andreaspark in Oerlikon leben, und deren Eltern per Petition auf ihre Situation aufmerksam gemacht hatten. Denn weil im nächsten Jahr das neue Schulhaus Thurgauerstrasse fertiggestellt wird, sollen die Kinder zukünftig dorthin und nicht mehr wie bisher in die Schule Leutschenbach gehen.

Doch während der bisherige Schulweg über verkehrsberuhigte Wege des Neubauareals führt, würde der neue Weg mit der Hagenholz-, der Leutschenbach- und der Thurgauerstrasse gleich über drei stark befahrene Strassen führen, wie Balz Bürgisser (Grüne) aufführte. Er hatte zusammen mit seinem Fraktionskollegen Matthias Probst ein Postulat eingereicht, das die Zuteilung der Kinder aus der Siedlung Andreaspark wie bisher zum Schulhaus Leutschenbach fordert – entgegen der Grenzen der Schulkreise.

«Eigentlich lustig, dass wir als AL der SVP erklären müssen, was Grenzen sind.»

Sophie Blaser, AL, sieht die Zuteilung der Schulkreise als unverrückbar an.

Reto Brüesch und Stefan Urech (beide SVP) wollten das Thema ganz generell angehen und forderten in ihrem Postulat, die Zuteilung von Kindern, die an den Grenzen von Schulkreisen leben, unter der Berücksichtigung der Schulwegsicherheit flexibler zu handhaben. Gegen beide Vorstösse hatte die AL einen Ablehnungsantrag gestellt. Laut Fraktionsmitglied Sophie Blaser seien die Schulkreise starre Gebilde und die Zuteilung Sache der Kreisschulbehörden, nicht des Gemeinderats. Flexibilität gebe es da per Definition nicht. «Eigentlich lustig, dass wir als AL der SVP erklären müssen, was Grenzen sind», stichelte sie.

Bürgisser hielt dagegen, eine Neuzuteilung von Schüler:innen an angrenzenden Schulkreisen sei in Ausnahmefällen durchaus möglich und werde auch heute schon praktiziert. Die AL jedoch hatte einen eigenen Vorschlag in Form eines Postulats vorgebracht und forderte eine Verbesserung der Schulwegsicherheit durch konkrete Massnahmen im betreffenden Gebiet. Unter anderem forderte sie Tempo 30 auf der Hagenholzstrasse und eine Sperrung der Leutschenbachstrasse für den motorisierten Verkehr. Dies wiederum brachte erwartbar die SVP in Rage: Johann Widmer warf der AL vor, «auf dem Buckel der Schulkinder» auf den motorisierten Individualverkehr zu zielen und den ÖV zu behindern.

Carla Reinhard (GLP) sah in der Situation in Oerlikon Parallelen zum Escher-Wyss-Platz, wo Anfang des Jahres ein Schuljunge beim Überqueren der Strasse tödlich verunfallt war: «Gerade wenn in ehemaligen Industriequartieren verdichtet wird, müssen wir umso mehr darauf achten, dass die Schulwege dort an den grossen Achsen sicher werden.»

Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP) versprach, eine Lösung für die Kinder vom Andreaspark zu finden, «aber alle werden wir nicht zufriedenstellen können». Schon gar nicht alle Gemeinderatsfraktionen, die ihm nun unterschiedliche Prüfaufträge erteilt haben: Das Postulat der Grünen hiessen alle Fraktionen bis auf die AL gut, dasjenige der SVP alle bis auf AL und SP und dasjenige der AL alle bis auf FDP und SVP.

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Schulinformatik macht vorwärts

Bleiben wir beim Thema Schule. Sichtlich stolz präsentierte Stefan Urech (SVP) gestern eine Weisung des Stadtrats zum Thema Schulinformatik. Schliesslich ging diese auf eine Motion von ihm und seinem ehemaligen Fraktionskollegen Thomas Schwendener aus dem Jahr 2020 zurück, wie er mehrmals betonte. Und die Umsetzung von Vorstössen aus der SVP ist in Zürich ja tatsächlich keine Alltäglichkeit. «Heute macht die Sek einen grossen Schritt in die Zukunft», fand Urech, und niemand im Rats-Halbrund gab ihm ein Widerwort.

Was die Motion gefordert hatte und die Weisung umzusetzen gedenkt, ist ein Ende der «Bring your own device»-Policy in der Sekundarstufe. Seit dem Jahr 2017 werden Schüler:innen im Rahmen des Fachs «Medien und Informatik» am Anfang der 5. Klasse mit einem Tablet oder Convertible (einer Mischung aus Laptop und Tablet) ausgestattet, das sie nach dem Ende der 6. Klasse wieder abgeben müssen. In höheren Klassen müssen sie allerdings ein eigenes Gerät für den Unterricht mitbringen. Das sei nicht das Gelbe vom Ei, so Urech, schliesslich müssten die Lehrpersonen so als IT-Support für völlig unterschiedliche Geräte mit unterschiedlichen Betriebssystemen und unterschiedlicher Leistung herhalten.

Nun sollen Schüler:innen in der 5. Klasse Notebooks erhalten, die sie mit in die Sekundarstufe nehmen und dort weiter benutzen können. «Bring your own device ist eine gute Idee, aber nicht gut durchführbar», räumte Stadtrat Filippo Leutenegger ein. Deutlicher wurde Sophie Blaser (AL). «Bring your own device ist gescheitert und wir sind froh drum», sagte sie. Sie habe nie verstehen können, wie man auf diese Idee überhaupt habe kommen können. Auch Balz Bürgisser (Grüne) sprach von einem Schritt in Richtung Bildungsgerechtigkeit.

Er begründete auch einen Änderungsantrag seiner Grünen, der darauf abzielte, dass Schüler:innen, die aus der Sekundarschule austreten, ihr Gerät mitnehmen können. Diese Weiterverwendung sei ökologisch und auch sozial sinnvoll. Stadtrat Leutenegger war nicht überzeugt: «Die Geräte müsste man vor der Abgabe alle neu aufsetzen, das wäre ein riesiger Aufwand.» Stefan Urech dagegen fand Bürgissers Antrag eine sinnvolle Ergänzung, der Aufwand des Zurücksetzens sei zudem überschaubar. Ausser SVP, AL und Grünen wollte aber niemand die Idee mittragen. Im Gegensatz zur Weisung, die alle Fraktionen mittrugen.

Die Polizeimeldungen und die Diskriminierung

Vom Austausch der gemeinderätlichen Lehrer:innenschaft (Blaser, Bürgisser und Urech haben alle denselben Beruf) kommen wir zur Unbelehrbarkeit eines gewissen Teils des Parlaments. Dieser sitzt vom Ratspräsidium aus gesehen rechts und forderte gestern in Form eines Postulats der SVP-Fraktionsmitglieder Samuel Balsiger und Stephan Iten, dass künftig bei Meldungen der Stadtpolizei nicht nur die Nationalität ausländischer Personen genannt wird, sondern auch deren Aufenthaltsstatus. Der Vorstoss war chancenlos und wurde von allen anderen Fraktionen abgelehnt, gab aber Balsiger und anderen Mitgliedern seiner Fraktion wieder einmal die Möglichkeit, mit der Rede von «Ausländerkriminalität» und «massloser Zuwanderung» die Gemüter zu erhitzen.

Diametral entgegengesetzt stand dem ein Postulat der SP-, Grüne-, GLP- und AL-Fraktionen. Sie wollten, dass auf die Nennung der Nationalität in Polizeimeldungen verzichtet wird. Vorausgegangen war dem Streit bereits eine jahrelange Auseinandersetzung um die Nennung der Herkunft. 2017 hatte der Gemeinderat ein Postulat mit der gleichen Forderung an den Stadtrat überwiesen, die Stadtpolizei nannte daraufhin die Nationalität nur noch auf Anfrage. Danach hatte die SVP eine kantonale Volksinitiative für die Pflicht zur Nennung der Nationalität in Polizeimeldungen lanciert, deren Gegenvorschlag aus dem Kantonsrat 2021 angenommen wurde. Seither wird die Nationalität wieder genannt. Grundlage für das neuerliche Postulat ist ein Urteil des Bundesgerichts, dass die Nennung nur bei Vermissten und Unfallopfern zwingend anwendbar sei, nicht jedoch bei jeglichen Delikten.

Vor allem die zwei GLPlerinnen Serap Kahriman und Sanija Ameti, beide als junge Frauen mit Migrationshintergrund immer wieder Zielscheibe rechter Hetzkampagnen, sprachen sich vehement für eine Änderung der geltenden Praxis aus. Die Nennung der Nationalität habe genauso wenig eine Aussagekraft über die Ursache einer Straftat wie die Körpergrösse, so Kahriman. Zudem habe die Stadtzürcher Bevölkerung sowohl die Volksinitiative als auch den Gegenvorschlag, der im Kanton eine Mehrheit bekam, klar abgelehnt und somit gar kein Interesse an der Nennung.

«Die wichtigsten Ursachen für Straffälligkeit sind Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status und Bildungsniveau», doppelte Ameti nach. Statistisch gesehen seien es also Männer unter 30, die wenig verdienen und schlecht ausgebildet sind, die am häufigsten straffällig werden. Es gehe der SVP einzig darum, einzelne migrantische Tatverdächtige für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren.

Stadträtin Karin Rykart (Grüne) meinte: «Was ich in dieser Sache denke, wissen Sie alle», nur um es noch einmal zu erläutern. Die Nennung der Nationalität führe die Leser:innen auf die falsche Fährte und verstärke ihre mehr oder weniger stark ausgeprägten Vorurteile gegenüber bestimmten Menschengruppen. Bei der FDP gab man sich gewohnt rechtstreu: Man müsse nach dem Bundesgerichtsurteil nun erst einmal abwarten, was die Staatsanwaltschaft dazu sage und ob diese zur Erkenntnis komme, etwas ändern zu müssen, so Claudio Zihlmann. Die einreichenden Fraktionen wollten aber nicht abwarten und überwiesen ihr Postulat mit ihrer bequemen Mehrheit.

Weitere Themen der Woche

  1. Verkehrskonzept für den Letzigrund: Roland Hohmann und Markus Knauss (beide Grüne) forderten in einem Postulat ein Verkehrs- und Kommunikationskonzept, um den motorisierten Individualverkehr rund um das Stadion Letzigrund und das Freibad Letzigraben bei hohem Besucher:innenaufkommen zu reduzieren. Stephan Iten (SVP) warf Knauss vor, sich gegen das Hardturm-Stadion zu wehren. Schliesslich sei dieses die ideale Lösung, da es nah an der Autobahn liege und ein Parkhaus dort bereits bestehe. Das Postulat sei als Teil einer «Salamitaktik» zu sehen, überall den Autoverkehr von den Hauptverkehrsachsen zu verdrängen. Die Ratsmehrheit aus SP, Grünen und AL überwies den Vorstoss trotzdem.
  2. Mehr Geld für Haus Konstruktiv: Lob von allen Seiten bekam das in den 80er Jahren eröffnete Haus Konstruktiv anlässlich einer Weisung des Stadtrats zu seiner weiteren Finanzierung. Stefan Urech (SVP) fand sogar, es eigne sich besonders gut für Instagram und Tiktok. Trotzdem stellte sich seine Fraktion gegen die neuen Beiträge, da sie sich in den letzten Jahren unverhältnismässig erhöht hätten. Da das Haus Konstruktiv im nächsten Jahr aufgrund der neuen Energiezentrale (wir berichteten unter anderem letzte Woche) aus dem Unterwerk Selnau in das Löwenbräu-Areal ziehen muss, erhöht sich auch die Miete stark. Die GLP enthielt sich als Zeichen gegen diesen Umzug ihrer Stimmen, alle anderen Fraktionen stimmten den Geldern zu.
     
  3. Zeitgleich mit der Vorstellung des Datenschutzberichts 2021-22 wurde gestern der Datenschutzbeauftragte Marcel Studer verabschiedet. Als er 2005 zunächst als Interims-Stellvertreter angefangen habe, sei Youtube gegründet und Windows Vista lanciert worden, so Gemeinderatspräsidentin Sofia Karakostas. Studer selbst zog eine andere Grösse heran, um die 18 Jahre zu bemessen: Bei seinem Antritt seien nur fünf der 125 Ratsmitglieder bereits Gemeinderät:innen gewesen. Es sei eine abwechslungsreiche und herausfordernde Zeit gewesen, sagte er: «Es ist nicht alles perfekt, aber das kann es in einer Welt, die sich so schnell so stark verändert, auch gar nicht sein.»
     
  4. Zu seinem Weggang in Richtung Nationalrat hat Islam Alijaj (SP) auf ein Rücktrittschreiben verzichtet. Ratspräsidentin Karakostas hob sein entscheidendes Mitwirken beim Beschlussantrag für eine Rechtsgrundlage für ein Stimm- und Wahlrecht für Menschen mit Beistandspflicht hervor (wir berichteten). Zudem habe er auch in der SP-Fraktion mit seinem Schalk und Charme nicht locker gelassen, «bis wir deine Sichtweise verstanden haben». Der von uns ausgezeichnete Tsürcher des Jahres Alijaj war letzte Woche Gemeinderat der Woche.
  5. Die Grünen Stadt Zürich, Pro Velo Kanton Zürich und weitere Initiant:innen haben gestern vor der Sitzung ihre Petition für  12 autofreie Tage an Stadträtin Karin Rykart übergeben. Die 12 autofreien Tage seien nötig, «damit wir uns alle wenigstens einmal pro Monat sicher und unbeschwert durch unsere Stadt bewegen können», heisst es auf der Kampagnen-Website. Mehr als 4700 Menschen hatten zum Zeitpunkt der Übergabe unterschrieben. Mehr dazu liest du im Züri Briefing meiner Kollegin Lara.

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