Gemeinderat der Woche: Islam Alijaj (SP)

In seinen 18 Monaten im Gemeinderat hat der Handicap-Lobbyist Islam Alijaj die Inklusion auf das politische Parkett der Stadt gebracht. Nachdem er erfolgreich in den Nationalrat gewählt wurde, will er das Thema nun auf Bundesebene voranbringen.

Islam Alijaj, SP
Islam Alijaj verlässt den Gemeinderat und zieht nun weiter nach Bern. (Quelle: Steffen Kolberg)

In seiner letzten Sitzung im Gemeinderat wird Islam Alijaj in der nächsten Woche voraussichtlich auch seinen letzten Vorstoss in diesem Parlament vorstellen können. Die nötige Mehrheit für eine Dringlicherklärung erhielt er in der Sitzung in dieser Woche. In dem gemeinsam mit Fraktionskollegin Anna Graff eingereichten Postulat fordert er, dass die Kosten für die öV-Nutzung im Stadtgebiet für Menschen mit Bezugsberechtigung für ein SBB-Begleitabo übernommen werden, so lange diese nicht komplett barrierefrei möglich ist.

Seit 2004 verpflichte das Behindertengleichstellungsgesetz die Schweizer ÖV-Unternehmen, ihre Fahrzeuge und Haltestellen barrierefrei zu machen, begründet Alijaj seine Forderung. Zum Jahreswechsel laufe die 20-jährige Übergangsfrist aus und die SBB sowie die anderen ÖV-Unternehmen hätten es versäumt, in der gegebenen Zeit ihre Hausaufgaben zu erledigen. Alijaj schaut auch auf die ZVV: «Das Tram wurde in Zürich vor 140 Jahren eingeführt. Nun ist 2023 und ich muss als Rollstuhlfahrer immer noch auf ein Cobra warten.»

Die Verantwortlichen bräuchten einen gewissen Druck und eine Verpflichtung zur Kostenübernahme durch die Stadt könne diesen generieren: «Meine Hoffnung ist, dass es als Anreiz funktioniert, um schneller zu arbeiten.» Menschen mit Behinderungen wie er wollten ein selbstbestimmtes Leben und nicht zurückstehen, weil die Verantwortlichen ihre Anliegen nicht als wichtig erachteten.

Über 20 Vorstösse hat Alijaj in seinen 18 Monaten im Rat eingereicht. Das grosse Thema war immer Inklusion, die einzelnen Anliegen betrafen den Verkehr genauso wie Bildungsfragen oder das Stimmrecht. «Inklusion ist kein Nischenthema», sagt er, «sondern eine Sichtweise.» Seine Aufgabe habe er immer darin gesehen, diese Sichtweise in die Politik zu bringen, wo sie bislang gefehlt habe.

Alijaj hat alle seine Vorstösse durchs Parlament gebracht, was angesichts der linken Mehrheit dort nicht allzu verwunderlich ist. Ihm ist jedoch wichtig, zu betonen, dass er für seine Anliegen oft auch Zustimmung bis weit ins bürgerliche Lager hinein bekommen hat. Auf was er in diesen 18 Monaten besonders stolz sei? «Stolz ist ein grosses Wort», sagt er: «Aber ich verlasse den Gemeinderat mit einer Genugtuung und dem Wissen, dass man schnell etwas bewegen kann, wenn der politische Wille da ist.

Als Beispiel nennt er den Antrag auf mehr Budget und Stellenprozente für die Beauftragten für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, für den er in der Budgetdebatte 2022 im Rat eine Mehrheit gefunden hat: «Aufgrund dieses Antrags kann eine junge Frau mit Behinderungen einen Job bekommen, und darauf bin ich wirklich stolz.»

Er habe sich wohlgefühlt im Gemeinderat, so Alijaj, er sei respektiert und ernst genommen worden. Am Anfang habe er gedacht, man höre sich im Rat bei den Voten gegenseitig zu, dann habe er aber schnell gemerkt, dass das nicht wirklich der Fall ist. «Ich kann mich noch erinnern: Als ich mein erstes Votum gehalten habe, war alles still. Das hat mich überrascht.» Dass es nun bei seinen Voten nicht mehr so ist, findet er auch positiv: «Wenn man mich genauso behandelt wie die anderen, dann ist Inklusion erreicht. Aber damit man mich so behandeln kann, musste man mir erstmal zuhören.»

Als Alijaj im Frühjahr 2022 überraschend in den Gemeinderat gewählt wurde, musste er zunächst einmal darum kämpfen, gleichwertig sein politisches Amt auszuüben. Dafür mussten entsprechende Bedingungen geschaffen werden. Der Kampf um die Finanzierung seiner persönlichen Assistenz kostete ihn damals viel Kraft. Nun, kurz vor dem Umzug in den Nationalrat, sei er in einer ähnlichen Situation, erzählt er. «Aber es ist ein bisschen anders als damals, die Parlamentsdienste des Bundeshauses unterstützen mich sehr.» Trotzdem sei er im Stress, müsse unter anderem ein neues Team einarbeiten. «Ich habe keine Zeit, Ferien zu machen, denn ich muss meine Behinderung ausgleichen.»

Warum sind Sie Gemeinderat geworden?

Ich wollte die Stadt Zürich zur Pionierin machen für eine inklusive Gesellschaft, und ich wollte Tatsachen schaffen beim Thema Inklusion.

Mit welche:r Ratskolleg:in der Gegenseite würden Sie gerne mal ein Bier trinken gehen?

Mit Samuel Balsiger (SVP). Ich würde gerne den Menschen hinter der Figur kennenlernen, die so sehr polarisiert. Das geht natürlich leichter bei einem Bier oder einem Glas Wein. Oder besser zwei.

Welches Abstimmungsergebnis hat Sie bisher am meisten geärgert?

Auf nationaler Ebene hat mich das Ergebnis der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative sehr geärgert. Sie wurde vom Volk angenommen, aber nicht der Mehrheit der Stände. Es ist eine Schwachstelle in unserer Demokratie, dass eine Stimme nicht gleich eine Stimme ist. Ich finde, das muss irgendwann korrigiert werden. Ich weiss, damit mache ich mich unbeliebt, aber wenn man eine echte Demokratie haben will, muss eine Stimme, eine Stimme sein, egal, wo ich wohne.

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei! 

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

schule
Initiative eingereicht

Bürgerliche Politiker:innen fordern Rückkehr von Förderklassen

Laut bürgerlichen Politiker:innen ist das integrative Schulsystem in Zürich gescheitert. Am Donnerstag reichen sie eine kantonale Volksinitiative ein, welche die Wiedereinführung von Förderklassen fordert.

Von Isabel Brun
josip-ivankovic-yZW-3LPsss8-unsplash
Petition gegen Erhöhung

ETH-Studierende wehren sich gegen höhere Studiengebühren für Ausländer:innen

Die ETH will die Studiengebühren für ausländische Studierende um ein Dreifaches erhöhen. Der Verband der Studierenden wehrt sich mit einer Petition.

Von Anna Pfister
überwachung kamera
Rechtsanwalt im Interview

«Sicherheitsbehörden interessieren sich für Gesichtserkennung»

Recherchen von Tsüri.ch deuten darauf hin, dass die Zürcher Stadtpolizei Gesichtserkennungssoftware verwendet. Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum, überrascht das nicht.

Von Tim Haag
Interview über Wohnungsnot

«In Schwamendingen haben wir keine Verdrängung beobachten können»

Kein Thema treibt die Zürcher:innen so stark um wie das Wohnen. In Schwamendingen werde niemand verdrängt, finden Katrin Gügler und Anna Schindler von der Stadt.

Von Lara Blatter

Kommentare