Die unvollendete Mission zur barrierefreien Stadt

Ab 2024 müssten Menschen mit Behinderung den öffentlichen Verkehr ohne Probleme nutzen können. Doch obwohl die Stadt 20 Jahre für die Umsetzung Zeit hatte, sind auch heute noch fast die Hälfte aller Haltestellen in Zürich nicht barrierefrei. Grund dafür sei nicht nur fehlendes Bewusstsein, glaubt unser Kolumnist Thomas Hug.

Tram Milchbuck Tramhaltestelle
Viele Tramhaltestellen in Zürich sind nicht barrierefrei. (Bild: Unsplash)

Für die meisten von uns ist es selbstverständlich, dass wir selbstbestimmt in den ÖV ein- und aussteigen können. Logisch. Was wäre auch der Sinn des öffentlichen Verkehrs, wenn man da gar nicht reinkommt? Jahrzehntelang war das aber die Realität für viele Menschen in der Schweiz. Rund 180’000 Personen dürften in der Schweiz aufgrund einer Behinderung von der Nutzung des öffentlichen Verkehrs ausgeschlossen gewesen sein.

Erst 1991 wurde der erste Parlamentarier im Rollstuhl gewählt. Bis dahin hielt es das Amt für Bundesbauten aus Gründen des Denkmalschutzes für übertrieben, das Bundeshaus barrierefrei zu machen. Nur über den Lieferanteneingang und mit fremder Hilfe konnte der freisinnige Marc Suter seine Pflichten als Volksvertreter anfangs wahrnehmen, bis endlich Treppenlifte installiert wurden.

Doch um die Jahrtausendwende sollte sich dieses ausgrenzende Mindset ändern. Eine Initiative «Gleiche Rechte für Behinderte» baute Druck auf das Parlament auf. Kurz darauf wurde das Diskriminierungsverbot behinderter Menschen in die Verfassung geschrieben. Und 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Gesetz in Kraft. Dieses besagte unter anderem, dass der ÖV innert 20 Jahren so umgebaut werden muss, dass behinderte Menschen ihn eigenständig nutzen können.

Inzwischen sind 20 Jahre vergangen und wir schreiben das Jahr 2024. Kürzlich fragte Neo-Nationalrat Islam Alijaj auf LinkedIn: «Standest du schon einmal vor einer Bus- oder Tramhaltestelle, das Tram oder der Bus kam an, aber für dich ist die Haltestelle nicht zugänglich?»

Leider müssen sich behinderte Menschen diese Fragen auch heute noch solche Fragen stellen. Zweifellos hat das BehiG einige Hebel in Bewegung gesetzt. Nahezu alle Schienenfahrzeuge haben heute einen tieferen Einstieg. Und viele Haltestellen wurden umgebaut, damit die Haltekanten höher sind. Doch «viele» sind leider nicht genug. Schweizweit gibt es immer noch tausende Haltestellen, die nicht autonom von Behinderten genutzt werden können.

BehiG
(Bild: Thomas Hug)

Und obwohl die Stadt Zürich als Vorbild gilt, erfüllt auch sie die Anforderungen bei Weitem nicht. Nur rund die Hälfte der Zürcher Haltestellen können spontan und autonom genutzt werden – bei jeder zehnten Haltestelle klappt der Einstieg nicht einmal mit Rampe und fremder Hilfe. In der Stadt Bern ist sogar nur jede fünfte Haltestelle für Behinderte autonom nutzbar. Gerade kürzlich hat die Berner Stimmbevölkerung mit 87 Prozent Zustimmung einen Kredit bewilligt, um die Haltestellen endlich barrierefrei umzubauen. Mit zwanzigjähriger Verspätung.

Der Hauptgrund dürfte bei den meisten Städten einfach sein: fehlendes Bewusstsein. Zwar gibt es auch ganz wenige Haltestellen, wo es heute technisch kaum machbar ist – zum Beispiel bei Kurvenlagen wie beim Central –, aber das ist ein Bruchteil aller Haltestellen. Die meisten Gemeinden haben es schlicht verpennt. Oder lieber darüber gestritten, wer die Anpassungen bezahlt.

Dabei profitieren wir alle von behindertengerechten Haltestellen. Mit Kinderwagen einsteigen geht plötzlich problemlos. Und wir alle werden eines Tages alt und froh darüber sein, wenn uns nicht hohe Tritte den Weg ins Tram blockieren. Auch Marc Suter, der erste Parlamentarier im Rollstuhl, war bis zum 20. Lebensjahr ohne Rollstuhl unterwegs und hätte wohl nicht damit gerechnet, dass das Bundeshaus für ihn behindertengerecht umgebaut werden müsste. Es gibt also genügend Gründe, den Druck aufrechtzuerhalten, dass die gesetzlichen Versprechen endlich erfüllt werden.

Übrigens: Kürzlich wurde auch ein anderes Gesetz verabschiedet, das eine Umsetzungsfrist von 20 Jahren beinhaltet – das Veloweggesetz. Innerhalb dieser Frist müssen in der ganzen Schweiz Velowege gebaut werden, die «wo möglich und angebracht, getrennt vom motorisierten Verkehr und vom Fussverkehr geführt» werden. Ob diese Frist ernster genommen wird als die Umsetzung des BehiG? Wir werden sehen.

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