Winterrede Eneas Pauli: «Ich pubertiere jetzt zum dritten Mal» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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25. Januar 2022 um 11:00

Winterrede Eneas Pauli: «Ich pubertiere jetzt zum dritten Mal»

Es ist wieder soweit: Karl der Grosse lädt zur alljährlichen Ausgabe der «Winterreden» ein. Vom 17. bis 28. Januar 2022 haltet jeweils um 18 Uhr eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst eine Rede aus dem Erkerfenster des Karls. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Eneas Pauli ist non-binär und setzt sich für die Rechte von trans Personen ein. (Fotos: Jill Oestreich)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Eneas Pauli

Ich kann mich noch schrecklich gut daran erinnern, wie das für mich war, als meine Brüste zu wachsen begannen.

Ich war 10 Jahre alt und habe am liebsten auf dem Bauch Lego gespielt oder Puzzles gemacht. Und irgendwann hat das angefangen weh zu tun. Auf dem Bauch liegen. Und meine Nippel haben angefangen komisch auszusehen. Wie so Ballone, die man anfängt aufzublasen, der erste Moment, noch bevor der Gummi anfängt zu spannen und sich auszudehnen, also weisch wieni mein?

Kannst du dir das vorstellen? 

Also habe ich meine Cousine, die ebenfalls im Jahr 95 auf die Welt kam, gefragt, ob es ihr auch so gehe. Sie kenne das auch, aber sie fände es nicht schlimm. «Hmmm…», dachte ich, «wenn meine Lieblingscousine das so sagt, dann darf ich das auch nicht schlimm finden…»

Im Alter von 15 Jahren habe ich schon zum ersten Mal Verhütungspräparate bekommen. Angefangen mit dem NuvaRing und irgendwann dann die Pille. Ich wünschte mir wurde gesagt, was auf mich zukommen könnte. Zum Beispiel, dass es die ganzen Prozesse der Pubertät einfrieren könnte. Oder, dass es einen einschneidenden Einfluss auf meine Libido haben könnte. Dass es eine Zeit geben könnte, in der ich und mein Partner über ein halbes Jahr keinen Sex haben werden. 

Wie auch? Denn ich war depressiv und konnte kaum mehr aus dem Haus. Das Einzige was mir noch Freude gab, waren meine Katzen. Stundenlange Diskussionen, Frust, Unverständnis und immer wieder die Frage: «Was ist los mit mir?!»

Meine Brüste wuchsen noch mehr, und ich kann mich noch heute so gut an das unangenehme Gefühl erinnern, wie es war, als sie gewobbelt haben, während der Bus in Horgen, auf dem Weg zum Bahnhof, am Morgen um 7:30 Uhr, über eine Schwelle fuhr.

*schauder*

Google hat mir dann gesagt, dass das alles an der Pille liegen könnte, die Gewichtszunahme, Depressionen, Libidoverlust und das seltsame Gefühl, nicht ich selbst zu sein. Einen Versuch war's wert. Doch ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ich ein weiteres Mal pubertieren würde, als ich die Hormone im Alter von 20 Jahren wieder absetzte.

Magst du dich noch an deine Pubertät erinnern? Wie oft hast du dich von der ganzen Welt missverstanden und ignoriert gefühlt? Wusstest du damals, was los war mit dir?


Ich nicht.

Und im Alter von 20 Jahren nochmals die Achterbahnfahrt eines Jugendlichen erleben würde ich niemandem wünschen.

Ich sprang von einer Identität zur anderen. 

«Ich bin bisexuell!»

«Ich bin lesbisch!»

«Dieser Typ da ist mega hot, ich bin doch bisexuell!»

Und ich hab’ alle immer sofort wissen lassen, was jetzt mein neues «Ding» ist. Auch wenn es nur zwei Monate angehalten hat. Weil ich war der felsenfesten Überzeugung, dass das jetzt richtig ist. Teenager halt. Und je mehr ich kommuniziert habe, desto weniger wurde ich ernst genommen. Ich habe mein Haar wieder kurz getragen, habe angefangen mich vegan zu ernähren und vor allem sind meine Brüste wieder kleiner geworden. Jetzt wobbelte es nicht mehr im Bus.

Und das gab mir zu denken.

Ich hatte eine Stimme im Hinterkopf, die erst ganz leise war und immer lauter wurde. 

Eine Stimme, die zu mir sagte, dass dies nicht die richtige Pubertät ist. Dass ich mein «Ding» doch noch nicht entdeckt habe. Ist ja schon komisch, dass ich froh bin, dass meine Brüste kleiner geworden sind, die Hüften schmaler, das Gesicht kantiger. Wenn ich mir das Gesicht noch kantiger und den Hals breiter photoshoppe sieht das gar nicht so schlecht aus. Und der Name Eneas gefällt mir noch. Würde irgendwie zu mir passen.

Und in einer nächtlichen Youtube-zeitverwend-Aktion habe ich zum ersten Mal von trans Männern gehört.

Also was?

Es gibt auch trans MÄNNER? 

Könnte ICH vielleicht ein trans Mann sein?

Könnte das vielleicht mein «Ding» sein?

Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und meiner besten Freundin ganz leise gesagt:

«Hey, ich glaub imfall ich bin trans…»

Sie meinte aber das sei Blödsinn, ich sei sicher nicht trans.

Und ihre Stimme war lauter als meine.

«Wenn sie das sagt, dann muss das wohl stimmen», dacht ich mir, «sie ist ja schliesslich meine beste Freundin!»

Vor allem aber wollte ich auch nicht trans sein.

Mir war klar, dass wenn ich diesen Schritt gehen würde, sich mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Menschen würden aus meinem Leben gehen, ja wahrscheinlich auch meine beste Freundin, und ich wäre alleine. Niemand will alleine sein, niemand will von anderen Menschen als «komisch» abgestempelt werden. Da wollte ich halt lieber nicht ich selbst und wie die anderen «Normalen» sein. Also habe ich dieses «Ding», wie damals die erste Pubertät, auf Eis gelegt und den Fakt, dass ich trans bin für fünf Jahre verdrängt.

«Wie wäre eine Welt, in der trans Sein akzeptiert und respektiert wird?»

Eneas Pauli

Dann Corona. 

Lockdown. 

Stille. 

Aber ganz viel Lärm in mir drin.

Nachdem ich schon zweimal die ganze Wohnung geputzt hatte, anderthalb Kilogramm Bärlauch in Pesto umgewandelt hatte und sogar den Grünkübel, die Treppe hochgeschleikt und ausgewaschen hatte, noch nie so viel Tageslicht durch die sauberen Fenster ins Wohnzimmer kam und es wirklich nichts mehr zu putzen gab – wurde es unmöglich für mich vor meiner eigenen Geschlechtsidentität zu flüchten.

«Was ist los mit mir? Was ist mein Ding?»

Durch den Kontakt mit Menschen, die sich bereits mit vielen Queerthemen auseinandergesetzt haben und ein offenes Wesen hatten, spürte ich, wie die Stimme in mir drin wieder lauter und zum ersten Mal beim Aussprechen auch ernst genommen wurde. Einer der bedeutendsten Momente hatte ich beim Sex. Völlig unvorbereitet hatte ich etwas zwischen meinen Beinen gespürt, dass gar nicht da war. Ein Penis? Mein Penis?

Erst war ich erschrocken, dann starr, danach verwirrt.

Doch als ich es angesprochen hatte und mein:e Sexualpartner:in sagte «ich weiss, ich hab’ es auch gespürt!» machte es mich euphorisch! Für mich wurde es Zeit zu mir selbst zu stehen, mich nicht mehr vor mir selbst zu verstecken. Dann werde ich halt als «komisch» abgestempelt. Ich nehme gerne das Risiko auf mich, in der Gesellschaft einen Randplatz zu kriegen, wenn ich dafür ich selbst sein kann.

«Hmmmm..», dachte ich, «wenn ich sowieso aus der Reihe tanze, dann kann ich ja machen, was ich will!»

Also hatte ich mein richtiges und lautes Coming-Out und habe alle wissen lassen, was mein wirkliches «Ding» ist:

«Ich bin trans! Ich bin nonbinär! DAS ist los mit mir!»

Und mit dem Bewusstsein für meine Transidentität auch endlich ein Begriff für das komische Gefühl, dass ich immer meinen Brüsten gegenüber hatte: Geschlechtsdysphorie.

Und wow, ich kann da ja was dagegen machen!

Ich hatte keine Ahnung wie einfach meine ganze Transition sein würde und dass es Anlaufstellen gab, die mich informieren und unterstützen können. Ich war alles andere als alleine, sondern fand Zugang zu einer Community, einer Familie. Menschen, die mir sagten, dass ich sicher nicht ein halbes Jahr als «Mann» leben muss, bevor ich überhaupt mit der Hormonersatztherapie anfangen kann. Menschen, die mir Psychiater:innen empfahlen, die mich einfach als Mensch sehen und mich nicht auf mein trans-Sein reduzieren. Jugendchats in denen 14-jährige Personen so viel mehr über Transthemen wussten als ich und mir eine Chirurgin für die Mastektomie empfehlen konnten. 

So viel Bestätigung und Sicherheit hatte ich definitiv nicht erwartet.

Mit dem richtigen Psychiater und einem guten Indikationsschreiben, dass mir das Tor für alle Veränderungen aufmachte, konnte ich mich darum kümmern, mich auf den Weg zu mir selbst zu machen.

Mit diesem Fötzel kam mein richtiger Name und mit dem richtigen Namen das richtige Hormon: Testosteron.

Jetzt pubertiere ich zum dritten Mal und zum ersten Mal im Leben kriegt mein Körper die Hormone, die er schon immer hätte haben sollen. Die ihm guttun, die ihn stark und gesund machen. Endlich habe ich keine Brüste mehr und auch die Nippel, die so komisch aussahen sind jetzt weg. Nie mehr wobbeln im Bus.

Und endlich heisse ich Eneas Yve Pauli.

Ich könnte jetzt sagen «aller guten Dinge sind drei», aber in diesem Fall stimmt das nicht. Vieles hätte viel einfacher sein können. Ich mache mir manchmal Gedanken: Wie wäre es gewesen, wenn ich schon als Teenager diese Hormone hätte kriegen können? Wenn mein Brustwachstum im Alter von 10 Jahren mit Hormonblockern unterdrückt worden wäre?

Bestimmt hätte ich mir meine sprunghafte Identitätskrise mit 20 Jahren ersparen und mich dafür auf meine Ausbildung und Jobsuche konzentrieren können.

Wie wäre also eine Welt, in der trans Sein akzeptiert und respektiert wird?

Könnte das eine Realität sein oder doch eher ein Märchen?

Es war einmal, vor kurzer Zeit, ein Kind, welches wusste, dass es trans ist. Das Kind stand in einem grossen Raum, vor einem grossen Spiegel und öffnete den kleinen Mund und sagte mit zarter Stimme:

«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste trans Person im ganzen Land?», fragte das Kind den Spiegel und beobachtete wie sich das eigene Spiegelbild langsam verzerrt und verbiegt und sich allmählich in ein anderes Gesicht verwandelte.

Die Gestalt, die das Kind aus dem Spiegel heraus anschaute, lächelte freundlich.

«So etwas gibt es nicht mein Kind. Weil sie alle zusammen die schönsten sind», antwortete die Gestalt. «Ich wollte es meiner Mutter schon seit Tagen sagen und sie nach den Hormonblockern für mich fragen», sagte das Kind verlegen zum Spiegel.

«Mein Kind fürchte dich nicht. Dich so lieben wie du bist, ist einer Mutters Pflicht!» Gestärkt und bestätigt von den Worten der Spiegelgestalt, geht das Kind zur Mutter, zupft ihr am Ärmel und schaut verlegen zu Boden.

«Mama ich bin transgender und würde gerne meinen Namen ändern. Auch will ich nicht anfangen zu pubertieren und darum gerne Hormonblocker ausprobieren», sagte das Kind zur Mutter. Die Mutter schaut ihr Kind an, nimmt es liebevoll in den Arm und antwortet mit sanfter Stimme: «Danke, dass du mir das sagst, ich bin für dich da, wenn du mit neuen Dingen experimentieren magst!» Sie gehen zusammen zum Vater und erzählen es ihm. Er reagiert mega gut. Das Kind kriegt Hormonblocker, ändert den Namen und darf später Hormone nehmen. Alles fühlt sich mega gut und richtig an. Dank den Hormonen braucht das Kind auch keine Operationen und fühlt sich wohl in der Pubertät, kann sich auf die Ausbildung konzentrieren und hat mega viele tolle Freund:innen. «Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.»

Solche Geschichten sind in der Realität leider Rarität. So selten, dass wir sie schon fast für Märchen halten. Doch wir können das ändern. Du kannst das ändern. Informiere dich über Transthemen, reflektiere dich, kläre dein Umfeld auf, spende einer Organisation.

Hör uns zu.

Rede mit uns und nicht über uns. Denn egal wie alt eine trans Person ist, wenn sie sagt, sie ist trans, dann ist sie trans.

Und nur sie alleine weiss, was die richtige Realität für sie ist.

Alle bisherigen Reden 2022:

  • Winterrede Samuel Schwarz
  • Winterrede Natalie Rickli
  • Winterrede Schüler:innen Schule am Wasser
  • Winterrede Mischa Schiwow

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