Online Lernprogramm – Stadt setzt auf Eigenverantwortung statt sicheres Velonetz

Mit dem neuen Quiz «Level up your ride» will die Stadt Zürich seit April die Verkehrskompetenz von Velofahrenden stärken. Mit zunehmender Fahrkompetenz sinke der Bedarf an einer sicheren Infrastruktur, so das Argument.

Die Stadt will die Selbstkompetenz von Velofahrer:innen in Zürich stärken.
Die Stadt will die Selbstkompetenz von Velofahrer:innen in Zürich stärken. (Bild: Tsüri.ch)

Wer in Zürich täglich auf zwei Rädern unterwegs ist, braucht starke Nerven und vor allem eine gute Reaktionsfähigkeit. Wie riskant das sein kann, zeigt ein Blick in die Unfallstatistik: Zwar ist die Gesamtzahl von Velounfällen in der Stadt Zürich vergangenes Jahr gesunken, doch zwei davon endeten tödlich.

In 1401 Fällen trugen Ablenkung oder Unaufmerksamkeit massgeblich zum Unfallgeschehen bei. Yvonne Ehrensberger, Geschäftsleiterin von Pro Velo im Kanton Zürich, gibt jedoch zu bedenken, dass auch die Gestaltung der Infrastruktur erheblichen Einfluss hat.

Mit dem neuen Velotunnel unter dem Hauptbahnhof will die Stadt ein sichtbares Zeichen setzen: 180 Meter lang, gut beleuchtet und nur für Velofahrer:innen. Ein seltenes Beispiel dafür, wie sicherer Verkehrsraum konkret aussehen kann.

«Zürich ist mit täglich rund einer Million Menschen auf engem Raum eine besonders anspruchsvolle Verkehrsstadt», sagt Wernher Brucks. Als Leiter für Verkehrssicherheit bei der Dienstabteilung Verkehr kennt er die gefährlichen Schneisen und ist verantwortlich für Massnahmen, die alle Verkehrsteilnehmenden schützen sollen. «Die Infrastruktur ist noch lange nicht dort, wo wir sie haben wollen, und die Velovorzugsrouten kommen nur langsam voran», erklärt Brucks.

Innerhalb der Velostrategie 2030 plant die Stadt ein 130 Kilometer umfassendes Netz aus Velowegen. 50 Kilometer davon sollen als Velovorzugsrouten umgesetzt werden, dafür hatte sich das Stadtzürcher Stimmvolk vor rund fünf Jahren mit einer klaren Mehrheit von über 70 Prozent ausgesprochen. Von den versprochenen 50 Kilometer wurden jedoch erst 4,3 Kilometer umgesetzt.

Mit Quiz tödliche Velounfälle verhindern?

Weil die Infrastruktur aktuell noch grosse Sicherheitslücken aufweist, appelliert die Stadt auf die Eigenverantwortung der Velofahrer:innen. Im April 2025 präsentierte die Stadt Zürich zusammen mit dem Zürcher Verband Pro Velo und der Hochschule Nordwestschweiz ein nationales Angebot zur Förderung der Verkehrssicherheit: das Online-Trainingsprogramm «Level up your ride».

Das Programm funktioniert als interaktives Lernspiel mit vier Level. Darunter werden zum Beispiel Multiple Choice Fragen gestellt, etwa, wie und wann man korrekt signalisiert, worauf man bei unübersichtlichen Kreuzungen achten muss oder wie man die eigene Sichtbarkeit erhöht. Dazu gibt es teilweise einfache Animationen oder kurze Erklärvideos.

«Level up your ride»
Nach vier Levels werde man zum «Velo-Champion». (Bild: Screenshot «Level up your ride»)

Alles grafisch ansprechend aufbereitet und spielerisch verpackt. Innerhalb von rund vier Wochen haben sich bereits rund tausend Personen aus der Stadt Zürich angemeldet.

Dabei würden 60 Teilnehmer:innen enger begleitet werden, um zu erkennen, wie effektiv das Programm sei, sagt Yvonne Ehrensberger. Verkehrsleiter Wernher Brucks erklärt jedoch: «Das digitale Lernprogramm ist kein Ersatz für praktische Kurse auf der Strasse.» Doch die Einstiegshürde sei deutlich geringer, um sich überhaupt mit Gefahren im Strassenverkehr auseinanderzusetzen.

«Level up your ride» richtet sich laut Brucks bewusst nur an Erwachsene: «Kinder und Jugendliche werden während der Schulzeit bereits intensiv geschult.» Doch insbesondere Personen, die unregelmässig Velo fahren, verhalten sich im Strassenverkehr unsicher. Das ergaben zumindest die Ergebnisse einer Wirkungsstudie der Hochschule Nordwestschweiz beim Zürcher Vorgänger-Projekt «Digital aufs Pedal».

Velofahrende sollen selbstbewusster auftreten

Jedes Jahr verunglücken Menschen auf dem Velo tödlich, insbesondere aufgrund des toten Winkels bei Lastwagen. Zwei der drei Verkehrstoten 2024 waren Velofahrer:innen, die von abbiegenden LKW erfasst wurden.

«Halt dich fern», empfiehlt Brucks deutlich. Man solle Lastwagen möglichst meiden oder mit grossem Abstand hinterherfahren. In den Quartieren plädiert er dafür, dass Velofahrende selbstbewusster auftreten: «Sie sollen nicht an den Rand gedrängt werden, wo Fahrzeugtüren aufgehen können, sondern sich eher in die Mitte orientieren.»

Mit dem Quiz seien Velofahrer:innen besser auf die Realität auf den Zürcher Strassen vorbereitet und Wernher Brucks ist der Meinung: «Je besser jemand Velo fährt, desto weniger Ansprüche hat er an die Infrastruktur.»

Dass das Lernprogramm nur Velofahrende und nicht auch Lenker:innen von motorisierten Fahrzeugen schult, sei kein Widerspruch. Grundsätzlich hätten Autofahrende ja bereits eine Ausbildung durchlaufen, findet Brucks. Und das Quiz sei auch für Autofahrer:innen attraktiv, da man so Velofahrer:innen besser verstehen könne. «Trotzdem wären Wiederholungskurse oder spezifische Module zum Veloverkehr durchaus sinnvoll», räumt er ein.

Der Leiter für Verkehrssicherheit gibt zu: «Langfristig liegt das grössere Potenzial in der Infrastruktur und nicht in Bildungsprojekten.» Dem stimmt auch Ehrensberger zu, denn Zürich habe ein grosses Interesse, die Sicherheit für Velofahrer:innen zu stärken. «Level up your ride» ist also ein kleiner Schritt oder ein sechstel Pedalentritt Richtung Velostadt.

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Sophie Wagner

Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch

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