Sindi Markt: «Ich führe ein Schuldenbüchlein»
Die Anzahl an Kiosken in Zürich ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Hinzu kommt: Rund die Hälfte von ihnen sind K-Kioske. Doch wie geht es den unabhängigen Shops? Wer führt sie? Der Sindi Markt an der Josefwiese ist zwar streng genommen kein Kiosk, trotzdem haben wir dem stadtbekannten Minishop einen Besuch abgestattet. Im dritten Teil der Serie erzählt Bamathy Sutharsan, was sich geändert hat, seit der Coop nebenan länger geöffnet ist und wieso der Laden keine tamilischen Lebensmittel führt.
«Hey, lang nicht mehr gesehen, du siehst super aus» – «Ich weiss», entgegnet Bamathy Sutharsan. Der Schalk leuchtet aus ihren Augen. Die ehemalige Stammkundin erklärt der Ladenbesitzerin ihr langes Wegbleiben; sie habe jetzt einen Garten in der Brunau, setze immer mehr auf Selbstversorgung. Nun aber habe ihr Mann gesagt, sie müsse sich mal wieder im Sindi Markt blicken lassen: «Hast du einen Weisswein?» Sutharsan zeigt der Frau, wo die gekühlten Flaschen stehen. Sie selbst hat noch nie Alkohol getrunken. Ihr Mann, mit dem sie den Shop bei der Josefwiese führt, sage immer, sie solle probieren, aber sie wolle nicht.
Gelbe Blüten verdecken den Asphalt vor dem Sindi Markt. Die japanischen Schnurbäume entlang der Josefstrasse wirken im Abendlicht unecht, fast flauschig, wie in einem Computerspiel. Tiefblau breitet sich der Himmel über dem Quartier aus, er ist noch hell und doch beginnen die ersten Lichter der Stadt zu leuchten.
Getränke von überall statt tamilisches Essen
Vor der glasigen Fassade des Shops sitzt Sutharsan Shanmugaratnam mit einem Freund auf zwei leeren Club-Mate-Kästen. Wie in Sri Lanka üblich, trägt die Familie den Vornamen des Vaters als Nachnamen. Seine Frau hält die Stellung im Laden. Mit ihren Nägeln trommelt sie auf das Tresen, summt leise vor sich hin. Von draussen dringen Stimmen herein. Die Kühltruhen brummen, ab und an surrt die Kaffeemaschine.
Der Sindi Markt ist nach der jüngsten Tochter des Besitzerpaares benannt. Die älteste Tochter und der Sohn wollten ihre nicht hergeben, als die Familie das Lokal 2008 übernahm. «Papa, nimm meinen Namen», habe die Jüngste daraufhin gesagt. Damals arbeitete Sutharsan an der Migroskasse, Shanmugaratnam als Pflegehilfe, träumte jedoch von der Selbstständigkeit. Nachdem das ehemalige Musikgeschäft an der Josefstrasse 186 einige Monate frei stand, übernahmen es die zwei.
«Wegen den Eltern war es nicht leicht, das Land zu verlassen.»
Shopbesitzerin Bamathy Sutharsan
Im Sindi Markt kaufen an diesem Abend mehrheitlich junge Leute ein, die sich auf der Josefwiese verabredet haben. «Wir haben fast keine tamilische Kundschaft», erzählt Suga, die älteste Tochter. Das sei nie Ziel gewesen, es gebe schon genug tamilische Lebensmittelläden im Quartier. Ganz zu Beginn habe der Shop kurz Saris im Sortiment geführt, aber: «Saris sind drei Meter lang, wir mussten sie für die Kund:innen auseinanderfalten, danach wieder zusammenlegen, das war zu umständlich», sagt Sutharsan.
Mittlerweile findet man im Laden vor allem eines: Getränke. Die Familie hat sich auf eine möglichst grosse Auswahl spezialisiert. «Viele Leute sagen, sie fänden hier Getränke, die es sonst nur im Drinks of the World gebe», sagt Sutharsan. Wünscht sich jemand aus dem Quartier eine bestimmte Biersorte, werde diese ins Sortiment aufgenommen. Lange war der Shop einer der einzigen, der Club Mate verkaufte.
Neben dem riesen Sortiment an Dosen, Pet- und Glasflaschen findet man im Laden aber auch noch anderes; Sändelisachen zum Beispiel, und Sonnenblumenkerne, Mikrofasertücher, Süssigkeiten, Friedhofskerzen, Fischstäbli, Salz, Shampoo. Früher, als der Coop am Röntgenplatz nur bis sechs Uhr geöffnet hatte und der Migrolino am Sihlquai sowie der Coop Pronto beim Prime Tower noch nicht existierten, führte der Sindi Markt mehr Lebensmittel. Nun rentiere das nicht mehr.
Ein junger Mann mit zwei Moretti in der Hand kommt zur Kasse. Die Nähte seines Outdoorrucksacks leuchten neonfarben. «Und zwei Samosas, vegi und Poulet.» Sutharsan nickt. Am schräg gegenüberliegenden Tresen packt ein Freund der Familie die gefüllten Teigtaschen in eine Tüte.
Kein Indien-Visum für die Schweizer Familie
Shanmugaratnam, heute 55, war 18 als er vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz floh. Sutharsan, heute 52, arbeitete als Mathe- und Tanzlehrerin und kam 1993 nach, um ihn zu heiraten. «Wegen den Eltern war es nicht leicht, das Land zu verlassen», erinnert sich Sutharsan. Der Weg nach Zürich führte über Thailand in die arabischen Emirate, von da nach Russland und nach Deutschland. Kaum in der Schweiz, gebar Sutharsan ihre erste Tochter.
Die älteste Tochter ist heute Juristin, im April macht sie das Anwaltspatent. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder hat das KV gemacht und studiert Betriebswirtschaft. Die jüngste Tochter ist Zahnmedizinstudentin. «Gestern hat sie ihre Semesternote bekommen, eine fünf», erzählt Sutharsan. Zur Feier habe sie im Sindi Markt direkt eine Flasche Gin an einen Kunden verschenkt. «Ich erzähle allen Kund:innen von meinen Kindern, ich bin sehr stolz auf sie.»
Dass alles so kam, wie es gekommen ist, ist auch ein klitzekleines bisschen den indischen Behörden zu verdanken. Nach sieben Jahren in Zürich wollte Sutharsan mit den Kindern nach Indien, wo ihre Mutter mittlerweile wohnte. Nur ihr Mann sollte in der Schweiz bleiben. Shanmugaratnam nahm sich eine Einzimmerwohnung. Sutharsan und die Kinder flogen nach Südindien. Die älteste Tochter war schon bei der Schule eingeschrieben, als der Bescheid kam: Indien erteilt der Familie mit Schweizer Pass kein Visum. Nachdem sie ihr ganzes Zürcher Leben aufgegeben hatten, kehrten die vier nach eineinhalb Monaten in genau dieses zurück.
Aus Stammkundschaft wird Freundschaft
Heute sind Bamathy Sutharsan und Sutharsan Shanmugaratnam aus dem Quartier zwischen Röntgenplatz und Viadukt nicht mehr wegzudenken. «Die Quartierkinder, die früher bei meinen Eltern Süssigkeiten kauften, haben heute selber Kinder», erzählt die älteste Tochter, «meine Eltern haben mit ihnen alle Phasen durchlebt – auch die Alkoholphase als Jugendliche». Zwischen der Quartierkundschaft und der Familie haben sich enge Freundschaften entwickelt.
Jürg zum Beispiel, habe wie sie drei Kinder: «Wir kennen sie seit sie klein waren.» Jetzt verkauft Sutharsan im Laden die selbstgemachten Gummibärli-Ohrringe der mittlerweile 14-Jährigen Tochter des Stammkunden. «Wenn wir nach Indien gehen, bringen wir Jürgs Kindern Kleider mit.» Als Sutharsans älteste Tochter auszog, habe sie Jürg bei der Wohnungssuche als Referenz angegeben.
«Der Laden hat uns einen sehr guten Lebensstandard ermöglicht.»
Suga Sutharsan, älteste Tochter des Besitzerpaars
Ein anderer Freund sei André. Der pensionierte Quartierbewohner komme jeden Tag in den Laden, helfe auch mit, räume die Regale auf. «Gestern hat er meinen Mann massiert, als dieser Rückenschmerzen hatte», erzählt Sutharsan. André dürfe – so wie einige andere Stammkund:innen – auf Rechnung konsumieren: «Ich führe ein Schuldenbüchlein.»
Familientreffpunkt
Bis sie gesundheitlich nicht mehr mögen, wollen Sutharsan und Shanmugaratnam den Sindi Markt weiterführen. Ein Grund dafür sei, dass ihre Rente niedrig ausfallen werde, ein anderer, dass das Geschäft gut laufe. «Der Laden hat uns einen sehr guten Lebensstandard ermöglicht, wir haben viel Familienzeit hier verbracht und sind viel in die Ferien gefahren», sagt die älteste Tochter.
Die Familie feiert im Lokal Geburtstage. Von Zeit zu Zeit stellt Shanmugaratnam vor dem Laden einen Grill auf. Dann gibt er auch den Kund:innen etwas ab. Sutharsan kocht daheim oft zu viel und nimmt die Reste mit an die Josefstrasse: Dal oder Gemüsecurry. Wenn die Kund:innen fragen, was denn so fein rieche, offeriert die Ladenbesitzerin ihnen einen Teller. Nach Ladenschluss sitzt die Familie im Lokal mit Freund:innen zusammen. Die Stammkund:innen wüssten das, sagt Sutharsan: «Klopfen sie an die geschlossenen Türen, öffne ich ihnen.»
Der Sindi Markt ist mehr als ein Minishop. Er ist einer dieser Treffpunkte im Quartier, auf die Christian Schmid im Velo-Caprez-Artikel hinwies. «Man muss sich bewusst sein, dass die Läden im Langstrassenquartier nicht nur Läden sind, sondern auch Treffpunkte von Communities», sagte der Stadtsoziologe damals. Diese Strukturen seien nicht nur für das Quartier, sondern für die ganze Stadt wichtig, aus deren anderen Teile die Leute deshalb hierher kämen – auf einen Schwatz, eine Mate und ein Samosa.
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