Matyas Sagi-Kiss (SP): «Die Wohnungsnot soll nicht nur auf städtischer Ebene bekämpft werden»
Im Februar 2023 wählt der Kanton Zürich sein Parlament neu. Im Zuge dessen stellen wir aus jeder Partei eine spannende Person vor, die kandidiert sowie in der Stadt Zürich lebt. Der Wahlzürcher Matyas Sagi-Kiss setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Im Gespräch erzählt der 39-Jährige, warum er sich aber auch für andere Minderheiten einsetzen will, wenn er den Schritt in den Kantonsrat schaffen sollte.
Isabel Brun: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, für die SP zu politisieren?
Matyas Sagi-Kiss: Für mich ist klar, dass soziale Gerechtigkeit und damit einhergehend die soziale Sicherheit die Grundvoraussetzung für alles ist. Ob Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, die Wohnbaupolitik oder der Umgang mit dem Klimawandel, der Erfolg der Politik in diesen Bereichen steht und fällt mit der Frage, ob die gewählten Massnahmen sozial verträglich sind und auch jene Gruppen berücksichtigen, die keine starke Lobby haben. Die SP ergreift hier klar Partei und übernimmt Verantwortung für jene, deren Portemonnaie nicht endlos Mittel hergibt und daher oft nicht wahrgenommen werden.
Was war Ihr grösster politischer Misserfolg?
Im Rahmen meiner Tätigkeit als Vizepräsident der Behindertenkonferenz Kanton Zürich, gehört das politische Lobbying zu meinen Aufgaben. Da muss ich immer wieder mit Kompromissen leben, die ich im Idealfall nicht eingehen würde. Wenn ich allerdings für eine ganze Bevölkerungsgruppe kämpfe, gilt – wenn es nicht anders geht – «lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach». Diese Kompromisse sind immer Erfolg und Misserfolg zu gleich.
Am meisten schmerzt mich aber, dass wir Behindertenrechtsaktivist:innen uns bis heute ohne Erfolg für eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls engagieren. Aber ganz gleich, ob wir uns beispielsweise für die Konzernverantwortungsinitiative engagieren oder ein eine andere Sache, wir dürfen niemals aufgeben und müssen motiviert bleiben.
Wohnen ist in der Stadt Zürich ein allgegenwärtiges Thema. Wie wohnen Sie und wie viel zahlen Sie für Ihre Bleibe – oder sind Sie gar Eigentümer?
Ich wohne in einer 47 Quadratmeter grossen 1,5-Zimmer-Wohnung der Genossenschaft Kalkbreite und zahle 1210 Franken Miete pro Monat.
«Was das Bauen und die Architektur angeht, wird die Hindernisfreiheit oft als ein lästiges Muss empfunden.»
Matyas Sagi-Kiss (SP)
Die Strassen Zürichs sind ein hart umworbenes Pflaster. Wie sind Sie in der Regel in der Stadt unterwegs?
Ich bin mit meinem elektrischen Rollstuhl unterwegs und benutze, sofern diese hindernisfrei zugänglich sind, auch Tram und Bus. Häufig fahre ich auch mit dem Zug und bin dort oft auf Ein- und Ausstiegshilfen der SBB angewiesen. Gelegentlich bin ich auch den Service der Zürcher Behindertentransporte BTZ angewiesen. Was den hindernisfreien Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch öffentliche Gebäude et cetera angeht, gibt es noch viel Verbesserungspotential. Der politische Wille fehlt, hier mehr zu tun, als das absolute Minimum. Das möchte ich ändern.
Welche Themen wollen Sie die kommenden vier Jahren aufs politische Parkett bringen?
Ich bin der Meinung, dass die Wohnbaupolitik auf kantonaler Ebene viel stärker ins Auge gefasst werden sollte und damit einhergehend der gemeinnützige Wohnungsbau auch von kantonaler Seite stärker gefördert werden muss. Denn auf städtischer Ebene allein kann die Wohnungsnot nicht wirksam genug bekämpft werden. Die Annahme der kürzlich lancierten Vorkaufsrechtsinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich» wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Eines meiner Steckenpferde als Politiker mit Behinderung ist natürlich auch die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention auf kantonaler Ebene. Hier möchte ich dem Kanton in den nächsten Jahren gerne auf die Finger schauen und den notwendigen politischen Druck aufrechterhalten.
Vor wenigen Wochen haben wir die Züri Awards verliehen. Wen würden Sie zur/zum Zürcher:in des Jahres küren und weshalb?
Wenn der Züri Award einer Organisation verliehen werden soll, würde ich ihn der Aktion Vierviertel verleihen, weil Sie sich für ein Grundrecht auf Einbürgerung engagiert. Wenn es lokal und eine natürliche Person sein soll, würde ich den Preis an Nuria Van der Kooy verleihen, weil sie sich mit ihrem Fachwissen und Engagement für Flüchtlinge mit Behinderung – deren Bedürfnisse oft vergessen werden – engagiert.
Auf Ihrer Webseite schreiben Sie, dass Sie sich im Kantonsrat «für uns alle» engagieren wollen. Was bedeutet das konkret?
Es ist die uralte Geschichte: jene die am lautesten Schreien und noch dazu die stärkste Lobby haben, finden Gehör und die anderen gehen in der Regel unter. Der Kantonsrat hat erst kürzlich das Budget für 2023 um 300 Millionen gekürzt – ohne festzulegen wie – und verkauft dies als «Sparmassnahme». Wen wird die Kürzung am stärksten treffen? Sicher nicht diejenigen mit der grössten Lobby und stärksten Stimme. Solche als «Sparmassnahmen» getarnte Budgetkürzungen treffen letztlich die Schwächsten der Gesellschaft überproportional stark, weil bei diesen keine Furcht vor einem schlagkräftigen Widerstand besteht.
Sie leben mit als Rollstuhlfahrer mit einer Zerebralparese in der Stadt Zürich. Ist Ihre Wahlheimat Ihrer Meinung nach behindertengerecht? Was ist gut, was weniger?
Was das Bauen und die Architektur angeht, wird die Hindernisfreiheit oft als ein lästiges Muss empfunden, welches die Kreativität einschränkt, Kosten verursacht und den Denkmalschutz erschwert. Das ist auch in Zürich nicht anders. Würde die Bauberatung der Behindertenkonferenz stets und in einem frühen Stadium der Bauprojekte miteinbezogen werden, gäbe es weniger Schwierigkeiten.
Ein Beispiel sind die öffentlichen WC-Anlagen. Selbst bei den explizit zugänglichen WCs sind die Türen häufig zu schwer, die Türschwelle zu hoch, oder das Licht in der Toilette wird über einen Bewegungsmelder gesteuert, der so ungeschickt installiert ist, dass auf dem WC sitzend, herumgefuchtelt werden muss, um nicht im Dunkeln zu sitzen. Auch wird beim Bauen häufig nicht an Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung gedacht, was natürlich nicht hinnehmbar ist.
Dank einem neuen Gesetz können Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich ab 1. Januar 2024 selbstbestimmter leben. Das ist ein Fortschritt, allerdings bedeutet das auch, dass es ab dem Zeitpunkt auch mehr Wohnungen benötigt, die behindertengerecht gebaut sind. Wie kann die Stadt Zürich dafür sorgen, dass Betroffene eine geeignete Wohnung finden?
Ein kleiner Teil der städtischen Wohnungen, welche hindernisfrei gebaut sind, werden bereits heute an Menschen mit Behinderung vermietet. Eine Möglichkeit wäre also die Erhöhung der Anzahl Vermietungen an Menschen mit Behinderung und andererseits gäbe es die Möglichkeit, die Abgabe von Bauland an gemeinnützige Bauträgerschaften an entsprechende Bedingungen zu knüpfen. Hinzu kommt natürlich, dass hindernisfreie Bauen bei der Erteilung von Baubewilligungen im Gesamtkontext noch stärker priorisiert werden könnte.