Gemeinderat sagt Nein zu günstigem ÖV und Ja zur Rückkehr der Entsorgungscoupons
Der Gemeinderat diskutierte gestern hitzig die «365-Franken-ÖV»-Initative und die städtische Abfallstrategie. Die SP unterlag beide Male.
«Hardplatz» heisst die nächstgelegene Haltestelle vom Rathaus Hard. Hier eilen nach den Mittwochsitzungen jene Gemeinderät:innen (und diese Tsüri-Journi) hin, die wegen Regen, Veloplatten oder den Höhenmetern über den Bucheggplatz auf den Bus angewiesen sind.
Genau dieser öffentliche Verkehr beschäftigte gestern Abend zwei Stunden lang das Parlament. Es ging um die SP-Initiative «VBZ-Abo für 365 Franken» und die Sozialdemokrat:innen standen mit ihrem Anliegen grösstenteils alleine da.
Linke entzweit ob günstigem ÖV
Der Inhalt ist schnell erklärt: Das ÖV-Jahresabo soll für Zürcher:innen im Stadtgebiet von 809 Franken auf 365 Franken und für Kinder 180 Franken gesenkt werden.
«Die 365-Franken-Initiative ist eine der wichtigsten Antworten in dieser Legislatur auf den Kaufkraftverlust.»
Severin Meier, SP-Gemeinderat
Natürlich werde das Vorhaben Geld kosten, sagte Severin Meier (SP); 110 Millionen pro Jahr laut Initiativkomitee, 150 Millionen laut Stadtrat. Aber, so Meier, «wir müssen uns das leisten können» und bezog sich damit auch auf die Zürcher Jahresrechnung 2024, die mit einem Rekordertragsüberschuss von 517,8 Millionen Franken abschloss.
«Die 365-Franken-Initiative ist eine der wichtigsten Antworten in dieser Legislatur auf den Kaufkraftverlust», sagte Meier. Die Initiative soll den Mittelstand entlasten in Zeiten, in der sich Miete und Krankenkassenprämien innert 25 Jahren verdoppelt hätten. Aber auch die Verkehrswende vom motorisierten Individualverkehr hin zum öffentlichen Verkehr antreiben.
Fast alle anderen Fraktionen im Raum sahen das aber anders.
«Damit mehr Leute den ÖV nutzen, muss dieser schneller und besser und nicht günstiger werden.»
Martina Zürcher, FDP-Gemeinderätin
Kritik gabs ausgerechnet auch von der grössten Verbündeten.
«Die SP meint, sie packt mit dieser Initiative den ganz grossen Hebel aus», sagte Markus Knauss (Grüne). «Doch was dieser Hebel genau bewegen soll, wissen wir auch nicht.» Ähnliche Projekte in anderen Städten hätten gezeigt, dass eine Vergünstigung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht dazu führt, dass dieser stärker genutzt wird.
Und Grüne bis SVP glaubten nicht daran, dass eine Vergünstigung der öffentlichen Verkehrsmittel eine Abkehr vom Auto zur Folge haben würde.
Martina Zürcher (FDP) outete sich als Velofahrerin und betonte, ihr eigener Arbeitsweg würde mit Bus und Tram bis zu 40 Minuten länger dauern als auf dem Zweirad. «Damit mehr Leute den ÖV nutzen, muss dieser schneller und besser, und nicht günstiger werden.»
«Die Bestverdienenden, welche verdrängte Personen ersetzen, müssen wir nicht beglücken.»
Michael Schmid, AL-Gemeinderat
Kritisiert wurde auch die Tatsache, dass die SP mit der Initiative allen Zürcher:innen eine Verbilligung zusprach, egal ob sie darauf angewiesen sind oder nicht. «Normalverdienende, denen durch die Gentrifizierung der Verweis aus der Stadt droht, möchten wir unbedingt durch Umverteilung staatlicher Mittel unterstützen», sagte Michael Schmid (AL). «Doch die Bestverdienenden, die verdrängte Personen ersetzen, müssen wir nicht beglücken.»
«Die Initiative setzt einen verkehrspolitischen Impuls.»
Roland Hohmann, Grünen-Gemeinderat
Nur eine grüne Minderheit unterstützte das Anliegen. Roland Hohmann vertrat, wie er sagte, die Meinung der Jungen und Junggebliebenen in seiner Fraktion. Er meinte: «Die Initiative folgt weniger einem Lenkungskurs, sondern setzt einen verkehrspolitischen Impuls». Dafür könne man auch Geld priorisieren.
Die SP liess sich von der Kritik der Ratsmehrheit aber nicht beirren, hielt an ihrer Initiative fest und lehnte auch zwei Gegenvorschläge von AL und Stadtrat ab. Der städtische Vorschlag hätte einkommensschwachen Personen günstigere ÖV-Billette ermöglicht.
Stadtrat Raphael Golta (SP) «bedauerte» es sehr, dass die Gegenvorschläge nicht durchkamen. Darunter würden jene einkommensschwachen Bevölkerungsschichten leiden, die von einer Reduktion der ÖV-Preise profitiert hätten.
Die Initiative wurde schlussendlich von einer Mehrheit des Rates abgelehnt. Für welche Seite sich die Stimmbevölkerung entscheidet, wird die Abstimmung im September zeigen. Dann kommt die Initiative an die Urne.
Gemeinderat will Entsorgungscoupons wieder einführen
Entsorgung ist ein emotionales Thema, das wissen wir spätestens seit den Entsorgungscoupons und der gestrige Abend im Rathaus Hard bewies es erneut.
Folgendes: Der Stadtrat beantragte dem Gemeinderat einmalige Ausgaben von vier Millionen Franken für den mobilen Recyclinghof.
Hitzig wurde die Debatte aber, weil eine Mehrheit der Kommission aus FDP, GLP, SVP, Mitte/EVP und AL die Weisung um eine Dispositivziffer erweitert hatte. Diese fordert, dass mindestens bis Ende 2027 jeder Haushalt pro Jahr zwei gratis Entsorgungscoupons erhält.
«Wenn die Weisung durchkommt, dann sind die Coupons nicht automatisch wieder eingeführt.»
Simone Brander, SP-Stadträtin
Zu dieser Änderung fand die zuständige Stadträtin Simone Brander deutliche Worte. Der Antrag sei ein «Rechtsbruch», da er die Einheit der Materie- und der Beschlussform verletzte. Und, so Brander: «Wenn die Weisung durchkommt, dann sind die Coupons nicht automatisch wieder eingeführt.» Denn auch mit einer Annahme würde die gesetzliche Grundlage für die Coupons fehlen. (Randnotiz: Für die Entsorgungscoupons gab es, obwohl jahrzehntelang im Gebrauch, nie eine gesetzliche Grundlage.) Die Annahme des Antrags zur Wiedereinführung für drei Jahre würde an dieser Tatsache nichts ändern. Stattdessen hätte sie eine Revision der Abfallentsorgung und Mehrkosten von 29 Millionen zur Folge, was wiederum eine Volksinitiative erforderlich machen würde.
Ihr widersprechen in mehreren, teilweise heftigen Voten die Bürgerlichen. Gemässigter drückte sich Beat Oberholzer (GLP) aus. Er bezeichnete die «Drohkulisse der Volksabstimmung» als weit hergeholt und auch sein Parteikollege Sven Sobernheim widersprach Brander. Die Änderung einer Verordnung brauche keine Volksinitiative.
Zu bereits fortgeschrittener Stunde kam es dann zur Abstimmung.
Aufgrund einer Verwirrung innerhalb der SP-Fraktion stimmten die Sozialdemokrat:innen zuerst irrtümlicherweise dem Rückweisungsantrag der Bürgerlichen zu. Doch der Gemeinderatspräsident Guy Krayenbühl (GLP) liess eine Wiederholung der Abstimmung zu und so wurde der Rückweisungsantrag doch abgelehnt – nicht ohne, dass die SP zuvor von der Ratsgegenseite ein paar Lacher einstecken musste.
Zu guter Letzt wurde die Weisung des Stadtrats für den Ausbau des mobilen Recyclinghofes mit 74 Ja- zu 44 Nein-Stimmen zwar angenommen, jedoch mit der veränderten Dispositivziffer.
Was passiert jetzt? Warten wir mal ab.
Weitere Themen aus dem Rat
12 Millionen für Strassenbauprojekt an der Scheuchzerstrasse: Der Gemeinderat unterstützte gestern ein Aufwertungsprojekt an der Scheuchzerstrasse. Betroffen ist der Abschnitt Milchbuck- bis Ekkehardstrasse, hier soll ein weiteres Pilotprojekt des hitzemindernden «Schwammstadt»-Ansatz umgesetzt wird. Es gibt Reparaturarbeiten an der Kanalisation, der Fahrbahn und dem Trottoir. Gleichzeitig wird der gesamte Projektperimeter von einer Baumallee gesäumt. Eine Minderheit aus SVP und FDP war dagegen, unter anderem wegen des «radikalen Abbaus der Parkplätze». Die vorliegende Weisung betrachtete sie als «Salamitaktik» auf dem Weg hin zu «Züri autofrei».
Aufwertung an der Sihlquai: Der Gemeinderat setzte sich auch bei einem zweiten Tiefbauprojekt gegen die Minderheit von SVP und FDP durch. Mit 80-Ja zu 33-Nein Stimmen wurden einmalige Ausgaben von rund 10 Millionen Franken und gebundene einmalige Ausgaben von rund 37 Millionen Franken für ein Strassenbauprojekt am Sihlquai, zwischen Gasometer- und Fabrikstrasse gutgeheissen. Der Abschnitt soll mit Neugestaltungs- und Sanierungsmassnahmen für Fussgänger:innen und Velofahrer:innen aufgewertet werden.
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Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.