«Der Boden ist keine Ware, Wohnungssuchende keine Konsument:innen»
Massiv gestiegene Bodenpreise, Leerkündigungen und Gentrifizierung werfen die Frage auf. Wer kann überhaupt noch in der Stadt wohnen und wie war die Situation eigentlich früher? Ein Gespräch mit der Historikerin und Stadtforscherin Nadine Zberg.
Dominik Fischer: Frau Zberg, wer darf in der Stadt wohnen? Wenn nur noch Grossunternehmen bauen würden, könnte ich als Tsüri-Journalist eine Wohnung in der Stadt auch nicht mehr bezahlen.
Nadine Zberg: In der Stadt wohnen dürfen grundsätzlich alle. Aber wenn es so weitergeht, können es sich nicht mehr alle leisten. Eine vielfältige Bevölkerungsstruktur, Lebendigkeit, Kultur, kurze Wege und Erholungsräume machen eine Stadt attraktiv. Das möchten Investor:innen in teure Mieten ummünzen. So entstehen Business-Apartments und teure Wohnungen, deren Bewohner:innen oft kaum zum öffentlichen Leben im Quartier beitragen. Die Quartierläden und Lokale weichen grösseren Ketten. So zerstört die Gentrifizierung wiederum die Attraktivität des Standorts.
Wieso ist die aktuelle Lage auf dem Wohnungsmarkt überhaupt so kritisch?
Wohnraum war in Zürich schon immer knapp. Aktuell ist die Entwicklung jedoch besorgniserregend. In den letzten zehn Jahren beobachten wir eine Explosion der Angebotsmieten. Günstiger Wohnraum verschwindet immer mehr, auch das Phänomen der Leerkündigungen hat zugenommen. Diese reissen ganze Quartiere und soziale Zusammenhänge auseinander.
Woran liegt diese Zunahme bei den Leerkündigungen?
Es ist ein Problem, dass es immer noch häufig günstiger ist, abzureissen und neu zu bauen, statt eine sozialverträgliche Sanierung vorzunehmen. Aber die ökologischen und sozialen Kosten eines Abrisses sind extrem hoch. Denn erstmal entsteht ja eine riesige Brache. Bis die neu gepflanzten Bäume gross sind, dauert es 30 bis 40 Jahre. Aber in der Logik des Marktes ist das bereits die nächste Phase, wo über Abriss und Neubau nachgedacht wird.
Wie bei den Bäumen dauert es auch im Sozialen ja lange, bis in einer neuen Siedlung Freundschaften und Vertrauensverhältnisse entstehen.
Für Investor:innen ist das leider irrelevant. Aber wenn man aus einer Dringlichkeitsrhetorik heraus Gebäude abreisst und verdichtet, führt das nicht notwendig zu der Stadtentwicklung, die wir brauchen.
Die UBS argumentiert bei vielen ihrer Ersatzneubauten auch mit Verdichtung. Aber die Mieten liegen dann schnell bei 4000 Franken für eine 3,5-Zimmer-Wohnung.
Verdichtung wird einfach als Schlagwort eingesetzt. Dabei ist die wichtige Frage, was man unter der Verdichtung genau versteht. Oft entsteht zwar mehr Wohnfläche, aber es wohnen gar nicht mehr Menschen dort, sondern sie wohnen einfach auf grösserem Fuss und zahlen mehr.
Es geht also auch um die Frage, an wen die neuen Wohnungen vermietet werden und zu welchem Preis?
Aktuell bewerben sich wahnsinnig viele Leute auf preisgünstige Wohnungen. Die Vermieter:innen können sich dann herauspicken, wen sie wollen. Und normalerweise wollen sie möglichst «pflegeleichte» Mieter:innen: mit Arbeitsvertrag bei einer soliden Firma, die Schweizerdeutsch sprechen, idealerweise keine Kinder haben und keinen Lärm machen. Diese Entscheidungen prägen das Stadtbild und die Demografie stark. Aber solange es Menschen gibt, die sich die hohen Mieten leisten können, lohnt es sich für Investor:innen weiterhin, so teure Wohnungen zu bauen.
Das führt dazu, dass bezahlbarer Wohnraum fast nur von der Stadt oder Genossenschaften bereitgestellt wird. Zuletzt sorgte die Schlagzeile bei einigen für Unmut, dass viele Stadtwohnungen an Auswärtige gehen, beispielsweise an Expats.
Die SVP hat das skandalisiert. Aber es macht eine Stadt auch aus, dass Durchmischung stattfindet, dass sie offen ist und Auswärtige aufnimmt. Grundsätzlich finde ich es falsch, Ressentiments gegen Expats oder andere Migrant:innen zu schüren. Das ist ein Versuch, die betroffenen Gruppen zu spalten. Denn auch gut bezahlte Expats würden vielleicht lieber in einer Genossenschaft wohnen, als sich vom freien Markt maximal auspressen zu lassen.
Diese Teilung in «Wir gegen Sie» hat eine lange Geschichte und wird oft strategisch eingesetzt. Aber wieso sollte es nicht einfach preisgünstigen Wohnraum für alle geben? Was hat die Gesamtgesellschaft schon davon, wenn mit Wohnraum Profit erwirtschaftet wird?
Im Januar gingen für die 141 Stadtwohnungen in der Wohnsiedlung Tramdepot Hard innert einer Woche über 10’000 Bewerbungen ein, die Nachfrage ist riesig. Welche Möglichkeiten gibt es, um mehr günstigen Wohnraum zu schaffen?
Die Stadt hat das Drittelsziel zu günstigem und gemeinnützigem Wohnraum formuliert, von dem wir noch immer weit entfernt sind. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Stadt mehr Boden aufkaufen. Das Vorkaufsrecht ist eine politische Möglichkeit, das zu erreichen. Durch dieses könnte die Stadt als Erstes zugreifen, wenn Boden zum Verkauf steht. Oder man verpflichtet private Bauherr:innen dazu, einen fixen Prozentsatz preisgünstiger Wohnungen zu bauen. Jedenfalls muss die Stadt ihren Handlungsspielraum irgendwie ausdehnen. Das Recht auf Wohnen steht in der Menschenrechtskonvention. Und Wohnungssuchende sind nun mal keine Konsument:innen auf einem Markt. Wohnen ist ein Grundbedürfnis, es steht uns nicht frei, den Markt zu verlassen und zu sagen: «Ich miete heute nichts.»
Gab es solche Ideen und Vorstösse auch früher schon?
Die Idee von Mindeststandards im Wohnbereich und einer Bodenreform gibt es in Zürich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als man gegen das Elend in der Stadt vorgehen und soziale Reformen umsetzen wollte. Das war ursprünglich nicht einmal eine explizit linke Idee.
Ausgelöst durch das Elend des Ersten Weltkriegs, die kommunistische Revolution in Russland und den Landesstreik 1918 gab es in Zürich ab den 1920er-Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg eine starke linke Mehrheit und das sogenannte Rote Zürich. Viele städtische und genossenschaftliche Siedlungen stammen aus dieser Zeit.
In den 50er- und 60er-Jahren wurde dann fleissig weitergebaut, hauptsächlich privat.
Der Auslöser dafür war die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Gesellschaft war die Ansicht, dass man viel bauen musste, damals sehr breit akzeptiert. Atomkraftwerke, Autobahnen und moderne Siedlungen entstanden. Man wollte den Mief der Vormoderne hinter sich lassen.
Bis die Stadtzürcher Bevölkerung im Jahr 1962 ihren vorläufigen Höchststand erreichte und wieder zu sinken begann.
Damals machte das Schlagwort der Stadtkrise die Runde. Die Städte drohten zu veröden, im Autoverkehr zu ersticken. Es gab noch keine Verkehrsberuhigungen, kaum alternative Kultur, in den Parks galt «Rasen betreten verboten».
Vieles von dem, was in den Jahrzehnten davor gebaut wurde, erschien plötzlich hässlich und überdimensioniert. Man trauerte den Ökosystemen nach, die überbaut worden waren, und den Kulturgütern, die der Abrissbirne zum Opfer gefallen waren.
Jene, die es sich leisten konnten, zogen in die neuen Überbauungen in der Agglomeration. Zurück in der Stadt blieben die Alten, Armen, Arbeitslosen und Ausländer:innen – der Ökonom René Frey prägte dafür den Begriff der «A-Stadt».
2022 wurde die Bevölkerungszahl aus dem Jahr 1962 erstmals übertroffen, gemäss allen Prognosen wird die Stadt weiter wachsen. Droht uns eine nächste «Stadtkrise»?
Die Situation heute hat andere Vorzeichen als in den 1960er-Jahren: Die Leute ziehen in die Stadt hinein, statt aus ihr heraus. Das hat mit der gestiegenen Attraktivität des urbanen Lebensstils zu tun und ist auch politisch gewollt. Denn nur so kann die Zersiedlung bekämpft, lange Pendelstrecken reduziert, Naturlandschaften und Landwirtschaftsflächen erhalten werden.
Deshalb schiessen die Mietpreise aktuell auch so durch die Decke?
Vermieter:innen sagen oft, sie müssten aufgrund der Bodenpreissteigerungen so viel Miete verlangen. Und die Bodenpreise steigen, weil sich aus ihm Profit schlagen lässt und er als Investitionsanlage dient. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich der Quadratmeterpreis in der Stadt Zürich ungefähr vervierfacht.
Dabei weisen Ökonom:innen immer wieder darauf hin, dass der Boden keine herkömmliche Ware ist, sondern eine begrenzte Ressource, die sich nicht vermehren lässt.
Ironischerweise tragen vor allem die Aufwertungsmassnahmen der Stadt wie Velowege, Begrünungen und Kulturangebote zur Bodenpreissteigerung bei.
Was können Mieter:innen heute konkret gegen steigende Mieten tun?
Man muss sich über die eigenen Rechte informieren, sich nicht einschüchtern lassen, wählen – wenn man denn darf – und sich idealerweise selbst politisch einsetzen. Der demokratische Weg über Initiativen ist zentral, auch Vernetzungsarbeit über politische Gräben hinweg ist extrem wichtig. Und der Mieter:innenverband und das Mietenplenum sind wichtige Adressen.
Kämpfe wie um die Sugushäuser schaffen auch politische Sichtbarkeit und sind für die Problemwahrnehmung sehr wichtig. Die Stadt und die Politik brauchen den Druck von der Strasse.
Im Wohnbrief vom 03. Juni findest du News und Tipps zu Wohnthemen in Zürich.
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch