Was folgt auf Velo-Caprez im Kreis 5? «Es wäre verheerend, wenn in solche Erdgeschosse Büros reinkommen»

Was kommt nach Velo-Caprez? Seit Monaten steht das Erdgeschoss im Langstrassenquartier leer – und damit ist es nicht alleine. Wer hoffte, dass die neue Mieterschaft das Quartier beleben werde, wird wohl enttäuscht: Unsere Recherchen zeigen eine Entwicklung, die der Stadtsoziologe Christian Schmid als «absolut verheerend» kommentiert.

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Tschüss Velos: Die Luisenstrasse 29 steht seit Ende Juni 2021 leer. (Bild: Alice Britschgi)

Sie ist nur eine Kreuzung. Eine von vielen im Langstrassenquartier. Die Ecke, an der sich Josefstrasse und Luisenstrasse gute Nacht sagen. Für Hanspeter Caprez aber war sie die eine Kreuzung. Die eine Kreuzung, an der er einen Grossteil seines Lebens verbrachte.  Über 40 Jahre lang und bis zu seinem Tod im März 2021 führte er hier an der Luisenstrasse 29 seinen kultigen Velo- und Elektroladen – wenige Schritte weiter an der Josefstrasse 104 ein zweites Geschäft für Elektronik, das es vor einem Jahr gar in unsere Liste der skurrilsten Zürcher Läden schaffte.

«Der Veloladen war sein Ein und Alles», sagt Brigitte Tommasini-Caprez über das Lebenswerk ihres Vaters. Als dieser starb, ging sie über die Bücher und merkte schnell, dass das Geschäft nicht rentierte. Tommasini-Caprez löste den Mietvertrag mit der Verwaltung Zivag AG auf. Ärgerlich findet sie, dass sie für die Säuberung des Lokals extra eine Putzfirma anstellen und jedes Loch in der Wand zuspachteln musste, obwohl die Räumlichkeiten nun schon monatelang leer stehen und jetzt saniert werden.

Leer: Was nun?

Wo noch vor einem Jahr kein Zentimeter freistand und sich Zweiräder und Kabelrollen den Platz streitig machten, herrscht heute tatsächlich Leere. Roher Beton, die offengelegte Deckenkonstruktion aus Holz und Stahl, ein verlorener oranger Schlauch: Ein Blick in das Innere des ehemaligen Ladenlokals macht das Hallen leerer Räume visuell greifbar.

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Innen leer, aussen belebt: Das Lokal befindet sich an bester Lage. (Bild: Alice Britschgi)

Schon seit Ende Juni 2021 ist das Erdgeschoss an bester Lage unbelebt. Das ganze Quartier fragt sich: Was folgt? In den Schaufenstern hängen A4-Blätter, die sagen: «Vermietet». Aber an wen? 

Kreuzung im Wandel

Im Restaurant Santa Lucia, das in einem weiteren Eckhaus der Kreuzung seit 1965 Pizzen im Holzofen backt, weiss man von nichts: «Niemand weiss, was kommt», meint ein Kellner in weissem Hemd und schwarzer Schürze. Die Pizzeria ist flankiert von leeren Lokalen. Denn der ehemalige Velo-Caprez ist nicht die einzige Räumlichkeit an der Kreuzung, die leer steht.

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Last One Standing: Die Steinofen-Pizzeria Santa Lucia harrt an der Kreuzung Josef-/Luisenstrasse aus. (Bild: Alice Britschgi)

Auch das Erdgeschoss der diagonal gegenüberliegenden Josefstrasse 112, wo es bis vor Kurzem Sushi gab, ist verlassen. Das japanische Restaurant Yooji’s musste im Dezember 2021 nach elf Jahren seine Türen schliessen. Wie Anna Delli Santi, Marketing- und Kommunikationsleiterin des Gastronomieunternehmens Two Spice AG, dem das Restaurant angehörte, berichtet, habe sich die Gastroszene im Quartier verändert. Die Pandemie sei das Tüpfelchen auf dem i gewesen. Wer das Lokal als Nachmieter:in übernimmt, weiss auch Delli Santi nicht. 

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Nach elf Jahren leer: das Erdgeschoss der Josefstrasse 112. (Bild: Alice Britschgi)

Bleibt noch ein Eckhaus der Kreuzung Josef-/Luisenstrasse: die Josefstrasse 107. Think outside the box – heisst es da im Schaufenster. Hinter den Glasscheiben ist Rionero Design zu Hause, eine Agentur für digitale Kommunikation. Im selben Haus hat sich zudem ein Kosmetikstudio eingenistet. Aber war da nicht was? Etwas mit rot-orangen Stoffmarkisen und Glace-Tafeln? Doch klar: Pinto’s Kiosk. Die Agentur Rionero ist noch nicht lange heimisch an der Kreuzung. Laut dem Handelsregister des Kantons Zürich verlegte die Agentur im Februar 2021 ihr Domizil aus dem Kreis 7 in den Kreis 5. Der  Kiosk, der laut Handelsregister seit 2010 an der Ecke als Einzelunternehmen bestand, musste also Büroräumlichkeiten weichen.

Mehr Büros für den Kreis 5?

Einmal um die Kreuzung, nun zurück zu Velo-Caprez. Wie unsere Recherchen ergeben haben, blüht der Luisenstrasse 29 dasselbe wie der Josefstrasse 107. Aus sicheren Quellen geht hervor, dass im ehemaligen Veloladen ein Büro entstehen soll. Die potentielle Mieterschaft und die Verwaltung Zivag AG sollen sich inmitten der Vertragsverhandlungen befinden. 

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«Vermietet», sagen die Schaufenster. (Bild: Alice Britschgi)

Auf Anfrage, wieso man sich an dieser zentralen Lage für Büroräumlichkeiten entschieden habe, ist von Seiten der Zivag AG zuerst von einem «internen Entscheid» die Rede, der unter anderem auf einen Mietermix zurückzuführen sei. Noch sei jedoch kein Vertrag unterschrieben. Die potentielle neue Mieterschaft bestätigt dies auf Anfrage, möchte im Text jedoch nicht genannt werden. Die Zivag-Bewirtschafterin des Gebäudes dementiert das Gesagte jedoch noch im selben Telefonat. Das Erdgeschoss der Luisenstrasse 29 sei im Leerstand, noch mitten in der Sanierung. Es gebe noch keine Mietverträge, man könne dazu nichts sagen. Vor Mitte Jahr werde nichts passieren. Und zudem würde das Ganze doch niemanden interessieren.

Das stimmt so nicht ganz.

«Man muss sich bewusst sein, dass die Läden im Langstrassenquartier nicht nur Läden sind, sondern auch Treffpunkte von Communities»

Christian Schmid, Professor für Soziologie am Architektur-Departement der ETH

Nicht nur Läden, sondern auch Treffpunkte

Christian Schmid ist Professor für Soziologie am Departement für Architektur der ETH. Seit 20 Jahren untersucht er in seinen Forschungsseminaren, wie Stadträume genutzt werden und was das für die Bevölkerung bedeutet. «Käme wirklich ein Büro in das ehemalige Lokal des Velo-Caprez, wäre das eine ziemliche Katastrophe», meint Schmid und erklärt: «Man muss sich bewusst sein, dass die Läden im Langstrassenquartier nicht nur Läden sind, sondern auch Treffpunkte von Communities.» Das gehe aus seinen Studien eindeutig hervor. Diese Strukturen seien nicht nur für das Quartier wichtig, sondern für die ganze Stadt, aus deren anderen Quartiere die Leute deshalb an die Langstrasse kämen.

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Josefstrasse 107: Im Blockhaus, wo heute ausserhalb der Box gedacht wird, kaufte man früher dieses und jenes. (Bild: Screenshot Zobrist & Räbsamen AG)

Der einzigartige Charakter des Langstrassenquartiers ist historisch bedingt. Ende des 19. Jahrhunderts habe die Stadt entlang der Langstrasse im Kreis 4 und 5 und bis in den Kreis 3 hinein ein Strassenraster festgelegt, so Schmid. Private bauten entlang der so entstandenen Strassen Häuser im Blockrandtypus. Blockrandhäuser zeichnen sich durch einen Innenhof und etwa vier Stockwerke aus. Noch heute ist dieser Bebauungstypus im Langstrassenquartier dominant. Der grosse Vorteil dieser Häuser sei das Erdgeschoss mit einer Höhe von 3.5 bis 4 Metern, in dem man Läden und Restaurants unterbringen könne, führt Schmid aus.

Noch kein Trend

Das Ausmass der Gentrifizierung im Kreis 5 entwickle sich so, wie die Wissenschaft immer vorausgesagt habe, sagt Schmid: «Jetzt geht es ans Lebendige.» Dass die Erdgeschosse der Blockrandbebauungen nun zu Büros umgewandelt würden, nahm der Stadtsoziologe bis anhin noch nicht als Trend wahr. Doch er betont: «Wenn es nun aber anfängt, dass in diese bis anhin auch von der Öffentlichkeit genutzten Erdgeschosse Büros reinkommen, wäre das verheerend.» Gerade im Langstrassenquartier sei das absolut zerstörerisch: «Man müsste das effektiv gesetzlich verbieten», sagt Schmid.

Was für Kreuzungen wollen wir?

Die Kreuzung Josef-/Luisenstrasse ist nur eine von vielen im Langstrassenquartier. Was sie mal war, das weiss Google Maps. Street View macht einen Spaziergang durch die nicht allzu weit entfernte Vergangenheit möglich – vorbei an Kiosk, Veloladen und Sushi-Restaurant.

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Google Street View erinnert sich: Das war der Velo-Caprez. (Bild: Screenshot Google Street View)

Was die Kreuzung mal wird, das lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Die Eröffnung von Büros in den Erdgeschossen der Blockrandhäuser mag noch nicht als Trend erkennbar sein. Doch ein Büro mehr als früher gibt es an der Kreuzung jetzt schon. Dass ein zweites hinzu kommt, ist sehr wahrscheinlich. Die Ecke des ehemaligen Velo-Caprez bietet Anlass, darüber nachzudenken, was für Kreuzungen wir im Langstrassenquartier wollen.

Brigitte Tommasini-Caprez hat eine klare Meinung dazu. Ein Büro im Lokal, wo früher der Velo-Caprez war, das fände sie schade. Die Zukunft des kleineren Ladens an der Josefstrasse 104 nimmt sie selbst in die Hand. Gemeinsam mit ihrem Mann und als Quereinsteigerin plant sie im ehemaligen Elektro-Caprez einen Veloladen. In Gedenken an ihren Vater. Und vielleicht auch ein wenig an die Kreuzung. Die eine Kreuzung.

2022-02-08 Alice Britschgi 2

Das mache ich bei Tsüri: Denken, lesen, zuhören, schreiben, andere und mich selbst hinterfragen. 

Das mache ich ausserhalb von Tsüri: Cappuccino trinken oder an Cappuccino denken. 

Über diese Themen schreibe ich am liebsten: Kurliges. Menschen –  ihre Geschichten und Gedanken. Alles, was mit dem Tod zu tun hat und also mit dem Leben. 

Darum bin ich Journalistin: Des Schreibens wegen: lockerer als an der Uni und deeper als in der Werbung. Zudem höre ich mir gerne Geschichten an und interessiere mich für fast alles – aber meistens nur auf Zeit. Perfekt.

Das mag ich an Züri am meisten: Dass klares Wasser auf Beton trifft. Es lebe das Stadt-Bädele.

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