Von den sozialen Medien ins Therapiezimmer – und zurück
Lange Zeit wurden psychische Erkrankungen tabuisiert, das scheint sich nun langsam zu ändern. Ein Grund dafür ist auch der offene Umgang damit in den sozialen Medien. Die beiden Mental-Health-Aktivist:innen Ladina Bosshard und Simone Fasnacht sowie die Slam-Poetin Lisa Christ machen es vor.
Lisa Christs aktuellen Gesundheitszustand – sie ist von Long Covid betroffen – bekomme ich durch Instagram mit und auch wenn wir uns nicht kennen, hoffe ich, dass es ihr bald besser geht. Um Jacqueline Badran, die vor gut einem Jahr eine von ihrem Hausarzt verschrieben Auszeit ankündigte, machte ich mir kurz Sorgen. Die vielen «Abwehrkämpfe» der vergangenen Jahre hätten der Zürcher SP-Nationalrätin physisch und psychisch zugesetzt, schrieb sie damals auf Facebook.
Oder Manuel Weingartner, der Kopf hinter dem Twitter-Profil Jardinduvin, verabschiedete sich vergangenen Sommer vorübergehend von den sozialen Medien. Weingartner verkündete, dass er Zeit für sich und seine von Long-Covid betroffene Familie brauche. Als er sich zurücktweetete, sprach er über seine Erschöpfungsdepression.
Auch Menschen, die Flugzeugabstürze überleben, sich um keinen Spruch in den Sozialen Medien zu schade sind oder auf der Bühne bitterböse Witze reissen, brauchen mal eine Auszeit. Das ist nicht neu. Neu ist vielleicht, dass sie öffentlich darüber sprechen. In den Sozialen Medien erzählen immer mehr Menschen – auch weniger bekannte wie Badran, Christ oder Weingartner – von ihrem Liebeskummer, von ihren Downs, aber auch von ernsthaften Erkrankungen wie Angstzuständen oder Depressionen. Und kürzlich ging die erste Schweizer Tiktok-Serie «Stabil» online, initiiert von Zürcher Student:innen. Die Serie kombiniert Doku und Fiktion und begleitet eine junge Frau, die an einer sozialen Phobie erkrankt ist. Ziel des Projekts ist es laut den Macher:innen, Bewusstsein für soziale Ängste zu schaffen und Berührungsängste im Umgang mit psychischen Erkrankungen abzubauen.
Eine, die sich ebenfalls für diese Enttabuisierung einsetzt, ist Simone Fasnacht. Sie hat das Netzwerk «Madnesst» gegründet. Ein Netzwerk von Mental-Health-Aktivist:innen, die sich für die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen einsetzen. Sie organisieren Events, sind auf Social Media präsent und bringen Betroffene zusammen.
Fasnacht selbst lebt seit Jahren mit einer psychischen Krankheit – oder mit «psychischen Krisenerfahrungen, die zu psychischen Neuorientierungen geführt haben», wie sie es benennt. Psychiater:innen sprechen von einer schizoaffektiven Störung.
«Von uns gibt es viele. Menschen mit Krisen sind überall.»
Simone Fasnacht
Den Schritt in die Öffentlichkeit gemacht hat sie, weil sie zutiefst einsam und verzweifelt war. Menschen aus ihrer Vergangenheit sollten ihr verzeihen, was und wie sie in ihrer «psychisch kranken Realität» gedacht, gefühlt und gehandelt hatte. Durch ihre Arbeit wurde ihr bewusst, dass sie nicht alleine ist. «Von uns gibt es viele. Menschen mit Krisen sind überall.» Laut dem BAG sind in der Schweiz im Laufe eines Jahres bis zu einem Drittel der Bevölkerung von einer psychischen Krankheit betroffen. Damit gehören psychische Krankheiten zu den am meisten verbreiteten Erkrankungen überhaupt. Sie treten in jeder Lebensphase und in allen Gesellschaftsteilen auf. Nur sind sie nicht sichtbar.
Das Internet vergisst nicht
Fasnacht ist durch ihre Diagnose zur Aktivist:in geworden. An Veranstaltungen wie auch jener von Tsüri.ch am 28. Februar spricht sie öffentlich über ihre Diagnose und ihren Weg. «Ich repräsentiere Madnesst in der Öffentlichkeit. Für mich gibt es kaum noch Tabus. Meine Krise ist heute meine Ressource und das ist ein riesiges Privileg», sagt sie.
Es sei befreiend, offen über seine psychische Verfassung zu sprechen. Dass sich ein solches gesellschaftliches Outing aber längst nicht alle Betroffenen leisten können, ist ihr bewusst. Spricht man öffentlich über seine Diagnose, kann das nicht mehr rückgängig gemacht werden und es können Probleme – etwa bei der Arbeit – entstehen. «Wenn man mich googelt, findet man jenes über mich. Es steht geschrieben», fasst sie zusammen und rät: «Wägt sehr gut ab, ob, wo und wieso ihr über eure Krise in der Öffentlichkeit sprechen wollt.»
Auf der Bühne Instagram: Lisa Christ
Slam-Poetin Lisa Christ spricht in ihren Bühnenprogrammen ehrlich über Liebe, Gefühlszustände und Krisen, aber auch auf ihrem Instagram-Profil. Den Schritt, öffentlich über ihre Gefühle zu sprechen, bereut sie nicht. Sie fühlt sich stärker: «Ich bin mir meiner Schwächen bewusst und schäme mich nicht dafür. Also kann mich auch niemand damit aufziehen oder blossstellen.»
Ihre Arbeit bewegt sich entlang der Grenzen von Privatem, Gesellschaft und Politik. Sie spricht über das, was sie beschäftigt. Mal ist es die Trennung von ihrem Partner, mal ist es ein politisches Ereignis, mal ist es Long Covid. «Durch das Schreiben und Teilen auf meinem Instagram-Kanal versuche ich, mein Erleben in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzuordnen», sagt sie. Denn individuelle Ereignisse seien zwar einzigartig, hätten ihren Ursprung aber oft im gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Christ sieht in der heutigen Zeit die Sozialen Medien als ein wichtiges Tool, um Tabus zu brechen und auf Missstände aufmerksam zu machen. Sie nennt als Beispiel die #MeToo- und die Black-Live-Matters-Bewegung. Dass eine soziale Bewegung durch einen Hashtag an Fahrt aufnimmt, sei ein grosser Vorteil von Social Media. «Das gibt vielen Menschen eine Stimme, die nicht in den bisher etablierten Machtpositionen sitzen. Und es fördert ein Bewusstsein dafür, wie weit wir es bringen können, wenn wir uns solidarisch zeigen und uns zusammenschliessen», so die Bühnenkünstlerin.
«Psychische Erkrankungen sind eine viel kollektivere Erfahrung, als wir meinen.»
Lisa Christ
Und wieso Christ vom Thema psychische Gesundheit bei sozialen Bewegungen landet? «Psychische Erkrankungen sind eine viel kollektivere Erfahrung, als wir meinen», sagt sie, «ein kollektives Bewusstsein und eine gesamtgesellschaftliche Trauma-Aufarbeitung findet noch nicht statt.» Mit ihren Texten hofft sie, dort ansetzen zu können.
Auf Social Media für sich und für andere
Unter Hashtags wie #mentalhealth, #psychischegesundheit und #mentalillness findet man diverse weitere Mental-Health-Aktivist:innen. Eine von ihnen ist die Zürcherin Ladina Bosshard.
Die 22-jährige Autistin spricht auf ihrem Instagram-Profil «mein.konfetti.regen» über Selbstverletzung, Medikamentenknappheit und über ihre Klinikzeit. Sie will Betroffenen Mut machen und signalisieren, dass sie nicht alleine sind. Sie habe schon viele Therapien und Klinikaufenthalte hinter sich und will anderen zeigen, dass es – auch wenn man «sehr tief gefallen ist» – möglich ist, ein lebenswertes Leben zu erkämpfen. «Ich spreche über meine Behinderungen, damit die Menschen verstehen, dass ich trotzdem ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft bin und ich mich deswegen weder verstecken noch verstellen muss», sagt sie.
Spricht man in den Sozialen Medien über psychische Erkrankungen, macht man sich verletzlich. Aber die Betroffenenperspektive sei wichtig. «Für eine erfolgreiche Entstigmatisierung braucht es einen Trialog zwischen Fachpersonen, Angehörigen und eben uns Betroffenen», sagt Bosshard.
Es sei ein zweischneidiges Schwert. Ihr Aktivismus helfe ihr in ihrem eigenen Verarbeitungsprozess, gleichzeitig will sie auch andere Betroffene erreichen. Und den Gefahren, die auf Plattformen wie Instagram lauern, ist sie sich durchaus bewusst. Trotzdem müsse man aufpassen, welchen Profilen man folgt, denn es kursierten ihr zufolge auch sehr viele Falschaussagen oder pseudowissenschaftliche Informationen.
Ein düsterer Algorithmus
Der Algorithmus steuert, was wir konsumieren. Folgt man Mental-Health-Accounts, schnappt die Falle sogleich zu. Er spült einen in zig Posts mit düsteren aber auch empowernden Captions in die Timeline. Auf einmal sind alle ein bisschen «depri» und gehen in Therapie.
Fasnacht hat Mühe mit der Aussage, «auf einmal sind alle depressiv». Es sei ein Unterschied, ob man eine Diagnose hat oder eben nicht. «Hast du eine Diagnose, dann wirst du zusätzlich mit Selbst- und Fremdstigmatisierung konfrontiert und läufst tendenziell Gefahr, aus dem System zu fallen. Der Leidensdruck ist oft so hoch, dass du nicht mehr funktionieren kannst», sagt sie. Sie legt daher viel Wert auf einen sensiblen Sprachgebrauch. «Sag nicht, du bist depressiv, wenn du keine Depressionen hast. Wenn alle, die traurig oder niedergeschlagen sind, von Depressionen sprechen, dann verkennt das den Leidensdruck von Betroffenen.»
Und dass ein düsterer Algorithmus, Betroffene noch mehr nach unten zieht, verneint sie. Sie vertritt folgende Perspektive: «Wir sind dem nicht per se schutzlos ausgesetzt. Auch wenn ich in einer Krise stecke, kann ich noch Tools zum Entscheiden besitzen, was ich konsumieren will und was nicht», so Fasnacht. «Grundsätzlich sollte uns so viel wie möglich Eigenverantwortung zugetraut werden.»
Das Smartphone als Therapiezimmer
In meinem Instagram-Feed tummeln sich nun immer mehr Menschen, die über ihren mentalen Zustand sprechen. Die einen haben eine Diagnose, wie etwas Bosshard oder Fasnacht, andere nicht. Und es wundert mich kaum, dass sich Smartphones in eine Art Therapiezimmer verwandeln. Bedenkt man, wie viel Zeit wir online verbringen und gleichzeitig wie schwer es ist, derzeit an einen Therapieplatz zu kommen – der Blick schrieb kürzlich von Wartezeiten in Zürich von bis zu einem Jahr.
Soziale Medien können eine Psychotherapie aber nicht ersetzen. Das steht ausser Frage. Aber wenn Politiker:innen, Bühnenkünstler:innen und Mental-Health-Aktivist:innen ehrlich über ihren mentalen Zustand sprechen, dann entstigmatisiert, enttabuisiert und vernetzt das.
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