Zahnlose Tempo-30-Zonen: Wo Kontrollen fehlen, regiert der Bleifuss
Tempo-30-Zonen sollen Stadtzürcher Strassen sicherer und leiser machen. Nur: An das Geschwindigkeitslimit halten sich viele Automobilist:innen nicht, wie Auswertungen unseres Kolumnisten Thomas Hug-Di Lena zeigen.
Ein paar Schlagzeilen aus den letzten Monaten gefällig? Das Newsportal Nau titelte über die neue Verkehrsanordnung am Escher-Wyss-Platz im Juni «Zürcher pfeifen auf neues Tempo 30». Die NZZ beklagte sich kürzlich über «den Bussen-Hotspot» auf dem Tempo-30-Abschnitt an der Wasserwerkstrasse.
Sogar in Österreich wurde über den «Blitzer-Wahnsinn im Minutentakt in Zürcher 30er-Zone» in Albisrieden berichtet. Und beim neuen Regime an der Thurgauerstrasse schreibt 20 Minuten darüber, dass 90 Prozent der motorisierten Fahrzeuge weiterhin 50 Kilometer pro Stunde fuhren.
Was punktuell für Schlagzeilen sorgt, lässt eine unschöne Vermutung aufkommen: Es werden zwar neue Tempo-30-Zonen installiert – so richtig respektiert werden diese aber nicht.
Bisher fehlt ein ganzheitliches Bild, wie gravierend die Verstösse tatsächlich sind. Denn offensichtlich lässt sich nicht das ganze Strassennetz dauerhaft überwachen.
Anhand von Daten aus Navigationssystemen, lässt sich erkennen, wo besonders oft das Tempolimit überschritten wird. Diese Daten stellen einzelne Provider als aggregierte Geodaten zur Verfügung, um Erkenntnisse zum Verkehrssystem zu gewinnen – in folgenden wurde der August 2024 ausgewertet.
Einigermassen schockierend: Es ist keine Seltenheit auf Zürcher Strassen, dass fast jedes zweite Auto schneller fährt, als das Tempolimit erlauben würde.
Dass es auf den Autobahnen bekannterweise fast zum guten Ton gehört, die gefahrene Geschwindigkeit und den Toleranzbereich maximal auszureizen, ist nichts Neues. Aber auch in der Stadt gibt es deutliche Problemzonen.
Die Baslerstrasse
Auf den Velovorzugsrouten wird systematisch der Rechtsvortritt abgebaut, damit Velos darauf flüssig fahren können. Allerdings sind auf diesen Routen entgegen den Versprechungen der Velorouten-Initiative auch weiterhin Autos unterwegs.
Diese scheinen die Einladung gerne anzunehmen: Sie fahren schneller als erlaubt. Exemplarisch zeigt sich dies an der Baslerstrasse und dem Letzigraben, wo auf weiten Teilen mehr als jede zehnte Person zu schnell fährt.
Die Hardturmstrasse
Die Hardturmstrasse ist keine unbekannte Temposünderin. Immerhin stehen da oft Blitzer oder leuchtende Smileys, die auf die eigene Geschwindigkeit hinweisen (übrigens zeichnen auch diese Smileys die gefahrenen Geschwindigkeiten auf – nur gibt es dann noch keine Busse).
Als dies nicht wirklich half, installierte die Stadt vier Engstellen, die vor allem bei Velofahrenden für Verwirrung sorgten. Zum Ziel führte auch das noch nicht: Weiterhin wird deutlich zu schnell gefahren.
Die Hanglagen
Besonders augenfällig werden die Geschwindigkeitsübertretungen an den Hanglagen nördlich der Limmat. Hier wurden in den letzten Jahren einige Tempo-30-Strecken umgesetzt: 2022 auf der Nordstrasse, 2023 auf der Hönggerstrasse und 2018 auf der Breitensteinstrasse.
Leider wird Tempo 30 aber eher schlecht als recht eingehalten. Ein Blitzer an der Limmattalstrasse dürfte dem «Blitzer-Wahnsinn» aus Albisrieden locker Paroli bieten.
Natürlich stellt sich bei der ganzen Analyse die Frage, wie viele Übertretungen in Kauf genommen werden müssen. Doch die Realität der Tempo-30-Zonen in Zürich offenbart ein ernsthaftes Vollzugsproblem. Die systematischen Geschwindigkeitsübertretungen, besonders an neuralgischen Punkten, zeigen deutlich, dass die blosse Einführung von Tempo-30-Zonen nicht ausreicht. Für eine wirkungsvolle Umsetzung braucht es griffige Massnahmen:
- Bauliche Anpassungen: Die Strassenräume müssen so umgestaltet werden, dass sie langsames Fahren begünstigen – etwa durch Verengungen, vertikale Versätze oder andere Elemente, welche die Geschwindigkeit reduzieren.
- Stationäre Blitzer: Statt punktueller Blitzer-Aktionen sollten die vorhandenen Daten genutzt werden, um die Blitzer dauerhaft dort einzusetzen, wo die Übertretungen besonders häufig sind. Denn sobald die mobilen Blitzer abgebaut sind, verpufft ihre Wirkung nach wenigen Tagen.
- Kommunikation: Die Akzeptanz von Tempo 30 muss durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit erhöht werden. Dabei sollten die positiven Effekte für Verkehrssicherheit und Lebensqualität stärker in den Vordergrund gestellt werden.
Die aktuelle Situation untergräbt nicht nur die Glaubwürdigkeit der städtischen Verkehrspolitik, sondern gefährdet auch die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden. Dann liegt plötzlich eine radikalere Lösung auf der Hand: Generelles Tempo 30 innerorts – klar, einfach und für alle verständlich.
Doch bis es so weit ist, werden wir wohl weiter Schlagzeilen über «Blitzer-Wahnsinn» und «Bussen-Hotspots» lesen. Die Ironie dabei: Ein Blick auf den Tacho würde in vielen Fällen mehr bewirken als markige Schlagzeilen in den Zeitungen.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Natürlich jederzeit kündbar.