Drittes Geschlecht: Ein «Nemo-Effekt» wäre möglich

Die Schweiz schmückt sich mit Nemos Sieg am Eurovision Song Contest, doch lehnt die Einführung eines Geschlechts für non-binäre Menschen ab. Ganz schön scheinheilig, findet Redaktorin Lara Blatter. Ein Kommentar.

Eurovision Song Contest Nemo 2
Die Gefahr, denen queere Menschen – insbesondere trans und non-binäre Personen – ausgesetzt sind, ist echt. (Quelle: Lars Lundqvist / Arkland)

I went to hell and back

To find myself on track

I broke the code

Mit diesen Zeilen gewann Nemo den Eurovision Song Contest (ESC) und begeisterte vergangenen Freitag das Publikum im Rahmen der Pride auf der Landiwiese. Zürich zeigte sich dieses Wochenende mal wieder von einer bunten Seite. Der Schein trügt, denn die Schweiz ist ein queerfeindliches Pflaster. Das zeigt beispielsweise der Vorfall von Samstag: Eine Gruppe Rechtsextremer mischte sich unter die Pride. Die Gruppe war mit einem Motorboot im Zürcher Seebecken unterwegs und verteilte mit einer Drohne Flugblätter mit homophoben Inhalten. 

Auch Performance-Künstler:in Edwin Ramirez erzählte letzte Woche auf Tsüri.ch von einem Übergriff, den Ramirez «in dieser Heftigkeit zum ersten Mal erlebt hat». Queere Menschen sind in unserer Gesellschaft Diskriminierungen, Bedrohungen und Angriffen ausgesetzt. 

Gleichzeitig ist die ganze Schweiz seit Wochen im Nemo-Fieber und diverse Grossstädte weibeln für den Zuschlag, den nächsten ESC ausführen zu dürfen. Queerness interessiert die breite Masse dann, wenn man sich damit schmücken kann, wenn es glitzert und sie sich im besten Fall noch lukrativ vermarkten lässt. Doch geht es um die Sicherheit der queeren Bevölkerung, dann zeigen wir uns von einer weniger charmanten Seite.

Grundlegende Rechte fehlen und der Wille, dies zu ändern, ist nicht gerade gross. Erst im Dezember meinte der Bundesrat, dass die «gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines dritten Geschlechts noch nicht gegeben sind». Aktuell kennt die Schweiz also kein amtliches drittes Geschlecht. Nemo existiert also offiziell nicht. Zwar hat Justizminister Beat Jans nach Nemos Sieg signalisiert, dass er für ein Gespräch offen sei.

Einige sehen dies bereits als Zugeständnis der Schweiz, doch eine neue Tamedia-Umfrage zeigt: Die Bevölkerung lehnt die Einführung eines dritten Geschlechts ab. 57 Prozent der rund 12’400 Befragten sprechen sich dagegen aus. 

Während die Ablehnung in allen Altersgruppen etwa gleich hoch ist, wirkt sich die parteipolitische Ausrichtung stark auf die Meinung zum dritten Geschlecht aus. SP, Grüne und Grünliberale sprechen sich mit bis zu zwei Dritteln klar dafür aus. Mit über 80 Prozent ist die Ablehnung dagegen bei Anhänger:innen der SVP am stärksten. Bei der FDP sind zwei Drittel dagegen, bei der Mitte knapp 60 Prozent. 

Was die Umfrage ebenfalls zeigt: Menschen, die in Städten leben, befürworten das dritte Geschlecht eher als Menschen, die auf dem Land leben. Auch Personen mit Uni-Abschluss sind eher dafür, Personen mit Volksschulabschluss und Berufslehre eher dagegen.

Man könnte jetzt behaupten: Ungebildete Menschen auf dem Land seien das Problem. Das wäre aber zu kurz gegriffen und unfair. Vielmehr fehlt es wohl an Bewusstsein für die Lebensrealitäten von anderen. Denn Sensibilität kommt mit Berührungspunkten und diese fehlen an vielen Orten. «Oftmals kann Wissen über ein Thema helfen, Sorgen und Befürchtungen abzubauen, und man kann sich dann den wirklich spannenden Fragen mit Neugier und Empathie zuwenden», sagt Tiziana Jäggi, Postdoktorandin der Universität Freiburg, die zum Thema forscht. 

«Nemo ‹went to hell and back›. Das sollte kommenden Generationen erspart bleiben.»

Lara Blatter

Im Nachgang zur Umfrage titeln nun viele Medien «Sogar junge Menschen sind dagegen» und sprechen von keinem «Nemo-Effekt». Doch dieser wäre möglich, wenn junge und alte Menschen, Menschen in Städten und Menschen auf dem Land mit Inhalten, die Verständnis vermitteln, konfrontiert werden – und nicht mit reisserischen Titeln, die nur auf Klicks aus sind und Unverständnis schüren. 

Schlussendlich schmerzt es uns nicht, einer Minderheit Rechte zuzugestehen und sie sichtbar zu machen. Doch es hat Schweizer Tradition, dass grundlegende Rechte leider viel Zeit brauchen: Ich erinnere an das Frauenstimmrecht oder an die Ehe für alle. 

Statt scheinheilig einen Sieg zu feiern und für uns zu verbuchen, wäre es doch ein wichtiges Zeichen Nemos Sieg, als Sieg für non-binäre Menschen zu werten. Nemo «went to hell and back». Das sollte kommenden Generationen erspart bleiben. Fangen wir doch bei der Anerkennung von trans und non-binären Menschen an. 

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