Der Tod von Nzoy: Untersuchung belastet die Polizei

Am 30. August 2021 wurde Roger «Nzoy» Wilhelm von der Polizei erschossen. Neue, detaillierte Analysen stellen die ursprünglichen Ermittlungen infrage und werfen ein kritisches Licht auf das Handeln der Polizei.

Der getötete Roger Nzoy Wilhelm
Roger «Nzoy» Wilhelm wurde im Alter von 37 Jahren getötet. (Bild: Nzoy Commission)

Roger «Nzoy» Wilhelm wurde am 30. August 2021 in Morges von der Polizei erschossen. Vier Jahre später sind die genauen Umstände, die zu seinem Tod führten, immer noch nicht geklärt. Eine heute veröffentlichte Untersuchung, die in Zusammenarbeit zwischen Border Forensics und der «Nzoy Commission» durchgeführt wurde, belastet nun die beteiligten Polizist:innen schwer.

Laut dem Bericht des Recherchebüros Border Forensics habe Nzoy keine Gefahr für andere dargestellt und seine Erschiessung sei ungerechtfertigt gewesen. Der Bericht legt im Gegensatz zu den Polizeiaussagen nahe, dass sich Nzoy nicht auf die Polizisten zubewegte, sondern sich von ihnen entfernte. 

Die Analyse seines Todes kommt zu dem Schluss, dass er sich in einer psychischen Notlage befand und die Polizei tödliche Gewalt anwendete, anstatt ihm Hilfe zu leisten. Die Autor:innen argumentieren, dass die Polizist:innen Nzoy aufgrund seiner Hautfarbe als Bedrohung wahrnahmen.

Die Notwehr-Aussage

Am Tag seines Todes fuhr der damals 37-jährige Nzoy, ein Schwarzer Zürcher, wohl in einer psychotischen Episode nach Morges im Kanton Waadt. Nachdem er auf den Bahngleisen im Bahnhof umhergeirrt war, wurde er von einem Polizisten erschossen.

Nach den Schüssen auf Nzoy, lag das verletzte Opfer über sechs Minuten am Boden. Ein früherer Bericht von Border Forensics vom November 2023 zeigt, dass sich Nzoy in dieser Zeit noch fünfmal bewegte, während die Polizist:innen um ihn herumstanden, ohne lebensrettende Massnahmen einzuleiten.

Nach mehr als drei Jahren Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft im vergangenen November das Strafverfahren ein. Der Polizist, der den tödlichen Schuss auf Nzoy abgab, habe in Notwehr gehandelt.

Am 14. Mai dieses Jahres nahm das Verfahren eine neue Wendung. Das Waadtländer Kantonsgericht wies die Staatsanwaltschaft an, die Ermittlungen wieder aufzunehmen (die Republik berichtete ausführlich). Die Behörden müssen nun nicht nur den Polizisten, der Nzoy erschoss, anklagen, sondern auch weitere Beamte, denen unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen wird. 

Zudem fordert das Gericht ein Gutachten zur Frage, ob der tödliche Schuss tatsächlich in Notwehr abgegeben wurde und ob das Verhalten des Polizisten den Berufsregeln entsprach. Auch werden wichtige Funkmeldungen überprüft, die in den Akten fehlen.

Parallel dazu analysierte Border Forensics die genauen Umstände des Todes.

Analysen widersprechen den Ermittlungen

In einer Pressekonferenz präsentierten Border Forensics und die Nzoy Commission am Montag die Ergebnisse ihrer zweijährigen Untersuchung. Sie kommen zu dem Schluss, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden ihren Auftrag bisher in schwerwiegender Weise missachtet und ihre Verantwortung im Fall Nzoy vernachlässigt haben.

Eine detaillierte Videoanalyse in Verbindung mit einer 3D-Rekonstruktion widerlegt die Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen. Insbesondere wird die Notwehr-Behauptung – Nzoy habe den Polizisten, der auf ihn schoss, mit einem Messer angreifen wollen – als unbegründet angesehen.

Dafür analysierten sie Video- und Audioaufnahmen von anwesenden Passant:innen und aus den Ermittlungsakten. Eine räumliche Analyse eines iPhone-Videos, das aus 62 Metern Entfernung aufgenommen wurde, hat festgestellt, dass Nzoys Hand zum Zeitpunkt der Schussabgabe offen und für den Polizisten sichtbar gewesen sein muss.

3D-Rekonstruktion, die das Sichtfeld von PO4 und beide Hände von Nzoy zeigt, die laut unserer Analyse offen waren.
3D-Rekonstruktion, die das Sichtfeld des Polizisten und beide Hände von Nzoy zeigt. (Bild: Border Forensics)

3D-Rekonstruktionen des Vorfalls widersprechen ausserdem der Aussage der beteiligten Polizeikräfte, die angegeben hatten, dass Nzoy sich auf den Polizisten zubewegt habe.

Die Rekonstruktionen zeigen, dass Nzoy sich von einem Polizisten entfernt hatte und der Beamte, der die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, in seinen Laufweg getreten war.

Die Untersuchung kam zum Schluss, dass die Aufnahmen des Polizeifunks unvollständig sind. Dies habe zu erheblichen Lücken beim Verständnis der Handlungen der Polizei geführt.

Laut Border Forensics sei Nzoy am Tag seiner Tötung sowohl aufgrund seiner Hautfarbe als auch seiner psychischen Verfassung marginalisiert worden. Nzoy sei als «Person of Color» und psychisch kranker Mensch wahrgenommen worden, was die Wahrscheinlichkeit seiner Tötung durch die Polizei massgeblich beeinflusste.

Zum Abschluss der Pressekonferenz richtete sich Evelyn Wilhelm, die Schwester von Nzoy, an die Anwesenden. Der Staatsanwalt habe bisher nichts aufgeklärt. «Ich bin sehr dankbar, dass Border Forensics nach Antworten sucht. Das ist ein wichtiger Prozess, um diesen Teil unseres Lebens und den Schmerz, den wir haben, zu verarbeiten.»

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