«Telefon gegen Gewalt»: Aktivist:innen betreiben Hotline in zwölf Sprachen

Alle zwei Wochen stirbt in der Schweiz eine Person an häuslicher Gewalt. Aktivist:innen aus Zürich haben sich während der Pandemie zusammengetan und bieten seit einem Jahr die Hotline «Telefon gegen Gewalt» an. Anrufen können alle, die Gewalt erfahren.

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Tatjana (links) und Nina betreiben zusammen mit zehn anderen Aktivist:innen das «Telefon gegen Gewalt». (Bild: Lara Blatter)

«Anfangs haben wir uns auf die akuten Notfälle vorbereitet», sagt Tatjana. «Es sind aber meist nicht diese Personen, die anrufen», ergänzt Julia. «Viele wollen einfach mal erzählen», sagt Nina. Und oft seien sie noch nicht bereit, um zur Polizei zu gehen oder andere Massnahmen zu ergreifen, so Lucia. Oder sie würden denken, dass die Gewalt nicht so schlimm sei. «Gewalt zu erleben, kann viel mehr bedeuten als einfach geschlagen zu werden», fügt Gül* an, die ihren Namen nicht nennen möchte, um mögliche Komplikationen mit ihrer Arbeitgeberin zu umgehen. 

Gül, Julia, Lucia, Nina und Tatjana gehören zum Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» (TGG). Zusammen mit sieben anderen Aktivist:innen haben sie diese Hotline für Personen mit Gewalterfahrung am 14. Juni des letzten Jahres ins Leben gerufen. Gefunden hat sich die Gruppe über gemeinsame politische Interessen und Freund:innen. Die Idee kam ursprünglich vom Verein RoSara, der bereits seit Anfang der Pandemie eine telefonische Beratung angeboten hatte und nach Unterstützung suchte. 

Das Telefon ist von Freitag 18 Uhr bis Montag 8 Uhr besetzt. Sie alle arbeiten oder studieren nebenbei, was auch die Telefonzeiten übers Wochenende erklärt. Zudem sei das TGG so eine gute Ergänzung zu anderen Angeboten, die sich an Bürozeiten halten würden, so Tatjana. Finanziert wird die Hotline durch Spendengelder, diese reichen für die Telefonkosten und Werbematerial, die Schichten werden ehrenamtlich gemacht.

Eine unprofessionelle Hotline?

Während des Gesprächs betonen die Aktivist:innen mehrmals, dass sie keine Beratungsstelle sind – und auch nicht sein wollen oder können. Dennoch: Kritik bekommen sie immer wieder zu hören. Sie seien zu wenig qualifiziert, zu unprofessionell. «Zu viele Menschen leiden an häuslicher Gewalt, unser Angebot braucht es», widerspricht Nina. Laiinnen seien sie bei weitem nicht. Zumal sie alle aus Bereichen wie Rechtswissenschaften, Psychologie, Soziale Arbeit, Traumapädagogik oder dem Dolmetschen kommen.

«Wir arbeiten mit vulnerablen Menschen, da ist Skepsis legitim.»

Tatjana

Gül: «Aber dafür, dass man nicht weiss, wer wir sind, haben wir viel Zulauf.» Lucia: «Genau. Diese Fälle beweisen, dass es uns braucht.» Tatjana: «Und ein gewisses Misstrauen uns gegenüber ist auch wichtig und verständlich. Wir arbeiten immerhin mit vulnerablen Menschen zusammen, da ist Skepsis legitim.»

Was am Telefon passiert, wird dokumentiert, für verschiedene Situationen gibt es Leitfäden. Aus Selbstschutz beraten sie anonymisiert. Das TGG ist eine Erstanlaufstelle, eine niederschwellige Ergänzung zu anderen Hilfsangeboten. Sie hören zu und zeigen Möglichkeiten für das weitere Vorgehen auf. «Wir sind Zeug:innen von Gewalt. Und sagen: ‹Du bist nicht schuld und es tut mir Leid, dass du Gewalt erfahren musstest›», sagt Tatjana. Denn genau dieses Zuhören fehle oft an offiziellen Stellen, da sei die Kapazität nicht vorhanden, einfach mal drei Stunden zuzuhören. 

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Erreichen kann man das «Telefon gegen Gewalt» unter der Nummer 076 516 26 76 oder via Instagram. (Bild: Lara Blatter)

Alle zwei Wochen eine Tote

Dass es einfach zugängliche Angebote für Opfer von häuslicher Gewalt braucht, zeigen auch aktuelle Zahlen.

Total wurden im Jahr 2021 laut Kriminalstatistik des Kantons Zürich 2021 rund 3300 Straftaten im häuslichen Bereich registriert. Betroffen waren meist Frauen und Mädchen. Die Täter sind zu 42 Prozent aktuelle Partner und zu 31 Prozent ehemalige. Polizist:innen rücken im Kanton Zürich täglich 18 Mal wegen häuslicher Gewalt aus. Vergangenes Jahr hat es drei Femizide im Kanton Zürich gegeben und schweizweit stirbt alle zwei Wochen eine Person infolge häuslicher Gewalt, heisst es beim Bundesamt für Statistik

Geht es nach den Aktivist:innen, wird zu wenig gegen häusliche Gewalt vorgegangen. Obwohl sich national wie auch kantonal die Politik zur Problematik bekennt. Die Schweiz hat sich 2018 mit der Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, umfassende Massnahmen gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt zu ergreifen. 

Und im Kanton Zürich hat der Regierungsrat «Gewalt gegen Frauen» als Schwerpunktthema für die Legislaturperiode 2019–2022 festgelegt. Die gemeinsame Kampagne der Kantonspolizei, der Staatsanwaltschaft und der kantonalen Opferhilfe «Stopp Gewalt gegen Frauen» will informieren, sensibilisieren und listet Hilfsangebote auf. Das TGG ist dort nicht aufgelistet. Nur anerkannte Opferberatungsstellen würden darin aufgenommen, heisst es auf Anfrage bei der Medienstelle der Kantonspolizei. So sei eine hohe fachliche Qualität sichergestellt. Zudem sei man bei der Kantonalen Opferhilfe daran, eine 24-Stunden-Hotline zu erarbeiten. Auch gibt es von der Opferberatung Zürich seit dem Sommer 2020 einen Online-Chat, wo sich Menschen Hilfe holen können.

Kein Vertrauen in die Polizei

Nach einem Jahr TGG ziehen die Aktivist:innen Bilanz. Die grösste Herausforderung sei es, die Betroffenen zu erreichen. Zahlen wollen sie aber keine nennen, denn jedes Telefon sei eines zu viel. Und: «Wir mussten lernen, zu akzeptieren, dass sie am besten wissen, was für sie gut ist und was sie wollen – und dass sie die nötigen Schritte machen, wenn sie bereit dazu sind», sagt Nina. Sich von häuslicher Gewalt zu lösen, brauche Zeit. Auch sei eine Anzeige nicht immer die Lösung für alles.

Die Aktivist:innen äussern harsche Kritik – in erster Linie nicht gegen die Täter, sondern gegen ein patriarchales System, den Staat und die Polizei: Fehlendes Feingefühl, fehlender Wille, rassistische und sexistische Strukturen. 

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Mit Flyer in der Stadt machen die Aktivist:innen auf ihr Angebot aufmerksam. (Bild: Lara Blatter)

Viele – vor allem migrantische – Frauen würden beispielsweise der Polizei nicht trauen oder wüssten nicht, welche Rechte sie hätten. «Sie gehen nicht zur Polizei, weil sie etwa aufgrund ihres Aufenthaltsstatus an ihren Mann gebunden sind», erzählt Nina. Die Aktivist:innen sprechen in solchen Fällen von «behördlicher Gewalt». Die Frauen würden quasi gezwungen, in der Ehe zu bleiben, weil ihr Aufenthaltsstatus ansonsten gefährdet sei.

12 Sprachen, ein Ziel

Um möglichst viele Menschen zu erreichen und um zugänglich zu sein, deckt das TGG zwölf Sprachen ab: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Bosnisch, Italienisch, Kurdisch, Portugiesisch, Rumänisch, Türkisch, Arabisch, Persisch. Eine Sprache dürfe keine Barriere sein, wenn jemand Hilfe benötige.

«Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Schichten.»

Nina

Die Aktivist:innen halten fest: Gewalt sei kein Problem von nur migrantischen Personen. Dieser Gedanke sei weit verbreitet. «Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Schichten», sagt Nina. 

In einem Bericht des Bundes steht, dass die statistischen Zahlen zwar darauf hindeuten, dass ein Migrationshintergrund das Risiko für häusliche Gewalt erhöht und dass ausländische Frauen über alle Altersklassen hinweg stärker betroffen sind als Schweizerinnen. Im Bericht heisst es aber auch, dass dies nur bedingt mit der Herkunft der Betroffenen erklärt werden kann. In erster Linie seien es soziale und ökonomische Belastungen oder geringe Ressourcen, die das Risiko für häusliche Gewalt erhöhen. Oder eben rechtliche Barrieren, die die Loslösung aus Gewaltbeziehungen erschweren würden.

Dem pflichtet auch Tatjana bei und ergänzt: «Eine Schweizerin, die häusliche Gewalt erfährt, kann leichter auf ein vernetztes Umfeld zurückgreifen und bei einer Freundin unterkommen.» Während migrantische Personen und Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus viel eher auf Institutionen wie beispielsweise ein Frauenhaus angewiesen seien. Und diese Frauen dann eher in der Statistik landen, als jene die privat nach Hilfe suchen.

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Die Aktivist:innen treffen sich regelmässig zu Sitzungen im Frauen*Zentrum im Kreis 5. (Bild: Lara Blatter)

Nichts zu gewinnen 

Im Gespräch mit Gül, Julia, Lucia, Nina und Tatjana wird deutlich: Ihnen geht es nicht nur um Einzelfälle, sondern auch um ein Umdenken in der Gesellschaft. Häusliche Gewalt sei kein privates Beziehungsproblem zweier Menschen, sondern ein strukturelles. Hinzu kommen Mythen, die sich scheinbar bis heute halten. «Die Öffentlichkeit glaubt schnell, dass hinter einer Anklage ein Hinterhalt steckt», sagt Nina. Dabei hätten die Betroffenen nichts zu gewinnen, auch wenn sie vor Gericht Recht bekommen – ein Sieg sei dies nicht, weder monetär noch psychisch, meint sie. 

Zur Sprache kommen aktuellere Beispiele wie die amerikanische Schauspielerin Amber Heard. «Die Message hinter solchen medialen Debatten ist klar: Sag nichts, wenn du häusliche Gewalt erfahren hast. Du kannst eh nur verlieren», sagt Tatjana. Dagegen wollen sie ankämpfen und Zeug:innen am Telefon sein. Ihr Anliegen ist politisch und die Message klar: Sie sind da und hören zu – unter der Nummer 076 516 26 76.

* Name der Redaktion bekannt

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