Grundrechte anzugreifen, ist reiner Populismus
Die Gefahr von rechtsaussen ist in der Schweiz vergleichsweise gering. Trotzdem ist es wichtig, gegen rechte Bestrebungen auch hierzulande auf die Strasse zu gehen. Denn auch hier werden Grundrechte infrage gestellt – nicht zuletzt durch die Anti-Chaoten-Initiative der SVP. Ein Kommentar von Steffen Kolberg.
Seit Wochen gehen in Deutschland Hunderttausende auf die Strasse, um gegen die AfD im Besonderen und den gesellschaftlichen Rechtsruck im Allgemeinen zu demonstrieren. Als am vergangenen Wochenende auch in Zürich zu einer Demonstration gegen rechts aufgerufen wurde, ging es dabei nicht bloss um Solidarität mit den Demonstrierenden in Deutschland, wie die NZZ richtig erfasst hat. Es ging auch um die Schweiz.
Die neue Rechte agiere grenzüberschreitend zwischen beiden Ländern, zitierte das Blatt Demo-Mitorganisator Dominik Waser in einem Artikel, der am Tag der Demonstration erschien. Die AfD, Reichsbürger und die identitäre Bewegung hätten nicht nur persönliche Kontakte, sondern auch Geldgeber:innen in der Schweiz, so der Gemeinderat der Grünen. Doch auch in Schweizer Parlamenten seien Rechtsradikale zu finden, wird seine Ratskollegin Sanija Ameti von der GLP zitiert. Eine Diskussion über den Rechtsextremismus in der Schweiz sei aus Ametis Sicht nicht möglich ohne Erwähnung der SVP, heisst es. Diese sei vielleicht keine rechtsextreme Partei, jedoch klar rechtspopulistisch und mit rechtsextremen Mitgliedern.
Bei der NZZ findet man, bei dieser Einschätzung stünden die Falschen im Fokus. Nicht der Rechtsradikalismus sei in der Schweiz die grössere Gefahr, sondern der Linksradikalismus, so der Text. Schliesslich gingen auf dessen Konto laut Nachrichtendienst des Bundes (NDB) deutlich mehr Gewalttaten. Und tatsächlich: Schaut man sich den Lagebericht des NDB an, dann übersteigt die Zahl der Gewalttaten von links – gemeint sind vor allem Sachbeschädigungen, aber auch vereinzelte Übergriffe auf politische Gegner:innen und Sicherheitskräfte – diejenige der rechten Seite seit Jahren deutlich.
Doch der Autor der NZZ vergleicht mit seiner Erwähnung des NDB-Berichts im Zuge der Demonstration gegen rechts Äpfel mit Birnen. Denn für Gewalttaten sind die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Gegen die Urheber:innen der Gewalt kann der Rechtsstaat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vorgehen. Und im Zweifel schärfere einführen, wenn eine politische Mehrheit der Meinung ist, dass die vorhandenen Mittel nicht ausreichen.
«Als Abschreckungsmassnahme das Grundrecht der Versammlungsfreiheit anzugreifen, ist das schlechteste Mittel der Wahl.»
Steffen Kolberg
Die Gefahr von rechts lauert hingegen weniger in Sachbeschädigungen und Flaschenwürfen auf Beamt:innen. Wie sie aussieht, kann man in allen Staaten beobachten, in denen in diesem jungen Jahrhundert Rechtspopulist:innen oder offen Rechtsradikale an die Macht kamen: Beschneidung der Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats durch die Schwächung oder den Umbau von Verfassungsgerichten, Einschränkung der Pressefreiheit, der Rechte von Minderheiten oder des Abtreibungsrechts. In der anti-aufklärerischen Bestrebung, die Zeit bis zu einer fantasierten Vergangenheit zurückzudrehen, in der vermeintlich Ruhe und Ordnung geherrscht haben, sind den Grundrechtsbeschneidungen keine Grenzen gesetzt. Genau diese Gefahr ist es, die in Deutschland derzeit Hunderttausende auf die Strasse bringt.
Nun ist die Schweiz nicht Deutschland und die Gefahr, die hierzulande von Rechtsaussen ausgeht, vergleichsweise gering. Die Schweiz ist eine befriedete Gesellschaft, die Auseinandersetzung im Rahmen demokratischer Spielregeln wird als hohes Gut geachtet, genauso wie direktdemokratische Mitbestimmung und ein Ausgleich gesellschaftlicher Interessen. Zwar gehören auch hier für manche Menschen Morddrohungen längst zum Alltag (die politischen Verantwortlichen scheinen nicht der Meinung zu sein, dass es diesbezüglich schärfere Rechtsmittel bräuchte), politisch-rassistisch motivierte Mordserien wie in Deutschland sind hier aber kaum vorstellbar.
Doch die rechten und radikalen Ideen einer Gesellschaft, in der Grundrechte und Selbstbestimmung nur für manche und nicht für alle gelten, kursieren eben auch in der Schweiz und bis in Teile der SVP hinein. Beispiele dafür gibt es einige: Die wiederholten Angriffe auf das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre, wenn es um Sozialhilfebezüger:innen oder Menschen ohne Aufenthaltsstatus geht, das immer offenere Agieren von Abtreibungsgegner:innen in den letzten Jahren oder die Versuche, die öffentlich-rechtlichen Medien in Kürzungsdebatten mit Zensurvorwürfen zu diskreditieren.
Auch die von der SVP lancierte Anti-Chaoten-Initiative im Kanton Zürich ist ein Kind dieser Geisteshaltung. Wer die Gewaltbereitschaft und die angeblich ausufernden Kosten von Polizeieinsätzen angehen will, muss eben über schärfere Rechtsmittel oder über bessere Präventionsmassnahmen diskutieren. Im besten Falle fragt man sich sogar, was die Ursachen für eine vermehrte Unruhe auf der Strasse sind. Stattdessen als Abschreckungsmassnahme das Grundrecht der Versammlungsfreiheit anzugreifen, ist das schlechteste Mittel der Wahl und blanker rechter Populismus.
Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das man nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen sollte. Sie wird umso wichtiger, sollte sich das anti-aufklärerische Gedankengut weiter in der befriedeten Schweiz ausbreiten. Für Menschen, die migrantisch gelesen werden, für Homosexuelle, für Frauen, die für ihre Rechte einstehen. Vielleicht sogar einmal für NZZ-Autor:innen. Deshalb ist es wichtig, auf die Strasse zu gehen gegen rechte Bestrebungen, unsere Rechte auszuhöhlen. So lange dies noch relativ gefahrlos möglich ist.
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