Nein zu mehr Lohn: Mitte-Links scheitert an Vorurteilen – und an sich selbst

Das Nein zur Lohnerhöhung für Gemeinderät:innen ist eine unerwartete Schlappe für Mitte-Links. Vor allem aber ist es ein Weckruf vor den Gesamterneuerungswahlen 2026. Ein Kommentar.

Patrick Tscherrig, SP
Keine Erhöhung der Entschädigung: Der Lohn der Zürcher Parlamentarier:innen bleibt gleich. (Bild: Steffen Kolberg)

Eine Ohrfeige tut dann am meisten weh, wenn man nicht mit ihr gerechnet hat. 

Und das Nein zur Erhöhung der Gemeinderatslöhne, das hat kaum jemand kommen sehen. Die Stimmbevölkerung lehnt am 9. Februar mit 53,2 Prozent Nein-Stimmen die Totalrevision der Entschädigungsverordnung des Gemeinderats ab, die den Lohn der Gemeinderät:innen knapp verdoppelt hätte.

Parlament und Stadt verlieren eigentlich nie

Warum kam das Nein so unerwartet?

Erstens, weil die Vorlage im Parlament selber eine breite Unterstützung fand. Von SP und AL bis EVP/Mitte waren alle dafür, auch der Stadtrat unterstützte das Anliegen. Einzig FDP und SVP sprachen sich dagegen aus. Zur Abstimmung kam es nur deshalb, weil SP, Grüne, GLP, Mitte/EVP und AL gegen ihren eigenen Beschluss das Parlamentsreferendum ergriffen. Der Gemeinderat solle nicht allein über höhere Entschädigungen für sich selbst entscheiden, so die Argumentation.

Zweitens, weil die Vorlage auch die Unterstützung durch den Stadtrat hatte. Und wenn sich Regierung und Parlament zusammen tun, gewinnen sie eigentlich immer. Die zugegeben oft verwendete Redewendung trifft in diesem Falle also durchaus zu: Das Nein war eine Klatsche für die selbstsichere Zürcher Politik.

Nach der Abstimmung schreiben die Befürworter:innen, man habe wohl zu viel gewollt. Möglicherweise aber lag es an etwas anderem.

Damit der Gemeinderatsjob grundsätzlich allen (eingebürgerten) Stadtzürcher:innen offen steht und nicht nur jenen, die ihn mit einem guten Lohn anderswo querfinanzieren, muss er angemessen entschädigt werden. Die Arbeit als Gemeinderät:in entspricht etwa einem 30-Prozent-Pensum. Das schrieb Tsüri.ch in einem Kommentar im Vorfeld der Abstimmung. Die aktuelle Entschädigungsverordnung stammt aber noch aus dem Jahr 1998. Rechnet man den heutigen Zürcher Medianlohn von 8000 Franken pro Monat auf 30 Prozent herunter, landet man bei knapp 29’000 Franken pro Jahr. Und damit ziemlich genau bei der vorgeschlagenen Erhöhung der aktuell durchschnittlich 16’000 auf 28’000 Franken pro Jahr.

Eigentlich eine einleuchtende Argumentation, und wenn man es so betrachtet, klingt das auch nicht, als hätte man «zu viel» gewollt. 

Stattdessen liegt die Vermutung nahe, dass die Befürworter:innen die Bedeutung der Gemeinderatsarbeit für die Bevölkerung nicht überzeugend genug vermitteln konnten. Vielleicht auch, weil die mehrheitlich linken Parlamentarier:innen davon ausgingen, sie müssten niemanden überzeugen, da die Mehrheit ohnehin hinter ihnen stehe.

Denn während die Bürgerlichen eine laute Kampagne gegen die Vorlage fuhren und ihr Narrativ der «linken Politik der Selbstbedienung» fleissig verstreuten, blieb die andere Seite eher still.

Klar. Die Argumentation der (vermeintlich) gut verdienenden Politiker:innen, die Steuergelder ausgeben, bedient alte Stereotypen, die oft zwar gar nicht zutreffen, diese Argumente können aber fruchten, wenn die Gegenseite keine griffige Kampagne fährt.

Weckruf für Links

An diesem Sonntag ging es «nur» um die Revision der Entschädigungsverordnung. Doch für die Bürgerlichen ist es mehr als das.

Für die FDP, die schon länger von einer bürgerlichen Mehrheit im Parlament und vielleicht sogar einem bürgerlichen Stadtpräsidium spricht, ist dieses Nein definitiv der Beginn des Wahlkampfs für die Gesamterneuerung des Stadt-und Gemeinderats 2026. Përparim Avdili, Stadtzürcher FDP-Parteipräsident, bläst im Tages-Anzeiger selbstbewusst zum Angriff: «Dieses Nein ist ein Kipp-Punkt.»

Und auch wenn die bürgerliche Seite hier in erster Linie geschickt den Überraschungsmoments ausspielt, sollte die Linke dieses Abstimmungsresultat als Weckruf verstehen: Selbst im linken Zürich sind Gesamterneuerungswahlen kein Selbstläufer.

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