Ein Urgestein verlässt die SVP: Bernhard im Oberdorf rechnet ab
24 Jahre lang sass Bernhard im Oberdorf für die SVP im Zürcher Gemeinderat. Kürzlich erklärte er seinen Parteiaustritt, weil innerhalb der SVP Putin- und Trump-Versteher:innen an Einfluss gewonnen hätten. Wer ist dieser Mann, den alle nur «Bio» nennen?
Einige halten feurige Voten, manche hören zu, andere sind gedanklich längst woanders oder gar nicht erst im Saal anwesend. Also eigentlich alles wie immer an dieser letzten Sitzung des Zürcher Stadtparlaments vor den Herbstferien. Nur eines stört die gewohnte Ordnung.
Das dienstälteste Mitglied des Gemeinderats sitzt leicht abseits seiner bisherigen Fraktion, der SVP. Und meldet sich auffallend oft zu Wort – selbst in sogenannten reduzierten Debatten, bei denen jeweils nur eine Person pro Fraktion sprechen darf.
Doch Bernhard im Oberdorf, längst durch seine Initialen «Bio» bekannt, ist neuerdings parteilos und darf sich als Einzelvertreter deshalb auch in reduzierten Debatten ausführlich äussern. Ende September ist er aus seiner Partei ausgetreten. Eine grosse Überraschung für Zürcher Politkreise, sass er doch 24 Jahre lang für die SVP im Gemeinderat und seit zwei Jahren ebenfalls im Kantonsrat.
Wer ist dieser Mann, der seit Jahrzehnten die Zürcher Politik prägt – und warum hat er gerade jetzt mit der SVP gebrochen?
Neutralitätsinitiative war entscheidend
«Ich habe mir den Austritt schon länger überlegt, aber mit viel Geduld ausgeharrt, solange Loyalität noch möglich war», sagt im Oberdorf im Gespräch auf dem Bullingerplatz, ein paar Tage nachdem er seinen Entschluss publik gemacht hat. Mit Dreitagebart und ruhiger Stimme wirkt er erstaunlich entspannt, fast wie in den Ferien.
Als er die Fraktion informierte, seien die Mitglieder überrascht gewesen. «Es haben die wenigsten erwartet», sagt er und kann sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen.
Ausschlaggebend für seinen Austritt sei die Neutralitätsinitiative gewesen, sagt im Oberdorf. Die SVP Schweiz hatte sie 2022 lanciert, im Jahr, als Russland die Ukraine überfiel. Mit der Initiative soll die Neutralität der Schweiz in der Verfassung verankert werden, was den aussenpolitischen Handlungsspielraum stark einschränken würde. Eine Teilnahme an nicht-militärischen Sanktionen wäre damit ausgeschlossen.
Eine so enge Form von Neutralität könne er nicht mittragen, sagt im Oberdorf. «Russland begeht Kriegsverbrechen und verletzt das Völkerrecht.» Keine Verantwortung zu übernehmen, könne er mit seinen «innersten Werten nicht vereinbaren».
Ein halbes Jahrhundert Student
Diese Haltung gründet nicht nur in seiner politischen Überzeugung, sondern auch in seinem Interesse in Aussenpolitik, die im Oberdorf seit dem Studium verfolgt.
«Ein halbes Jahrhundert» war er laut eigenen Angaben als Student eingeschrieben. Nicht ohne Stolz erzählt er, dass er in Wirtschaft doktoriert und anschliessend noch Politikwissenschaft und Militärstrategie studiert hat. Von wann bis wann genau er aber Student war und wie alt er heute ist, will er nicht preisgeben, Privates hält im Oberdorf gerne privat.
Zu seiner beruflichen Laufbahn sagt er nur, dass er einst für den Elektrotechnikkonzern ABB arbeitete. Ansonsten ist einzig bekannt, dass er das Hochschulmagazin «Vision» als Herausgeber und Chefredaktor verantwortet.
Er hat das Magazin als bürgerliche Alternative zu den linken Studierendenzeitungen gegründet, nachdem er von der «Schweizerischen Studierendenzeitung» rausgeschmissen wurde. Grund sei ein Artikel mit dem Titel «Anmassendes Sektierertum» gewesen, in dem er blinden Gehorsam gegenüber religiösen Führer:innen kritisierte. «Das gefiel der rechtskatholisch geprägten Herausgeberschaft im Fahrwasser der Glaubensbewegung Opus Dei nicht», sagt im Oberdorf.
«Im Oberdorf ist ein Freigeist.»
Michael Schmid, FDP-Gemeinderat
Noch immer wird die «Vision» an verschiedenen Schweizer Hochschulen aufgelegt, eine Website existiert nicht. Gedruckt würde eine Auflage von 10’000 Exemplaren, doch es sei es kein besonders lukratives Geschäft. «Es ist kein Wissenschaftsmagazin», sagt im Oberdorf, «sondern soll den Hochschulgeist in die Gesellschaft hinaustragen».
Was er verschweigt: Das Magazin bietet ihm ein Forum, in dem ihm niemand vorschreibt, was er zu denken oder zu schreiben hat. Denn im Oberdorf lässt sich nur sehr ungern den Mund verbieten. Dieser Eindruck ergibt sich auch in Gesprächen mit verschiedenen Gemeinderät:innen, die mit ihm in der gleichen Kommission sitzen.
Sanija Ameti, ehemals GLP-Politikerin und heute parteilos, ist von seinem Austritt aus der SVP nicht überrascht. Ihrer Einschätzung nach gebe es einige SVP-Mitglieder, die «den Putin-Kurs aus Herrliberg» nicht mehr vertretbar fänden. Im Oberdorf sei er einer der Ersten, die deshalb ausgestiegen seien, und dürfte nicht der Letzte bleiben.
Rahel Habegger von der SP beschreibt die Zusammenarbeit mit im Oberdorf als «konstruktiv». Damit steche er aus der SVP-Fraktion hervor, inhaltlich bewege er sich jedoch klar auf Parteilinie. FDP-Gemeinderat Michael Schmid kennt ihn schon seit knapp zwei Jahrzehnten und beschreibt im Oberdorf als «Freigeist». Seine Parteiwechsel zeigten, dass er sich damit schwertue, sich dauerhaft einer politischen Linie unterzuordnen.
Er prangert autoritäre Strömungen in der Partei an
In den Gemeinderat eingetreten ist im Oberdorf 1996 für die FDP, 2001 ist er zur SVP gewechselt. Damals, sagt er, sei sie die einzige Partei gewesen, die sich klar gegen einen EU-Beitritt ausgesprochen habe.
Während des Gesprächs wird er plötzlich unterbrochen. Ein FDP-Politiker ruft im Vorbeigehen: «Heieiei, du machsch au wieder Sache!» Im Oberdorf antwortet nur knapp, kann sich aber erneut ein Lächeln nicht verkneifen. Unbeirrt fährt er fort.
Innerhalb der SVP hätten in den vergangenen Jahren die «Trump-Verehrenden und Putin-Verstehenden» an Einfluss gewonnen. Oft sei dort zu hören, der Westen trage die Schuld an der Invasion, nicht Putin. Zu denken gegeben habe ihm auch die Aussage von Bundesrat Albert Rösti, er hätte bei den US-Wahlen eher Donald Trump als Kamala Harris gewählt. Generell, so im Oberdorf, «wird in der Partei zunehmend wohlwollend über autoritäre Charaktere gesprochen».
Wie erklärt er sich solche Tendenzen? Einerseits gebe es in Teilen der Partei tatsächlich Sympathien für autoritäre Regime. «Vermehrt lehnen sich Persönlichkeiten aus dem rechten Fenster», sagt er. Das zeige sich etwa bei der Jungen SVP.
Andererseits würden viele Parteimitglieder «nachbeten, was die Weltwoche schreibt». Dazu sei er nie bereit gewesen. Entsprechend kritisch sehe er auch, dass Roger Köppel heute als Hauptredner der jährlichen Albisgüetli-Tagung der SVP auftrete.
Weiter politisch engagiert
Seine eigene Partei will sich auf Anfrage nicht zu seinem Austritt äussern – und verweist auf die Medienmitteilung. Darin drückt die Zürcher Parteileitung ihr Bedauern aus. Domenik Ledergerber, Präsident der SVP des Kantons Zürich lässt aber auch verlauten: «Wir freuen uns, dass die Zusammenarbeit für eine starke bürgerliche Politik weiterhin fortgeführt werden kann.»
Wohin es ihn nun zieht, möchte im Oberdorf offenlassen. Sicher ist jedoch: Er will politisch aktiv bleiben. «Derzeit passt es für mich, parteilos zu sein», sagt er und kann sich erneut ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Es scheint, als wäre er nach 5 Jahren in der FDP und 24 Jahren in der SVP endlich in der für ihn passendsten Rolle angekommen.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2700 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Studium der Politikwissenschaft und Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen beim Branchenportal Klein Report und der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), zuletzt als Co-Redaktionsleiter. Seit 2023 medienpolitisch engagiert im Verband Medien mit Zukunft. 2024 Einstieg bei Tsüri.ch als Autor des Züri Briefings und Berichterstatter zur Lokalpolitik, ab Juni 2025 Redaktor in Vollzeit. Im Frühjahr 2025 Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz in Berlin.