Star-Dirigent Paavo Järvi gibt gratis Konzert an Open-Air
Die Tonhalle-Gesellschaft will mehr junge Menschen für Klassik begeistern. Dabei setzt sie auf hochkarätige Musiker:innen und verlässt gewohnte Sphären. So fliegen Star-Dirigent Paavo Järvi und sein Orchester dieses Wochenende an ein gratis Open-Air in der Altstadt aus.
Die Schweizer Musikszene ist lebendig, aber klein. Nicht vielen Künstler:innen gelingt es, von ihrer Musik langfristig leben zu können. Gleichzeitig gibt es im Tonhalle-Orchester aktuell 101 hochbegabte Berufsmusiker:innen, die sich teils gegen 300 andere Bewerbende durchsetzen und das Probejahr bestehen mussten – und kaum jemand kennt ihre Namen.
Doch wer dies ändern will, kann einige von ihnen bald gratis auf dem Münsterhof erleben, denn am 13. und 14. Juni tritt das Orchester erstmals am neu geschaffenen Festival «Tonhalle Air» auf.
Geplant ist, das Open-Air in Zukunft alle zwei Jahre durchzuführen, wobei «die Nachwuchsförderung und die Nähe zum Publikum im Vordergrund stehen» sollen, wie es in einer Medienmitteilung heisst. Hatte Tsüri.ch kürzlich noch über die hohen Subventionen für Institutionen wie die Tonhalle-Gesellschaft und die trotzdem teuren Ticketpreise berichtet, so bietet sich nun für alle die Möglichkeit, die Klänge des durch Steuergelder unterstützten Orchesters gratis zu hören.
Järvi probt Mozart und verrät seine Ambitionen
Dabei zählt die Tonhalle auch auf einen renommierten Namen in der Branche: Paavo Järvi. Einen Einblick in dessen Arbeit und die Arbeit des Orchesters gab es vergangene Woche an der Generalprobe für drei Mozart-Konzerte, gefolgt von einem Medien-Event in der «Maestro Lounge».
Anders als sonst betreten die rund 40 Musiker:innen an diesem Abend in Alltagskleidung die Bühne. «Mozart wird mit eher kleiner Besetzung gespielt», erklärt Katharine Jackson, Pressereferentin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich.
Dann betritt Järvi die Bühne, minimalistisch in mattschwarzem Stoff gekleidet. Der 62-jährige Estländer gilt als einer der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart und tritt regelmässig mit den besten Orchestern der Welt auf.
Järvi dirigiert die Musiker:innen leidenschaftlich, springt durch das Stück hindurch und scheint dennoch die Noten jedes Mitglieds auswendig zu kennen. So dreht er sich nach einem Durchgang zu einer Violinistin und sagt: «Ich weiss, an dieser Stelle ist ein Punkt auf der Note, aber bitte streiche den.»
Er feinjustiert, sagt hier, das Orchester solle sanfter starten und ein stärkeres Crescendo übergehen, rät da: «Der Ton soll nicht kurz oder lang sein, aber klar verständlich wie ein Wort.»
Dass solch Liebe fürs Detail bei der schieren Anzahl der Auftritte und der Grösse des Repertoires möglich ist, scheint schwer zu glauben. Nach den Mozart-Konzerten tritt Järvi diesen Donnerstag mit dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet auf und dann am Freitag und Samstag am «Tonhalle Air» auf dem Münsterhof.
In der kommenden Saison sind auch Tourneen nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Südkorea und Japan geplant. Nebenbei hat Järvi auch noch eine Akademie ins Leben gerufen, in der er jedes Jahr sechs Nachwuchstalente fördert.
Gefragt, was für ihn die musikalischen Prioritäten für die kommende Saison sind, sagt Järvi am Medien-Lunch: «Die erste Priorität ist, dass wir das Publikum mit unserer Musik ansprechen und begeistern können».
Musikalisch stehe für die Saison 2025/2026 weiterhin Gustav Mahler im Mittelpunkt, zudem der noch lebende estnische Komponist Arvo Pärt, Dmitri Schostakowitsch und der Schweizer Komponist Arthur Honegger.
Frühere Begegnungen mit Meister-Komponisten
Die Liebe zur klassischen Musik wurde Järvi schon in die Wiege gelegt – auch sein Vater Neeme Järvi ist berühmter Dirigent. So erzählt er denn auch davon, wie er Dmitri Schostakowitsch mit elf Jahren erstmals begegnete, als dieser das Sommerhaus von Järvis Vater Neeme besuchte. Auch zu seinem bald 90-jährigen Landeskollegen Arvo Pärt pflegt Paavo Järvi wie auch sein Vater eine lange und freundschaftliche Beziehung.
Die Tonhalle-Gesellschaft, das wird am Medienanlass und in den Gesprächen klar, gibt sich alle Mühe, ein junges Publikum anzulocken. Dies sei auch aufgrund der Lage im Kreis 1 neben dem Kongresshaus und der prunkvollen Einrichtung nicht immer einfach.
Zumindest in dieser Hinsicht trauert man dem einstigen Standort in der Maag-Halle nach, der mehr junges Publikum heran spülte. Dort gastierte die Tonhalle von 2017 bis 2021, während der Standort in See-Nähe umgebaut wurde.
Programmatisch legt sich die AG auch am neuen, alten Standort ins Zeug, ein breites Publikum für Klassik zu begeistern. Insbesondere das Format «Tonhalle Late», das es schon seit 22 Jahren gibt, erfreue sich grosser Beliebtheit und sei in aller Regel ausverkauft. Das Event findet jedoch nur zweimal im Jahr statt, denn «mehr liegt wegen des grossen Aufwands und der tiefen Billettpreise nicht drin», erklärt Katharine Jackson.
Klassik trifft auf Elektronik
Die «Tonhalle Late» beginnt jeweils um 10 Uhr abends mit einer Stunde klassischer Musik, danach vermischt sich diese mehr und mehr mit elektronischen Klängen, bis das Foyer bis vier Uhr morgens zum Dancefloor wird.
Auch die «Tonhalle Crush» und der «Club Z» richten sich an junge Leute. Für Ersteres kriegt U30 schon für 20 Franken Tickets, eine Mitgliedschaft für Letzteres gibt es für jährlich 25 Franken.
Mit dem Format «Kunterwunderbunt» fliegt die Tonhalle-Gesellschaft in die städtischen Gemeinschaftszentren aus und bietet dort Kammermusik für Kinder ab vier Jahren an. Immer wieder begrüsst die Tonhalle-Gesellschaft auch Schulklassen – in der Saison 2023/24 seien es über 5500 Schüler:innen gewesen. Wer eine Legi hat und unter 30 ist, kann für die Konzerte ähnlich wie im Schauspielhaus oder im Opernhaus schon für 20 Franken Tickets ergattern.
Auch sonst gibt es günstige Einstiegsmöglichkeiten: Mit einem Probe-Abo lassen sich für 100 Franken vier ausgewählte Konzerte besuchen, danach kann das Abo für 120 Franken nochmals verlängert werden. Und einen gratis Einblick in die Arbeit der Tonhalle-Gesellschaft gibt es am Freitag und Samstag am «Tonhalle Air» auf dem Münsterhof.
Im Tsüritipp vom 11. Juni findest du weitere Kultur-Tipps und -News
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch