«Schlierstetten», «Adlishofen», «Dübendingen» – Zürichs Grenzen im Wandel

Zürich platzt aus allen Nähten. Welche Folgen hat diese Entwicklung auf Gebiete am Stadtrand? Architektur-Studierende begaben sich auf Expedition in den Grenzräumen einer Stadt, die an ihren Wachstumsgrenzen angekommen ist. Ein Gastbeitrag.

Sportplatz Areal Juchhof
Das Areal Juchhof befindet sich teils innerhalb, teils ausserhalb der Zürcher Stadtgrenzen. (Bild: zvg)

Dieser Text entstand im Rahmen eines Gaststudios am Institut für Entwurf und Architektur an der ETH Zürich, in dem der Verein ZAS* mit Studierenden zusammenarbeitet.

Seit der letzten Eingemeindung 1934 ist die politische Grenze der Stadt Zürich unverändert. Abgesehen von kleineren Verschiebungen im Zuge wiederkehrender Grenzrevisionen folgt sie dem immer gleichen Verlauf. Über 58 Kilometer bahnt sich ihre Linie durch Wälder und Täler – entlang von Ufern und Hügelketten, aber auch durch ein Lagerhaus in Adliswil, einen Sportplatz in Schlieren und mitten durch den Bahnhof Stettbach.

Begehrte Felder in «Schlierstetten»

An einem Dienstagabend im September starten wir am Bahnhof Altstetten unsere Spurensuche. Als wir vor dem ersten Verkehrsschild stehen, das die Grenze zu Schlieren markiert, schauen wir suchend um uns. Wir zählen auf drei und springen über die imaginäre Hürde, landen gleichzeitig in Schlieren und halten inne. Wir warten auf etwas, das uns zeigt, dass wir aus der einen in die andere Stadt gesprungen sind, aber da kommt nichts. 

Um uns herum formt sich ein Gebäudeteppich, den die planerischen Grenzen nicht zu beeinflussen scheinen. Hier eine Gruppe Mehrfamilienhäuser aus Backstein, dort die silbernen Fassaden riesiger Fabrikgebäude, weiter drüben das Gelände des Gaswerks.

Die wenigen Löcher im Gewebe werden durch eine Handvoll Fussballfelder geflickt, eines von ihnen wird unbemerkbar von der Stadtgrenze geteilt. Von den dort Anwesenden scheint die imaginäre Linie nur dem Platzwart bekannt, fast gleichgültig bemerkt er: «Ah ja, die Grenze geht da drüben, kurz vor dem Strafraum durch.»

Das Areal Juchhof wird im Stadtraum als Einheit wahrgenommen, in Wirklichkeit besteht es aber aus verschiedenen Grundstücken, von denen Teile in Schlieren, andere in Altstetten liegen. Die Sportanlage verteilt sich also über zwei Gemeinden, ist aber im Eigentum der Stadt Zürich, welche ausserhalb ihres Siedlungsgebietes Grundstücke gekauft hat.

Laut dem städtischen Sportamt sind die Trainingsanlagen stark ausgelastet, denn insgesamt trainieren auf den 13 Plätzen 65 Vereine mit über 500 Teams. Allein der Trainingsplan für einen Donnerstag im Oktober zeigt, wie begehrt die Felder sind: FC Kosova, Foot Rebel Zurich, Benfica Clube de Zurique, FC Republika Srpska, FC Srbija, FC Bosna Zürich, Centro Lusitano Zurich und der SC Sika trainieren nachmittags grenzübergreifend.

Die städtebauliche Erscheinung dieser Gegend scheint altbekannt: Erholungsgebiete und Freizeiträume werden an den Stadtrand gedrängt. Trotz scheinbar peripherer Lage schaffen die gepflegten Rasenflächen einen urbanen Raum.

Areal Juchhof von oben
Die Stadtgrenze verläuft unter anderem durch Rasenflächen des Juchhof Areals. (Bild: zvg)

Ein Ort, an dem Dinge aufeinanderprallen und verbinden – nicht nur Schlieren und Zürich, sondern eben auch unterschiedlichste Menschen und ihre Fussballvereine. Aus Schlieren und Altstetten wird «Schlierstetten», die Grenzen der Städte verschwimmen.

Die Satellitenstadt in «Adlishofen»

Wir spazieren weiter und finden zwischen Adliswil und Wollishofen die nächste Irritation. Eine Industriehalle, die von der Gemeindegrenze durchtrennt wird und damit zwei Adressen hat: eine in Zürich, eine in Adliswil. Drei Unternehmen bewohnen das Gebäude in zwei Gemeinden, aber alle sind in Adliswil gemeldet. Teilen sich die Gemeinden die Zuständigkeit, oder ist das Gebäude eine neutrale Zone mit eigenen Gesetzen?

Spürbar wird die Grenze jedenfalls, als wir einem Mitarbeiter eines ansässigen Transportunternehmens begegnen, der uns von einem klassischen Rohrbruch in einer der Hallen berichtet. Der Sanitär sei hier nach kurzer Begutachtung des Problems mit den Worten «dieser Teil des Gebäudes steht auf der Seite der Stadt Zürich, ich bin nur für Adliswil zuständig» wieder weggefahren.

«Die Vorstellung eines weitläufigen Stadtrands mit ausufernden Siedlungsresten in den Grenzräumen ist längst überholt.»

ZAS*

Kaum 700 Meter entfernt treffen wir auf das Dietlimoos. Wie auch in anderen Grenzgebieten rund um Zürich siedelt sich eine neue dichte Satellitenstadt an und erinnert stark an Hochbord, Glattpark und die Leuengasse – Orte, an denen der städtische Wachstumsdruck aufgefangen wird. Sie zeigen deutlich, dass kommunale Grenzen längst nicht mehr am Rande des Siedlungsgebiets liegen, sondern sich mitten durch den urbanisierten Raum ziehen.

Dietlimoos Zürich
Neben der Überbauung Dietlimoos befinden sich auch Industriehallen: Das Bollin-Areal. (Bild: zvg)

In den Grenzräumen tut sich etwas: Die Kommunen bauen aufeinander zu, aber bauen sie auch aufeinander auf? Werden diese Satelliten eigene Städte oder entwickeln sie sich zu neuen Zentren in einem polyzentrischen Zürich?

Das Areal Dietlimoos, eingeklemmt zwischen der Zürichstrasse und der Autobahn A3, besteht aus der Überbauung Grütpark, der Zurich International School, sowie einem Autohaus von Mercedes-Benz. Mittendrin spielt eine neu erstellte Blockrandbebauung Stadt. Die Orientierung an innerstädtischen Typologien ist unverkennbar, doch wer entscheidet sich für das beworbene «City-Feeling im Grünen»?

Das Projekt im Dietlimoos strebt eine höhere Dichte an als im bestehenden innerstädtischen Sihlfeld und hat ungefähr 147 Einwohner:innen pro Hektar eine dreimal so hohe Bevölkerungsdichte als der städtische Durchschnitt. Trotzdem zieht der Idaplatz täglich fünfmal so viele Besucher:innen an wie der Dietlimoosplatz.

Hier wird deutlich, dass Dichte alleine noch keine Stadt bildet – es bräuchte eine Frequentierung, die nur durch gute Verknüpfung mit der Umgebung zustande kommt. Bisher wurde das Tram von Wollishofen aber noch nicht bis nach Adliswil erweitert.

Zu Besuch am Knotenpunkt «Dübendingen»

Es ist Nachmittag, das Tram zirkelt entlang seines gewohnten Wendekreises und hält an. Wir steigen aus und geniessen die Gelassenheit des Ortes, kaum vorstellbar, dass der Bahnhof Stettbach mit 30’000 Menschen pro Tag frequentierter als der Bahnhof Wiedikon ist.

Wir suchen nach Indizien, die den Verlauf der Grenze offenlegen, finden aber keine.

Als wir die Plastikverpackung unseres z’Vieris entsorgen, tauchen plötzlich Fragen auf: Welche der beiden Gemeinden kümmert sich hier um die Abfallentsorgung? Teilen Sie sich diese Aufgabe, oder gibt es ein eigenes Abfallamt für Stettbach?

Der Bahnhof Stettbach ist, im Gegenteil zum Dietlimoos, gut vernetzt. Durch die Station verläuft eine planerische Grenze und markiert den Übergang zwischen Dübendorf und Schwamendingen, unsichtbar und fliessend. 

Die städtebauliche Morphologie im angrenzenden Quartier Hochbord erinnert uns stark an das, was wir in Adliswil erfahren haben: Eine insulare Satellitenstadt wird durch Infrastrukturen von den umgebenden Freiflächen getrennt. 

Auf dem Rückweg zum Bahnhof Stettbach wird klar, er ist nicht mehr nur ein Knotenpunkt für Verkehr, sondern ein neu entstandene Zentralität, eine Verbindung zwischen Schwamendingen und Dübendorf – «Dübendingen». 

Bahnhof Stettbach
Am Bahnhof Stettbach entsteht ein neues Stadtzentrum. (Bild: zvg)

Uns wird bewusst, dass die Vorstellung eines weitläufigen Stadtrands mit ausufernden Siedlungsresten in den Grenzräumen längst überholt ist. In den ursprünglichen «Leerräumen» bilden sich jetzt neue Zentren, welche alte Siedlungskerne verbinden und Schwellen verschwinden lassen. Das alte «Ausserhalb» wird zum neuen «Innerhalb». Die Grenze ist nicht mehr ein Ort der Distanz, sondern ein Ort der Nähe. 

Es sind Schwellenräume wie «Schlierstetten», «Adlishofen» und «Dübendingen», an denen «Grosszürich» entsteht, denn hier nehmen die neuen Zentren grenzübergreifend Einfluss und bieten verschiedenste Funktionen für umliegende Quartiere. Sowohl Freizeit-, als auch Wohn- und Verkehrsräume werden grenzübergreifend genutzt – die Kommunen bauen aufeinander zu und aufeinander auf. Fussballvereine, Schrebergärten, Hochhäuser und International Schools prallen aufeinander und kreieren Reibung.

So entstehen neue Formen von Urbanität, die sich deutlich von innerstädtischen Mustern unterscheiden – aber genau deshalb für eine Stadt, die über ihre politischen Grenzen zusammenwächst, wichtig werden.

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