Sommerserie: Ich bin einmal um die ganze Stadt gewandert
52 Kilometer, 127 Strassen, viel Wald und noch mehr Schmerzen: Ein Erfahrungsbericht über eine Wanderung entlang der Stadtgrenze von Zürich.
Tauchen im Zürichsee, die Stadtgrenze abwandern, in jeder Bar an der Langstrasse ein Bier trinken: Für die aktuelle Sommerserie haben wir uns an Dinge herangewagt, die wir in dieser Stadt noch nie gemacht haben.
5.30 Uhr: Martastrasse, 0 Kilometer
Weckerklingeln. Blick auf die Uhr. Wieso zur Hölle muss ich so früh aufstehen? Dies war mein erster Gedanke im Halbschlaf. Nach ein paar Atemzügen wird mir bewusst, dass ich heute mit Jonas aus unserem Team die Stadt Zürich umwandern werde. Hoffentlich! Denn am Vorabend war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich dies schaffen werde. Grund dafür war meine Last-Minute-Google-Recherche zum Thema. In Foren, in denen über lange Märsche diskutiert wurde, stand zum Beispiel: «Bereite dich vor!». Unsere Vorbereitung besteht aus Sandwiches machen wie zu Schulreise-Zeiten, ein paar Riegel und Früchte in den Rucksack packen sowie eine Liste mit den 127 Strassen- und Wegnamen ausdrucken, denen wir entlang laufen werden. Ob das als optimale Vorbereitung gilt, werden wir bald am eigenen Leib erfahren.
6.30 Uhr: Tramhaltestelle Stauffacher, immer noch 0 Kilometer!
Hier habe ich mit Jonas abgemacht, der mich am heutigen Tag begleitet. Ich bin ein Tram zu früh. Jonas auch. Er sitzt vor dem Coop Pronto und isst einen Wrap. Ich staune. Mir ist noch gar nicht danach, etwas zu essen. Gemeinsam fahren wir bis zum Bahnhof Tiefenbrunnen, wo unsere heutige Mission startet. Noch kurz ein Selfie. Auf der gegenüberliegenden Seeseite die Rote Fabrik, unser heutiges Ziel.
6.56 Uhr: Chüpliweg, 1 Kilometer
Hier schon an Cüpli zu denken, wäre unvorteilhaft. Denn vor uns liegen noch 51 Kilometer, 1100 Höhenmeter und einige Stunden Marschzeit. Auf den ersten Kilometern gehen wir an der Grenze zwischen dem Zürcher Quartier Riesbach und dem steuergünstigen Zollikon, wo uns vor allem Menschen mit dem E-Bike auf dem Weg zur Arbeit entgegen flitzen. Wir blicken immer wieder auf unseren GPS-Tracker und die zurückgelegte Anzahl Kilometer. Wir werden ungeduldig. Wir möchten, dass es schneller voran geht. Wir entscheiden uns, zu joggen und fragen uns gleichzeitig, ob das eine gute Idee ist. Die Spaziergänger:innen grüssen uns freundlich. Die Schafe am Wegrand schauen uns nur komisch an.
8.59 Uhr: Schwamendingen-City, 12 Kilometer
Die Teilstrecke vor Schwamendingen ist vor allem durch Wald geprägt. Vor allem Tiere ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Katzen, Kühe und eben auch Schafe. Die erste Mini-Drei-Minuten-Pause machen wir neben einer Kuhwiese. Kurz einen Riegel essen, etwas trinken und dann weiter. Wir wollen vor dem Mittag am Katzensee sein.
9:37 Uhr, Auzelg, 16 Kilometer
Wir passieren die Siedlung Auzelg, eine ehemalige Kleinhaussiedlung mit grossen Gärten, die ursprünglich für arbeitslose Menschen gebaut wurde. Hier ist es sehr idyllisch. Aber nur bis ich mich 180 Grad um die eigene Achse drehe und die Autobahn sehe. Uns fällt das Restaurant Aubrugg auf, das sich direkt unter der A1 befindet und so aussieht, als wäre das Interieur seit Jahren nicht mehr ausgewechselt worden. So wird auch der Meetingraum, den du hier im Restaurant mieten kannst, inklusive Hellraumprojektor angepriesen. Nice!
10.57 Uhr: Katzensee, 27 Kilometer
Erste grössere Pause. Obwohl ich die Füsse seit ein paar Kilometer vermehrt spüre und ich mich in immer kürzeren Abständen frage, wieso wir uns diese Umwanderung der Stadtgrenze überhaupt antun, sind wir bis hierher immer wieder ein bisschen gerannt. Die Cola und der Nussgipfel im Strandbad Katzensee lassen diese Gedanken aber schnell verfliegen. Trotzdem träumten wir zu diesem Zeitpunkt von einem Eisbad für unsere Füsse. Apropos Eis. Vor der Erfindung von Eismaschinen wurde im Winter aus dem Katzensee Eis abgebaut und in grossen Lagerhäusern monatelang aufbewahrt.
12.44 Uhr: Schlieren, 35 Kilometer
Hönggerberg und somit Hügel Nummer zwei liegen hinter uns. Wald, Friedhof, ruhiges Wohngebiet, Limmat-Uferweg, Industriezone und dann Bauernhof. Die Umgebung verändert sich im Minutentakt, wie auch unsere Stimmung. Plötzlich stehen wir am Fusse des Üetlibergs und einem Wanderwegzeichen. 1 Stunde 55 Minuten soll es bis zum höchsten Punkt unserer Wanderung gehen. Bevor wir den Aufstieg in Angriff nehmen, machen wir mitten im Wald eine Pause. Ich esse eine Banane und Jonas raucht eine Zigarette. Wie richtige Profis!
14.38 Uhr: Uto Kulm, 42 Kilometer
Der höchste Punkt unserer Tour auf 869 m.ü.M. kommt immer näher. Die Schmerzen nehmen zu. Jonas geht vor mir. Immer öfters höre ich aus seinem Mund die Wörter Holy F***. Hier oben wird dieser dann aber gefüllt mit einer Jumbo-Portion Pommes. Ich verschlinge meine restlichen Sandwiches und wage mich an ein Radler. Es herrscht eine Stimmung, als hätten wir unser Ziel nach der Marathondistanz schon erreicht, obwohl noch zehn Kilometer vor uns liegen.
15.31 Uhr: Abstieg Uetliberg, 47 Kilometer
Das Knie von Jonas lässt sich nicht mehr richtig biegen. Der Abstieg wird zur Qual. Bei jedem Brunnen wird das Kniegelenk gekühlt. Aber jetzt, nur fünf Kilometer vor dem Ziel, wollen wir nicht aufgeben. Wir überlegen uns, ob wir es auch schaffen würden, die andere Person bis ins Ziel zu tragen.Wahrscheinlich eher nicht! Und dies möchte ich meinen schmerzenden Fusssohlen nun wirklich nicht zumuten. Dann lieber aufgeben. Wir werden immer ruhiger, reden immer weniger. Wir haben wohl beide nur noch eines im Kopf. Unser Ziel, die Rote Fabrik, möglichst bald zu erreichen. Das Einzige was wir uns noch gegenseitig fragen ist, ob bei der anderen Person alles in Ordnung ist. Und dies gefühlt schon über 100 Mal.
16.32 Uhr: Rote Fabrik, 52 Kilometer
Die letzten Meter vor dem Zieleinlauf führt den Rumpumpsteig hinunter. Etwa so wie dieser Name klingt, fühlt sich auch unsere Rumpeldipumpel-Gangart an. Die Zielgerade der Stadtumwanderung führt uns über das Gelände der Roten Fabrik. Als wir hier ankommen steht gerade die Band Black Sea Dahu auf der Bühne, macht Soundcheck und spielt ihren Hit «In Case I Fall For You». Wir blicken über den Zürichsee zum Bahnhof Tiefenbrunnen. Vor zehn Stunden standen wir auf der gegenüberliegenden Seite. Damals hatten wir 52 Kilometer und 1100 Höhenmeter vor uns. Jetzt schon hier zu stehen, lässt mir Zürich sehr klein vorkommen. Wir setzen uns, sind froh und stolz, dass wir es geschafft haben. Wir überlegen uns, wie lange es wohl dauern würde, um Städte wie Tokyo, Mumbai oder Mexiko City zu wandern. Wohl Tage! Vielleicht sogar Wochen?
17.00 Uhr: Tsüri-Büro, Glasmalergasse, Epilog
Wir haben keine Lust mehr, uns irgendwie anzustrengen. Schon der Gang zur nächsten Haltestelle des öffentlichen Verkehrs ist zu mühsam. Wir bestellen ein Uber zurück ins Büro. Wir sagen dort kurz «Hallo» und posieren für das Siegerfoto. Darauf strahlen wir, wollten aber eigentlich nur noch eines: Unter die Dusche. Auf den letzten Metern nach Hause beginnt es zu regnen. Als alle anderen Menschen Schutz im Trockenen suchen, gehe ich einfach weiter. Mir ist nach diesem Tag irgendwie alles egal. Ich will nur noch nach Hause und meine Schuhe ausziehen.
Fazit: «Es war ein tolles Erlebnis, aber nochmal würde ich es nicht machen!»
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Eigentlich im Klassenzimmer zu Hause, verschlug es Emilio während der Corona-Pandemie unerwartet in den Journalismus. Nach mehreren Jahren als Primarlehrer tauschte er 2020 die Schulbücher gegen den Newsfeed und startete mit einem Civic Media Praktikum bei Tsüri.ch. Dort blieb er als Projektleiter, zog dann für zwei Jahre weiter zu Ron Orp. 2025 kehrte er dann wieder zurück – mit frischem Blick, neuen Ideen und derselben Neugier für die Stadt und ihre Menschen.