Sicherheitschef: «Die Street Parade ist ein logistisches Meisterwerk»

Für einen reibungslosen Ablauf der Street Parade braucht es viele Einsatzkräfte, Teamarbeit und Erfahrung. Ein Gespräch mit dem Sicherheitschef Marcel Hirschi über Glasscherben, Gewitter und den Blick in die Glaskugel.

Marcel Hirschi Sicherheitschef Street Parade
1997 war Marcel Hirschi das erste Mal als Security an der Street Parade im Einsatz. Inzwischen ist er mit seiner eigenen Firma für die Sicherheit verantwortlich und sitzt im Vorstand des Vereins Street Parade Zürich. (Bild: Dominik Fischer)

Mehr als 900’000 Besucher:innen zog die Street Parade in den letzten drei Jahren jeweils an – stellt Sie das als Sicherheitschef vor grössere Herausforderungen?

Über einen einzelnen Tag gibt es kaum eine grössere Veranstaltung als die Street Parade. Um die Sicherheit zu gewährleisten, braucht es gute Planung und die Koordination mit etlichen Abteilungen. Mit der Stadt mussten wir dieses Jahr wegen der hohen Gewichtsbelastung um die Genehmigung kämpfen, über die Quaibrücke zu dürfen. Nach Vibrationsmessungen kam die Entwarnung. Ausserdem können wir dieses Jahr den Bürkliplatz wegen einer Baustelle nicht für unsere Zurich Sound Stage nutzen. Deshalb bauen wir eine neue Bühne – das bedeutet neue Personenumleitungen, neue Kameras, neue Kommunikation.

Eine riesige Koordinationsaufgabe. Mit welchen Abteilungen und Organisationen stehen Sie dafür im Austausch?

Mit allen, die in irgendeiner Form involviert sind: von der SBB, Schutz & Rettung, die Polizei bis zur Grünstadt Zürich, den WC-Anlagen, dem Verkehrsbetriebe Zürich, der Forchbahn. Für jeden Stein in dieser Stadt ist jemand zuständig. Diese enge Zusammenarbeit mit der Polizei, dem öffentlichen Verkehr und städtischen Organisationen, ist weltweit einzigartig. So informiert uns die SBB genauestens darüber, wie viele Menschen wann aus welcher Richtung an die Street Parade anreisen.

Und wie viel Sicherheitspersonal ist am Samstag im Einsatz? 

Rund 2’500 Personen. Davon sind etwa 700 bis 800 professionelle Sicherheitskräfte unter meiner direkten Leitung, mit denen ich aus der Einsatzzentrale heraus in Funkkontakt stehe und die das Notfall-Management übernehmen könnten. Aber auch Barpersonal, WC-Teams oder Rayonleiter:innen sind Teil des Sicherheitskonzepts. Jede:r kann einen Vorfall melden – so vermeiden wir blinde Flecken.

Und dazu kommen noch die Einsatzkräfte der Polizei?

Ja, alle Zürcher Polizeieinheiten sind präsent: Neben der kommunalen, städtischen, kantonalen und Bundes-Polizei sind das auch die Wasserschutzpolizei, Interventionseinheiten, Verkehrsdienst, Fahndung und Gewerbeaufsicht. Sie alle sind in der Sicherheitszentrale mit uns vertreten. Diese enge, zentrale Zusammenarbeit ist europaweit einzigartig.

Street Parade
Erst nach Vibrationsmessungen kam die Entwarnung: Auch dieses Jahr darf die Street Parade wie gewohnt über die Quaibrücke ziehen. (Bild: Verein Street Parade Zürich)

Auch am Openair Frauenfeld und dem Zürich Openair sorgen Sie mit Ihrem Team für Sicherheit. Ist der Einsatz an der Street Parade für Sie etwas Spezielles, oder ein Arbeitstag wie jeder andere?

Die Street Parade ist einzigartig. Sonst wäre ich nicht seit Jahren dabei und seit vier Jahren im Vorstand. Aber der Ablauf ist für mich ähnlich wie bei anderen Veranstaltungen. Ich rede mit den Veranstalter:innen darüber, was sie auf die Beine stellen wollen, und erstelle eine Risiko-Analyse. Bloss ist bei der Street Parade alles viel grösser, ich koordiniere viel mehr Personal und es gibt viel mehr Zusammenarbeit mit anderen Behörden.

Sie hatten 1997 ihren ersten Einsatz an der Street Parade, seit 15 Jahren sind Sie Head of Security – Gibt es für Sie nach so vielen Jahren immer noch Überraschungen? Oder läuft in der Regel alles nach Plan?

Es lässt sich nicht alles kontrollieren, insbesondere das Wetter. Aber auch grössere Gruppierungen, die an der Street Parade teilnehmen, können für uns zur Herausforderung werden. Aber ich kann sagen, dass wir es in der Kommandozentrale über die Jahre immer ruhiger haben.

Apropos Wetter – wie bereiten Sie und Ihr Team sich auf Extremwetter vor?

Ein Unwetter lässt sich nicht kontrollieren, auch wenn wir schon weit im Voraus Wetter-Risikoanalysen erstellen. Hagel, Starkregen oder Sturm können theoretisch alles lahmlegen. In dem Fall zählt: Schutz von Menschen, Natur, Tieren und Bauten. Dafür brauchen wir verlässliche Informationen und Zeit. Ein Abbruch lässt sich nicht in 30 Minuten durchziehen. Wenn wir zu früh abbrechen, reagiert die feiernde Menge mit Unverständnis – und dann habe ich ein anderes Risiko erzeugt, nämlich eine trotzige Menge, die Anweisungen ignoriert.

Gab es schon Teilabbrüche? 

2019 gab es wegen einer Bombendrohung einen Teilunterbruch. Wie wir darauf reagiert haben, war ein Musterbeispiel für gute Zusammenarbeit mit den Behörden. Und im Jahr 2002 sind viele wegen des Starkregens freiwillig früh gegangen. 

Wie gehen Sie als Chef die Sicherung eines solchen Grossevents und die Koordinierung an? 

Die wichtigsten Fragen für mich sind: Welche Risiken sind realistisch – wann und mit welcher Intensität könnten sie eintreten? Und was sind die effizientesten Gegenmassnahmen? Ich muss ein Gesamtbild haben, wissen, wie sich Menschenströme bewegen und wann wie viele Leute aus welcher Richtung ins Seebecken kommen.

Wie lässt sich so eine riesige Menschenmenge koordinieren?

Fast jede Strasse zwischen dem Hauptbahnhof und dem Seebecken können wir schliessen und umleiten. Passagen wie unter der Quaibrücke hindurch sperren wir ganz ab.

Wo stauen sich die Menschen am meisten?

An diese Ecke hier beim Imbiss Riviera wollen die Leute jedes Jahr hin. Wenn hier mehr als zwei Personen pro Quadratmeter stehen, müssen wir anfangen, vom HB her umzuleiten – denn der Zugang vom Bahnhof Stadelhofen her lässt sich kaum begrenzen. Übrigens: die Quaibrücke ist für Feiernde inzwischen ziemlich angenehm. Hinaufzugelangen ist schwierig, aber auf der Brücke hat man relativ viel Platz – das wissen wir von den Kameras.

Passage unter der Quaibrücke Zürich
Passagen wie diese unter der Quaibrücke werden für die Street Parade komplett abgeriegelt. (Bild: Dominik Fischer)

Ein guter Geheimtipp. Ab wie vielen Menschen pro Quadratmeter wird es eng? 

Bei vier Personen, die sich bewegen, wird es schon ziemlich eng. Aber vor den Bühnen sind es manchmal bis zu neun Personen pro Quadratmeter — da ist keine Bewegung mehr möglich. Bei den Lovemobiles handelt es sich um 36 Meter lange Sattelzüge. Wenn sie in eine Kurve biegen, entsteht eine enorme Verdrängung. Wenn wir da nicht vorausplanen, wird es gefährlich. Deshalb braucht es Erfahrung, vorausschauendes Denken – und manchmal: Einen Blick in die Glaskugel.

Wie meinen Sie das?

Es ist ein permanentes Abwägen von allen verschiedenen Faktoren und Szenarien. Nur, wenn ich alle relevanten Informationen bekomme und miteinbeziehe, kann ich auch die richtigen Entscheidungen treffen.

Wenn es in einer Menge zu eng wird, kann es richtig gefährlich werden, ein trauriges Beispiel dafür war die Loveparade 2010, als in einem grossen Gedränge 21 Menschen ums Leben kamen. Wie gehen Sie damit um?

Solche Tragödien beobachten wir mit grosser Betroffenheit und lernen daraus. Aber unsere Organisation und Koordination befinden sich auf einem ganz anderen Level. Dort gab es nur einen einzigen Eingang, der halb so breit war wie unsere Quaibrücke und kaum Ausgänge. Für die Street Parade gibt es 36 Zufahrtsstrassen.

Die Street Parade steht für Techno und für viele auch für Exzess. Wie gehen sie mit dem Drogenkonsum der Feiernden und dem Jugendschutz um?  

Wie auch im Rest des Jahres ist an der Street Parade jede:r für sich selbst verantwortlich. Aber natürlich arbeiten wir eng mit den zuständigen Stellen der Stadt zusammen. Nicht alle kommen zum exzessiven Feiern an die Parade, es sind auch viele Familien und Kinder dabei. Ich finde: Früher war es wilder. Heute achten die Leute mehr auf sich. Die meisten feiern friedlich und gehen mit einem Lächeln wieder nach Hause. Aber auch wenn sich ein Prozent von einer Million Menschen unpassend verhält, sind das immer noch sehr viele Menschen.

Street Parade Bellevue
Vor den Bühnen kann es so richtig eng werden: bis zu neun Personen pro Quadratmeter hat das Sicherheitsteam dort schon gemessen. Weniger gedrängt geht es auf der Quaibrücke zu und her. (Bild: Verein Street Parade Zürich)

Auch die Sanität ist fleissig im Einsatz. Wer landet typischerweise bei euch im Sanitätszelt? 

Ein Grossteil der Fälle – etwa 80 Prozent – sind Verletzungen durch Schnittwunden. Und das, obwohl wir selbst kein Glas verkaufen – das kommt aus Supermärkten. Das ist uns ein ziemlicher Dorn im Auge, aber leider haben wir da kaum Einfluss. Unser PET- und Dosensystem wird so untergraben – aber aufräumen müssen wir trotzdem. Neun von zehn Dosen im Müll sind nicht von uns. Das Glas sowieso nicht. Auf einem eingezäunten Festivalgelände lässt dich das viel einfacher kontrollieren.

Immer wieder fallen im Vorfeld auch die Camper:innen ums Seebecken auf. Wird das toleriert?

Dazu hatte die Stadt über die Jahre verschiedene Ansätze, aber inzwischen wird es wieder geduldet. Einmal im Jahr darf Zürich diesen Ausnahmezustand erleben.

Trotz Ausnahmezustand sind die Strassen nach der Parade blitzschnell wieder sauber.

Ja, dafür ist unser Reinigungschef und sein Team zuständig. Die Strassen müssen um 5 Uhr wieder offen sein. Um 6 Uhr morgens ist alles weg: Neun Kilometer Gitter, neun Bühnen, alle Stände und der Abfall. Das ist ein logistisches Meisterwerk. Das gilt auch für den Aufbau, mit dem wir erst am Donnerstag beginnen dürfen.

Wie geht es für Sie nach der Street Parade weiter? 

Dann beginnt die Analyse. Für uns gilt: Nach der Street Parade ist vor der Street Parade, in allen Bereichen – Kommunikation, Sicherheit, Sponsoring. Wir versuchen, möglichst schnell aufzuarbeiten, uns auf das nächste Jahr vorzubereiten und das Gelernte direkt wieder einfliessen zu lassen.

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