«Ich schaue in eine düstere Zukunft» – Muslim:innen aus Zürich erzählen
Antimuslimischer Rassismus hat in der Schweiz stark zugenommen. Wie geht es Muslim:innen aus Zürich? Fünf Menschen erzählen.
Im Kanton Zürich leben rund 100'000 muslimische Menschen. Viele von ihnen erleben täglich antimuslimischer Rassismus. «Muslim:innen werden pauschal als rückständig, gewalttätig, sexistisch oder antisemitisch betrachtet», erklärt Asmaa Dehbi im Interview mit Tsüri.ch. Ereignisse wie der 11. September 2001 oder der Krieg im Nahen Osten würden diese Denkweise weiter verstärken.
Das Narrativ, dass in jedem Muslim ein Terrorist stecken könnte, machen sich Parteien zunutze, um gegen Ausländer:innen Stimmung zu machen. In Deutschland und Österreich feiern sie damit Wahlerfolge und auch in Zürich hetzten vor kurzem rechte Kräfte mit rassistischen Flyer.
Doch wie geht es jenen, die direkt von den Auswirkungen betroffen sind? Wir haben mir fünf Muslim:innen aus Zürich gesprochen und sie gefragt, was sie aktuell am meisten beschäftigt.
Kerem Adigüzel, 37, Mitgründer des Vereins Al-Rahman
Ich bin angespannt und zwiegespalten. Mal fühle ich enorme Trauer, mal Zuversicht. Dass der Diskurs an Schärfe zugenommen hat, treibt mich um. Ich sorge mich um das seelische Fundament unserer Gesellschaft, denn statt zwischenmenschlichen Gefühlen steht die politische Situation im Vordergrund. Es herrscht viel Misstrauen, und das kann grossen Schaden anrichten. Ich sehe, wie langjährige Freundschaften auseinanderbrechen, wichtige Stimmen verstummen. Viele sind überfordert, werden ungeduldig und schliesslich wütend.
Ich freue mich einerseits besonders auf unsere nun zum fünften Mal stattfindende interreligiöse Klagefeier am 6. November um 19 Uhr in der Citykirche am Stauffacher in Zürich, wo wir genau dieser tiefen Trauer und Wut gleichzeitig Raum geben und Ausdruck verleihen. Andererseits beschämt es mich, dass es ein fünftes Mal überhaupt braucht.
«Ein Mensch ist mehr als seine Meinung.»
Kerem Adigüzel
Solche Gefühle zu empfinden, ist menschlich. Doch sie sollten uns nicht im Weg stehen, um in den Dialog zu treten. Denn trotz aller Unterschieden haben wir auch viele Gemeinsamkeiten. Auf diese sollten wir uns besinnen; ein Gebot des Korans, wie ich ihn zu leben versuche. Ein Mensch ist mehr als seine Meinung. Um das zu erkennen, müssen wir lernen, unsere Gedanken zu reflektieren und zu fragen: «Woher kommt meine ablehnende Haltung?» Das kann anstrengend sein.
Aber so ist das nun mal: Friedensarbeit passiert nicht einfach so. Es braucht unser aktives Zutun, damit sich etwas verändert. Ich würde mir wünschen, dass sich noch mehr Menschen weigern würden, aufzugeben. Dass noch mehr Menschen mutig genug sind, um ihre eigenen Denkweisen zu hinterfragen. Wir sind keine Gefangenen unserer Ideologien. Wir sind seelisch beschenkt mit der Hingabe zum Frieden.
Erst, wenn wir das verstehen, kann wieder Vertrauen entstehen. Und das benötigt es, um ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen, sich Zeit nehmen, zuhören und die Sorgen ernst nehmen – ich glaube, wir alle wünschen uns genau das. Unabhängig von Glaube, Herkunft oder politischer Gesinnung.
Nadra Bunni, 22, Studentin
Die Situation in Deutschland beunruhigt mich. Der Rechtsrutsch betrifft mich zwar nicht persönlich, doch er wirft einen dunklen Schatten auf Europa. Als junge, sichtbar gläubige Muslima schaue ich in eine düstere Zukunft. Jedes Mal, wenn ein Attentat passiert, hoffe ich, dass es kein muslimischer Täter war.
Ich weiss, dass ich mit diesen Sorgen nicht alleine bin. Sie sind angelernt, wie jener Gedanke nicht-muslimischer Menschen, die denken: «Es war sicher ein Muslim.» Ich verstehe diese Schlussfolgerung, aber sie ist brandgefährlich.
«Medien können dazu beitragen, dass sich die Wahrnehmung muslimischer Menschen in der Gesellschaft verändert.»
Nadra Bunni
Das Gute ist: Wir können Verhalten verlernen. Diese Arbeit müssen wir leisten, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Wir stehen kurz davor. Ich glaube, die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle: Solange sie es als ihren Vorteil sehen, dass ihre Klickzahlen wegen eines Attentats steigen, ist es schwierig, diese Denkmuster zu durchbrechen.
Solange sie einseitig über den Nahen Osten berichten. Sie können dazu beitragen, dass sich die Wahrnehmung muslimischer Menschen in der Gesellschaft verändert. Aktuell sind wir nicht Teil davon – zumindest nicht in Zürich.
Das habe ich erst gemerkt, seit ich in Amsterdam studiere. Das Leben als Muslima hier ist anders. Ich fühle mich akzeptiert. Frauen mit Kopftüchern sind im Alltag integriert. Ich muss mich hier nicht beweisen oder eine besonders steile Karriere hinlegen, um anerkannt zu werden. Das würde ich mir auch für die Schweiz oder Zürich wünschen.
Musa Almasoud*, 33, Ingenieur
Ich habe schon an vielen Orten auf der Welt gelebt, bin in Kuwait aufgewachsen, zum Studieren nach Australien gereist, habe danach in Dänemark gearbeitet. Seit fünf Jahren ist Zürich meine Wahlheimat.
Antimuslimischer Rassismus erlebe ich hier zum Glück selten. Was aber auch daran liegen könnte, dass Schweizer:innen meine Arbeit als positiv für die Gesellschaft wahrnehmen und meine Integrationsbemühungen schätzen.
Was mir trotzdem immer wieder auffällt: Europa hat eine Obsession mit dem Islam. Es wird viel darüber berichtet – hauptsächlich negativ – und oftmals wird kein Unterschied gemacht, woher die Person stammt. Dabei kann man nicht von «den Muslim:innen» sprechen. Wie der Glaube gelebt wird und inwiefern er die Kultur beeinflusst, ist sehr unterschiedlich. Eine Muslima aus Nigeria kann man nicht mit einem Muslim aus Pakistan vergleichen.
«Ich habe die Wahl, ob ich hier bleiben möchte – andere haben dieses Glück nicht.»
Musa Almasoud
Für mich ist meine Religion selten Thema, viele meiner Freund:innen wissen wahrscheinlich gar nicht, dass ich Muslim bin. Ich gehe hier nicht in die Moschee zum Beten, aber meine Familie ist sehr gläubig. Manchmal wünsche ich mir, dass dieser Teil meines Lebens präsenter wäre, zum Beispiel beim Feiern von kulturellen und religiösen Feiertagen.
Aber ich bin noch immer in einer sehr privilegierten Situation. Ich habe die Wahl, ob ich hier bleiben möchte oder nicht – in Kuwait hätte ich ebenfalls ein gutes Leben. Andere haben dieses Glück nicht und müssen ihre Heimat gezwungenermassen verlassen. Diesen Menschen könnte die Schweiz offener gegenübertreten.
Eya Takrouni, 21, Studentin Internationale Beziehungen und Islamwissenschaften
Als Kind habe ich mich geschämt, eine Schweizerin zu sein. Ich dachte, alle Schweizer:innen sind böse Menschen. In dem Dorf im Thurgau, wo ich die ersten Jahre gelebt habe, musste meine Familie Rassismus erleben. Meine Familie hat einen schweizerischen-tunesischen Hintergrund.
Weil ich bilingual bin und nicht Weihnachten feiere, fühlte ich mich oft ausgeschlossen und wurde auch rassistisch verbal attackiert. Mit dem Umzug nach Zürich wurde es besser. Ich war 12 Jahre alt, als ich realisierte, dass es auch nette Schweizer:innen gibt.
«Migration wird es immer geben, wir sollten sie zu schätzen lernen.»
Eya Takrouni
Solche Erfahrungen prägen mein Leben. Ich wäre gerne Rechtsanwältin geworden, doch als Muslima mit Kopftuch ist das in der Schweiz praktisch unmöglich. Statt einen Beruf zu wählen, der mir gefällt, musste ich mir überlegen, in welchem ich als muslimische Frau am wenigsten Nachteile erfahre.
Aber ich weiss, die Schweiz kann auch anders. Wir müssen beginnen, es als Vorteil wahrzunehmen, wenn viele Kulturen in einem Land aufeinandertreffen. Gerade bin ich in Melbourne. Australien ist extrem divers, muslimische Menschen sind überall vertreten – auch bei staatlichen Institutionen. Es ist hier völlig normal, eine muslimische Diplomatin oder eine Polizistin mit Kopftuch anzutreffen. Verschiedene Perspektiven bereichern die Schweiz und fördern den kreativen Fortschritt.
Dieser hat die Schweiz nötig. Sie muss politisch offener werden, sonst verpasst sie irgendwann den Anschluss. Migration wird es immer geben, wir sollten sie zu schätzen lernen und Akzeptanz gegenüber anderen Kulturen walten lassen.
Abduselam Halilovic, 33, Islamwissenschaftler
Ich trage oft mehrere Gefühle in mir. Es herrscht eine gewisse Gleichzeitigkeit. In unserem Dachverband, der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ), sehen wir, dass in den letzten Monaten antimuslimischer Rassismus in der Schweiz stark zugenommen hat.
Es gab vermehrt Angriffe auf muslimische Einrichtungen oder Personen. Doch sie werden sowohl von der Gesellschaft als auch von den Medien mehrheitlich ignoriert. In solchen Momenten fühle ich mich als Muslim nicht gesehen, nicht als Teil dieser Gesellschaft wahrgenommen.
«Muslimische Menschen sind Teil der Zürcher Bevölkerung. Wir müssen nicht eine Distanz schaffen, wo keine ist.»
Absuselam Halilovic
In meinem Berufsalltag erlebe ich hingegen immer wieder schöne Momente, in welchen ich Mut fasse. Bei der muslimischen Seelsorge habe ich oft mit Menschen zu tun, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden. Zu sehen, wie unser Team ihnen wieder Hoffnung schenken kann, berührt mich sehr.
Doch das Fundament, die Finanzierung für solche Hilfeleistungen, steht auf wackeligen Beinen. Viele wissen nicht, dass nicht anerkannte Religionsgemeinschaften, wie eben die muslimische, trotz ihres Engagements für die ganze Gesellschaft, bisher keine regelmässige staatliche Unterstützung erhalten, wie es der Fall bei den fünf anerkannten Religionsgemeinschaften ist.
Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft sehr hohe Erwartungen an muslimische Gemeinschaften hat. Aber es stehen ihnen fast keine Mittel zur Verfügung. Das ist eine schwierige Ausgangslage, wenn man beispielsweise junge Menschen erreichen möchte, die sich vielleicht radikalisieren, oder Menschen, die täglich wegen ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden oder rassistische Anfeindungen erleben.
Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir einen Diskurs führen können, wo mit Musliminnen und Muslimen gesprochen wird, statt über sie. Muslimische Menschen sind Teil der Zürcher Bevölkerung. Viele sind hier aufgewachsen, sind hier sozialisiert worden, bezahlen hier Steuern und engagieren sich für das Gemeinwohl. Wir müssen nicht eine Distanz schaffen, wo keine ist.
*Name der Redaktion bekannt.
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