«Rassismus gegenüber muslimischen Menschen ist salonfähig»

Antimuslimischer Rassismus hat in der Schweiz stark zugenommen. Nur werde darüber kaum berichtet, kritisiert Asmaa Dehbi von der Universität Fribourg.

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Rechte Parteien bedienen sich seit vielen Jahrzehnten dem Überfremdungs-Narrativ – im Fokus standen schon unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. (Bild: ETH-Bildarchiv)

Isabel Brun: In den letzten Monaten stolperte ich ein paar Mal über den Begriff antimuslimischer Rassismus. Wie unterscheidet er sich von Islamophobie oder Muslimfeindlichkeit?

Asmaa Dehbi: Letztere Begriffe gehen davon aus, dass muslimische Menschen entweder aus Böswilligkeit oder Angst diskriminiert werden. Antimuslimischer Rassismus ist aber viel mehr als das, er ist strukturell und historisch in unserer Gesellschaft verankert. 

Inwiefern?

Wie bei allen Rassismen geht es darum, durch bestimmte Vorstellungen aufgrund von Kultur, Herkunft oder Religion Fremdheit zu konstruieren. Es gibt ein Wir und die Anderen. Dabei wird dieser Gruppe der «Anderen» kollektive Eigenschaften zugeschrieben. Ungeachtet davon, ob sie auf ein Individuum zutreffen oder nicht. Bei antimuslimischem Rassismus hat diese Zuschreibung lange Tradition: Seit den Kreuzzügen herrscht in westlichen Kontexten die Vorstellung des brutalen Muslims. 

Wie zeigt sich diese Vorstellung heute im Alltag muslimischer Menschen in der Schweiz?

Ihre Religionszugehörigkeit wird quasi als Kern ihrer Eigenschaften angesehen. Muslim:innen werden pauschal als rückständig, gewalttätig, sexistisch oder antisemitisch betrachtet. Das hat Auswirkungen auf viele Lebensbereiche: Aus Befragungen weiss man zum Beispiel, dass Muslim:innen in der Schweiz schwieriger einen Job finden und im Bildungsbereich benachteiligt werden.

Oft betrifft das auch Personen, die gar nicht muslimisch sind, sondern einfach einen Namen haben, der mit Muslim:innen in Verbindung gebracht wird. 

Laut der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) wurden im Jahr 2023 rund 24 Prozent mehr rassistische und antisemitische Vorfälle gemeldet als im Vorjahr – darunter auch antimuslimischer Rassismus. Grund sei der Krieg im Nahen Osten. Inwiefern hängt das zusammen?

Die Eskalation im Nahen Osten gilt als sogenanntes Schlüsselereignis. Dabei rücken Minderheitengruppen wie Muslim:innen und Jüdinnen und Juden in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Unabhängig davon, ob sie etwas damit zu tun haben wollen oder nicht, entsteht ein Druck, sich positionieren zu müssen. Dasselbe passierte mit Muslim:innen auch nach dem 11. September 2001 oder während der Debatte um das Verhüllungsverbot in der Schweiz 2021.

Nach dem Messerattentat im deutschen Solingen im August verlangte man von Muslim:innen, dass sie sich positionieren, als bekannt wurde, dass der Angreifer im Namen der islamistischen Terrororganisation IS handelte.

Es ist ein bekanntes Phänomen. Muslim:innen sollen für Taten von Extremist:innen Rechenschaft ablegen. Dabei wird einfach darüber hinweggesehen, dass sich auch Muslim:innen vor Terrorismus fürchten.

Vielleicht wünscht man sich von der islamischen Community mehr Einsatz in der Präventionsarbeit.

Ich kann diesen Wunsch nachvollziehen. Doch muslimische Organisationen sind nicht alleine dafür verantwortlich, Jugendliche davon abzuhalten, sich zu radikalisieren. Dafür haben Sie auch zu wenig Mittel zur Verfügung. Zudem ist der Glaube an den Islam nur ein Puzzleteil eines Radikalisierungsprozesses. Soziale Faktoren oder auch Ausgrenzungserfahrungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Entsprechend ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, eine Radikalisierung bei jungen Menschen frühzeitig vorzubeugen.

«Menschen mögen keine komplizierten Dinge, doch das Leben ist nicht schwarz-weiss.»

Asmaa Dehbi

Rechte Kräfte sehen dies anders. Vor wenigen Wochen tauchten in Zürich Flyer mit der Aufschrift «Gratis-Studium für abgewiesene Islamisten?» auf. Hintergrund ist die Abstimmung über das Bildungsgesetz am 22. September. Es fordert, dass vorläufig aufgenommene Asylsuchende früher eine Ausbildung absolvieren können. Für die Verteilaktion war das Egerkinger Komitee zuständig. Jener Verein, der die Minarett-Initiative zur Abstimmung gebracht hat. Wieso funktioniert die Stimmungsmache gegen Muslim:innen in der Schweiz so gut?

Weil antimuslimischer Rassismus salonfähig ist. Das mutmassliche Sicherheitsrisiko bietet quasi die Legitimation, muslimische Menschen zu diskriminieren. Antimuslimischer Rassismus ist so normalisiert, dass es von der Mehrheitsgesellschaft nicht als Diskriminierung wahrgenommen wird. Nach dem Motto: In jedem Muslim könnte ein Terrorist stecken. Dieses Stereotyp machen sich rechte Parteien zunutze. Dass es ihnen vor allem um andere Forderungen geht, lässt sich damit gut kaschieren. 

Man nimmt die drohende «Islamisierung» als Vorwand, um gegen Migration vorzugehen?

Migrationsfeindliche Positionen profitieren von diesem Vormarsch-Narrativ. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Begriff der Überfremdung immer wieder anderen Minderheitengruppen zugeschrieben wurde: In den 1920er-Jahren waren es Jüdinnen und Juden, später die italienischen Gastarbeiter und schliesslich die muslimische Bevölkerung. 

Dabei haben viele der Muslim:innen einen roten Pass: 36 Prozent der 400’000 über 15-Jährigen sind eingebürgert, sind also Schweizer:innen.

Das ist ja das Widersprüchliche daran. Die Gesellschaft verlangt von muslimischen Schweizer:innen, dass sie sich anpassen, sich integrieren. Im selben Atemzug werden sie stigmatisiert; als gewalttätig und rückständig bezeichnet. Es kann sehr frustrierend sein, kollektiv in die Täterrolle gerückt zu werden.

Jemand erzählte es mal so: Wenn sie als Muslimin mit Kopftuch bei Rot über die Ampel geht, gehen unzählige Musliminnen mit ihr über die Strasse. Als wäre sie für das Handeln von Muslim:innen auf der ganzen Welt verantwortlich. 

Wie schaffen wir es, von dieser verkürzten Denkweise wegzukommen?

Als ersten Schritt müssen wir anerkennen, dass antimuslimischer Rassismus existiert, dass es ein strukturelles Problem darstellt. Das schaffen wir durch Sensibilisierung. Menschen mögen keine komplizierten Dinge, doch das Leben ist nicht schwarz-weiss. Es gibt nicht Gut und Böse, auch wenn das politische und mediale Debatten gerne suggerieren. 

«Unterschwellig herrscht das Gefühl, muslimische Personen hätten es verdient, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.»

Asmaa Dehbi

Einige Stimmen kritisieren im Diskurs über den Krieg im Nahen Osten, dass der Seite der muslimischen Bevölkerung zu wenig Rechnung getragen wurde. Wie sehen Sie das?

Ich bin keine Nahost-Expertin, deshalb kann ich dazu keine fundierte Aussage machen. Aber grundsätzlich spielen Medien eine wichtige Rolle, wie Bevölkerungsruppen in einer Gesellschaft wahrgenommen werden. 

Als Ende vergangenes Jahr in Zürich ein Jude von einem Jugendlichen mit einem Messer schwer verletzt wurde, war das Medieninteresse enorm gross. Bei einem Angriff in Bad Ragaz auf zwei Muslime hingegen blieb der Aufschrei aus. Warum fällt es der Gesellschaft so schwer, einen Angriff auf eine muslimische Person als antimuslimischen Rassismus zu werten?

Das ist eine gute Beobachtung. Weil Muslim:innen kollektiv verdächtigt werden, Täter:innen zu sein, während für die Mehrheitsgesellschaft die Unschuldsvermutung gilt. Unterschwellig herrscht das Gefühl, muslimische Personen hätten es verdient, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Dieses Schema sieht man übrigens auch sehr oft bei weiblich gelesenen Musliminnen. 

Können Sie das ausführen?

Sexismus und antimuslimischer Rassismus sind sehr eng miteinander verwoben. So gelten sichtbare Musliminnen, die ein Kopftuch tragen, als nicht emanzipiert oder bildungsfern. Man geht quasi davon aus, dass sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit unterdrückt werden – und zum Beispiel selber daran schuld sind, wenn sie in ihrer Beziehung Gewalt erfahren. Das ist hochproblematisch.

Könnte es helfen, wenn wir besser verstehen würden, weshalb manche Musliminnen ein Kopftuch tragen?

Für einige wenige könnte dies einen Unterschied machen. Aber ich denke, wir müssen noch viel früher ansetzen. Als allererstes müssen wir uns eingestehen, dass wir rassistische Denkmuster gegenüber muslimischen Menschen internalisiert haben. Erst, wenn wir das verstanden haben, können wir antimuslimischen Rassismus bekämpfen. Deshalb werte ich es als positives Zeichen, dass sich der Begriff in der Wissenschaft und den Medien langsam etabliert hat. 

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