Verurteilter Sexualstraftäter aus Zürich gibt sich erneut als Talentscout aus

Als Modelagent belästigte er zahlreiche junge Männer. Heute gibt er sich als Musikagent aus und scheint gleich vorzugehen wie bei früheren Übergriffen. Was, wenn sich ein verurteilter Sexualstraftäter wieder genau gleich verhält?

Ein Mann steht vor einem Fenster in einem dunklen Raum
Ein 23-Jähriger lernt einen Musikagenten kennen. Dann findet er heraus, dass dieser als Modelagent zahlreiche junge Männer belästigt hat. (Bild: Unsplash, Symbolbild)

An einem warmen Samstagabend Anfang Juli steigt Diego Rüegg in den Bus Richtung Helvetiaplatz. Ihm gegenüber sitzt ein gepflegter Mann Ende dreissig in Trainerhosen und Adiletten. Er verwickelt den 23-jährigen Diego in ein Gespräch, fragt schliesslich, ob er noch mit in eine Bar komme. Diego sagt, er sei müde. Doch der Mann lässt nicht locker: «Komm, nur auf einen Drink.» Diego lehnt erneut ab.

Als der Mann vorschlägt, Instagram-Profile auszutauschen, willigt Diego ein. Der Mann sieht, dass Diego Musik macht und behauptet, Musikagent zu sein und «Booking-Sachen» zu machen.

Diego, der eigentlich anders heisst und hier anonym bleiben möchte, spielt in einer Band. Er hat schon unzählige Anfragen an Agenturen verschickt und verzweifelt zunehmend an der Musikbranche. Und da trifft er plötzlich jemanden, der ihm beim Durchbruch verhelfen kann. Er denkt sich: «Krass, das könnte meine Chance sein!» und geht mit ihm mit. Wenige Tage später wird Diego sagen: «Ich war so naiv.»

Denn dem angeblichen Musikagenten scheint es nicht um die Musik zu gehen. In einer Bar im Langstrassenquartier berührt er Diego immer wieder, umarmt ihn und setzt ihn unter Druck. So erzählt es Diego. In dem Moment versteht er nicht richtig, was passiert, und weist den Musikagenten zögerlich zurück.

Der Mann trinkt schnell und viel, verschwindet oft auf die Toilette. Er drängt sich Diego auf, fasst ihn immer wieder an, wirft ihm vor, die Karriere nicht wirklich zu wollen – «sonst wäre er bereit, Opfer zu bringen».

Für Diego ist klar, was gemeint ist. Als er ablehnt, entgegnet der Agent: «Du weisst schon, dass ein Blowjob von einem Mann viel geiler ist als von einer Frau.»

Der Agent wird zunehmend unbeherrscht. Doch Diego beginnt sich zu wehren. Dann bezahlt der Agent die Rechnung und geht.

Erst später auf dem Nachhauseweg erinnert sich Diego an eine Geschichte, die sich in seinem Freundeskreis Jahre zuvor zugetragen hatte. Eine kurze Recherche bestätigt seinen Verdacht. Der angebliche Musikagent ist ein verurteilter Sexualstraftäter, der zahlreiche junge Männer sexuell belästigt hatte und unter anderem wegen Schändung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Wer ist «James N.»?

2020 stand ein Modelagent in Zürich im Zentrum eines Skandals. Über Jahre hinweg hatte er junge, männliche Models sexuell belästigt. Ein Instagram-Account brachte den Fall ins Rollen. Darauf wurden die Erfahrungsberichte mutmasslicher Opfer sowie Chatverläufe, die der Agent mit ihnen geführt haben soll, veröffentlicht. Danach meldeten sich immer mehr Betroffene. Der Blick berichtete regelmässig über den Fall und nannte den Modelagenten «James N.»*

Die Taten folgten stets dem gleichen Muster. James N., Inhaber einer Modelagentur, suchte gezielt junge Männer mit Modelambitionen, spielte mit ihren Hoffnungen auf eine Karriere im Modebusiness – und mit ihrer Unerfahrenheit.

«Zeig, dass du heiss und spitz bist. Und nicht schüchtern. Das macht ein Topmodel aus», war in Chatverläufen zu lesen, die im Internet kursierten. Immer wieder versprach James N. seinen Schützlingen eine grosse Zukunft in der Modelbranche, während seine Avancen zunehmend schamloser wurden.

Schliesslich kam es zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft sowie mehrere Privatkläger. Zwischen 2011 und 2020 soll James N. sexuelle Übergriffe an 16 jungen Männern verübt haben, die zur jeweiligen Tatzeit zwischen knapp 16 und 27 Jahre alt waren. Während Fotoshootings soll er die jungen Männer an den Geschlechtsteilen berührt, sich an ihnen gerieben und sie geküsst haben. Die Vorwürfe reichen in einem Fall bis zur analen Penetration im Schlaf. 

Das Gericht sprach den Agenten schuldig wegen sexueller Nötigung, Schändung, sexueller Handlungen mit einem Kind und sexueller Belästigung. «Seine Beweggründe waren rein egoistischer Natur, er wollte seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen», heisst es im Urteil des Zürcher Obergerichts von 2022

Der Beschuldigte habe bewusst ein Abhängigkeitsverhältnis aufgebaut, das er schliesslich ausnutzte, um sie sexuell zu missbrauchen.

Laut Urteil wurde eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 28 Monaten verhängt. Von den 28 Monaten Freiheitsentzug waren 18 zur Bewährung ausgesetzt bei einer Probezeit von zwei Jahren.

Daraus lässt sich schliessen, dass er nach 71 Tagen Untersuchungshaft von den zehn verbleibenden Monaten noch rund sechs Monate tatsächlich absitzen musste. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte äussert sich der Zürcher Justizvollzug auf Anfrage nicht dazu, bis wann James N. in Haft war und ob ihm nach der Entlassung Auflagen oder Weisungen auferlegt wurden. 

Während des Prozesses blieb James N. uneinsichtig und sah sich als Opfer einer medialen Verfolgungsjagd. 

«Dieser Typ ist eine Gefahr für die Gesellschaft»

Lucas Thoma ist kein bisschen überrascht von Diegos Geschichte. Thoma, der ebenfalls anders heisst und hier nicht namentlich genannt werden will, war als 17-Jähriger selbst in der Modelagentur von James N. «Er versprach mir eine Karriere als Model, sagte aber immer wieder, ich sei nicht gut genug.» James N. sei übergriffig und unheimlich gewesen.

Alle Elemente aus Diegos Geschichte kennt Thoma nur zu gut: die Hochstapelei, die Abwertung, die unangebrachten Berührungen. Lucas Thoma glaubt nicht, dass das Strafverfahren oder die Verurteilung etwas bewirkt haben. «Er hat gar nie aufgehört, nicht einmal während des Verfahrens.» Da habe er seine Opfer weiter angeschrieben, sagt Thoma. «Er macht jetzt zu hundert Prozent mit dem gleichen Schema weiter. Dieser Typ ist eine Gefahr für die Gesellschaft.»

«Eine Meldung bei der Polizei lohnt sich.»

Jérôme Endrass, forensischer Psychologe

Ob ein Verhalten strafbar ist oder jemand eine Gefahr für die Gesellschaft darstelle, könne ein Gericht beurteilen, sagt der forensische Psychologe Jérôme Endrass auf Anfrage. Das gehe allerdings nur dann, wenn auffälliges Verhalten einer Behörde zur Kenntnis gebracht wird. 

Der Forensiker empfiehlt deshalb Betroffenen, sich bei der Polizei zu melden. «Selbst in den Fällen, wo noch nicht die Schwelle zur Straftat überschritten worden ist, lohnt sich die Meldung bei der Polizei. Zum einen hat man damit einen ‹Paper Trail› gelegt – was später relevant sein kann – und zum anderen hat die Polizei die Möglichkeit der Gefährderansprache», so Endrass. Das bedeute, dass die Polizei Kontakt mit dem Gefährder aufnehme, was schon in vielen Fällen einen präventiven Effekt haben kann.

Diego hat sich nicht bei der Polizei gemeldet. Doch der Abend lässt ihn nicht los. Am meisten verstört ihn, dass jemand gezielt versucht hat, ihn zu manipulieren. Das Gefühl von Machtlosigkeit hält bis heute an.

«Ich habe mich gefragt: Wie blöd und naiv bin ich eigentlich? Ich war richtig traurig und musste heftig weinen», sagt Diego.

Auch wenn er verhältnismässig unbeschadet davon kam, zeigt sein Erlebnis, dass der ehemalige Modelagent immer noch nach dem gleichen Muster vorgeht. Er sucht sich junge Männer, bei denen er eine Schwäche erkennt – der Traum von der Modelkarriere, der Einstieg ins Musikbusiness – und versucht diese gezielt für die eigene Befriedigung auszunutzen.

Konfrontiert mit den aktuellen Vorwürfen, verweigert James N. jegliche Stellungnahme.

*Name der Redaktion bekannt

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!
tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare