Psychische Belastung am Arbeitsplatz: Viel Arbeit, wenig Geld

Psychische Belastung am Arbeitsplatz wird oft mit Bürojobs assoziiert. Dabei scheint sie in Branchen wie der Landwirtschaft oder im Strassentransportwesen deutlich stärker zu sein. Tsüri.ch hat bei einzelnen Branchenverbänden nachgefragt, wie sie das Thema wahrnehmen und damit umgehen. Warnung: Im folgenden Text geht es unter anderem um Suizid.

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(Bild: Aji Maulidio Indra Rukmana via Unsplash)

Wer an die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz denkt, hat häufig das Bild abgearbeiteter Büromenschen vor Augen. Viel Bildschirmzeit und wenig Bewegung, das ist sicherlich nicht förderlich für einen gesunden Geist. Kommen dann noch Faktoren wie ein schlechtes Verhältnis zu Mitarbeitenden und Vorgesetzten oder Über- beziehungsweise Unterforderung hinzu, kann das stark auf das psychische Wohlergehen wirken.

Doch diese Annahme täuscht, denn besonders hoch ist die psychische Belastung in ganz anderen Arbeitsfeldern als in Büroberufen. Eine Studie von Unisanté, dem Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit in Lausanne, die 2019 im Tages-Anzeiger vorgestellt wurde, schlüsselte 20’000 Suizide zwischen 1990 und 2014 nach Branchen und Tätigkeiten auf. Ihr Ergebnis: Suizidgefährdet sind, nach Arbeitslosen beziehungsweise Stellensuchenden, in erster Linie Menschen in der Landwirtschaft, in Pflegeberufen oder im Strassentransportwesen.

Zwar kann man nicht automatisch davon ausgehen, dass die Suizidgefährdung ein Indikator für die allgemeine psychische Gesundheit der Beschäftigten in einer Branche ist. So kann eine Arbeit für insgesamt viele Arbeitnehmende psychisch belastend sein, ohne dass die Belastung so stark wird, dass es bis zum Suizid kommen kann. Das Arbeitsumfeld ist ausserdem auch selten der einzige Grund für einen Suizid. Trotzdem zeigt die Studie von Unisanté deutliche Zusammenhänge von gravierenden psychischen Belastungen und bestimmten beruflichen Tätigkeiten. Tsüri.ch hat bei den einzelnen Branchenverbänden nachgefragt, wie sie das Thema psychische Belastung am Arbeitsplatz wahrnehmen und was sie in diesem Zusammenhang tun.

Landwirtschaft

Viel frische Luft, eine sinnhafte Beschäftigung – aus städtischer Perspektive erscheint ein Beruf in der Landwirtschaft als Inbegriff der gesunden Lebensführung. Doch gerade hier waren die Suizidraten in den letzten 30 Jahren gegenüber der Durchschnittsbevölkerung besonders hoch. Bei tierwirtschaftlichen Berufen wie Geflügelzüchtern war das Suizidrisiko um satte 71 Prozent höher als in der restlichen männlichen Bevölkerung, bei Hilfsarbeitern in der Landwirtschaft und Fischerei um 34 Prozent, bei Ackerbauern um 17 Prozent. 

«Es gibt viel zu arbeiten und wenig zu verdienen.»

Sandra Helfenstein, Kommunikationsleiterin beim Schweizer Bauernverband

Sandra Helfenstein, Kommunikationsleiterin beim Schweizer Bauernverband, sieht als Grund für die scheinbar hohen psychischen Belastungen verschiedenste Faktoren, die auf einem Bauernhof zusammenkämen: Zum einen sei da der wirtschaftliche Druck, der auf den Betriebsleiter:innen, die ja gleichzeitig auch Unternehmer:innen seien, laste. Es gebe viel zu arbeiten und wenig zu verdienen. Die Anforderungen gingen weit über das Landwirtschaftliche hinaus, umfassten technisches Handwerk, buchhalterische Grundlagen und Verkaufsgeschick, so Helfenstein. Zum anderen fehle die räumliche Trennung von Arbeit und Privatleben, was zwischenmenschliche Spannungen fördern könne. Man sei auch zwischen den Generationen aufeinander angewiesen, was nicht immer reibungslos funktioniere. Oft führten mehrere solcher «Baustellen» am Ende zu Suiziden, es seien meist Kombinationen aus wirtschaftlichem Druck, zu wenigen Perspektiven und zwischenmenschlichen Problemen.

In der Branche sei es «noch wenig Usus, sich bei Problemen Hilfe zu suchen», so Helfenstein. Für Beschäftigte in der Landwirtschaft, die aufgrund psychischer Belastungen Hilfe benötigen, gibt es beim Bauernverband eine Webseite mit einer Übersicht über Hilfsangebote auf kantonaler und nationaler Ebene. Zudem unterstütze man Hilfsangebote wie das bäuerliche Sorgentelefon.

Der Druck äussere sich beim Bauernverband meist in Form von Aufträgen, als Interessenvertretung für die Branche einzustehen. «Viele Bauernfamilien sind so damit beschäftigt, den Kopf über Wasser zu halten, dass sie jegliche neue Auflagen an die Landwirtschaft ablehnen», sagt Helfenstein: «Denn diese bedeuten meist mehr Arbeit, weniger Ertrag, schlechteres Einkommen.» Der Bauernverband engagiere sich deshalb vor allem für bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen.

Im Gegensatz zu Männern ist das Suizidrisiko übrigens für Frauen in der Landwirtschaft laut Unisanté nicht erhöht. Im Gegenteil: Ackerbäuerinnen und Tierhalterinnen sind um 48 Prozent weniger vom Risiko betroffen als die weibliche Durchschnittsbevölkerung. Eine gesicherte Erkenntnis, warum das so ist, scheint es beim Bauernverband bisher nicht zu geben, eine Vermutung allerdings schon: «Spontan würde ich sagen, dass Frauen besser darin sind, über ihre Probleme mit Freund:innen zu sprechen und sich auch nicht scheuen, professionelle Hilfe zu suchen und anzunehmen», meint Sandra Helfenstein.

Strassentransportwesen

Anders als in der Landwirtschaft ist das Suizidrisiko bei Frauen, die als LKW-, Bus- oder Taxichauffeurinnen arbeiten, um einiges höher als bei ihren männlichen Berufskollegen: Während diese lediglich einem zu 16 Prozent erhöhten Risiko ausgesetzt sind, liegt es bei weiblichen Arbeitnehmerinnen um 98 Prozent höher als in der Gesamtbevölkerung. Das zeigt die Auswertung von Unisanté. Warum der Unterschied zwischen den Geschlechtern so hoch ist, dazu mag sich der Vizepräsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV), Christian Fankhauser, kein Urteil erlauben: «Wir sind nicht in der Lage, diese Frage genau zu beantworten.»

Mit der psychischen Gesundheit speziell von Busfahrer:innen setzt sich der SEV allerdings schon länger auseinander. 2010, 2018 und 2022 hat er bereits Umfragen zur Gesundheit am Arbeitsplatz durchgeführt und dabei selbst unter anderem mit Unisanté zusammengearbeitet. Das Ergebnis der letzten Umfrage: Mehr als jede:r Dritte leidet unter Schlafstörungen, Stress, Gereiztheit oder Kopfschmerzen. Mit jeder Umfrage sei die Zahl der krankheitsbedingten Ausfälle gestiegen, so der Gewerkschafts-Vizepräsident. Eigene Beratungs- oder Unterstützungsangebote für Beschäftigte in psychischen Krisen biete man zwar nicht an, man verweise die Mitglieder aber an Organisationen wie Unisanté.

«Die Arbeitsbedingungen müssen schnell verbessert werden.»

Christian Fankhauser, Vizepräsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals

Das Hauptproblem, das die Arbeit hinter dem Steuer derart belastend mache, seien die langen Arbeitszeiten von mehr als zehn Stunden, weiss Fankhauser. Der SEV habe deshalb die Kampagne «10 Stunden sind genug» gestartet. Eine weitere Kampagne betreffe die Problematik, während langer Arbeitszeiten nicht auf die Toilette gehen zu können. Hier will man laut Fankhauser eine Anpassung der Fahrzeiten mit Einberechnung von Erholungszeiten und WC-Pausen erreichen. Des Weiteren fordere die Gewerkschaft unter anderem eigene Busspuren, um den Verkehrsstress zu verringern, sowie Sensibilisierungskampagnen bei den öV-Benutzer:innen und anderen Verkehrsteilnehmenden, da es im Strassenverkehr immer wieder zu aggressivem Verhalten komme. Eine Förderung von Teilzeitarbeitsmodellen solle den Beruf zudem attraktiver machen. «Die Arbeitsbedingungen müssen schnell verbessert werden», meint Fankhauser. Ausserdem sieht er Arbeitgeber:innen in der Pflicht, die anerkennen sollten, dass die Gesundheit am Arbeitsplatz in ihrer Verantwortung liege.

Kunst und Schriftstellerei

Dass Schriftsteller:innen und Künstler:innen jenen Berufsgruppen mit erhöhtem Suizidrisiko angehören, erscheint im ersten Augenblick wenig überraschend. Schliesslich entspricht es dem Klischee, das die Gesellschaft von Kunstschaffenden hat:  Sensible Menschen, die oft in prekären Verhältnissen leben und arbeiten. Überraschend ist dann aber doch, dass die Unisanté-Studie dieses erhöhte Risiko mit 53 Prozent gegenüber der Durchschnittsbevölkerung nur für Frauen feststellt, bei Männern dagegen kein signifikantes Mehrrisiko zu bestehen scheint.

Konkrete Aussagen zu Suizidrisiken und möglichen Ursachen möchte Regine Helbling, Geschäftsführerin des Berufsverbands Visuelle Kunst Visarte Schweiz, nicht tätigen: Sie sei nicht qualifiziert, darüber zu urteilen. Auch der Berufsverband selbst habe zu wenig Ressourcen, um eigene Beratungs- und Unterstützungsangebote zu institutionalisieren: «Das würde unsere Möglichkeiten übersteigen, gerade vor dem Hintergrund, dass alle Gemeinden in der Regel einen kostenlosen psychologischen Dienst oder Beratungen anbieten», so Helbling. Aber man versuche darüber hinaus, Menschen weiterzuvermitteln, die sich beim Verband oder einzelnen Mitarbeitenden aufgrund psychischer Probleme melden würden.

Mit dem Thema Mental Health werde man sich aber sicher in allen Kultursparten in den nächsten Jahren intensiver befassen müssen. Vieles hänge hier natürlich mit der prekären finanziellen Situation zusammen, in der viele Künstler:innen steckten. In diesem Zusammenhang engagiere man sich bereits heute für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen: Beispielsweise dafür, dass Künstler:innen Honorare für Ausstellungen bekommen, was leider immer noch nicht selbstverständlich sei. Zudem macht sich der Verband Helbling zufolge für das Urheberrecht und eine angemessene soziale Sicherung stark.

«Es braucht ein Umdenken, um anzuerkennen, welchen Stellenwert die Kunst in der Gesellschaft hat.»

Regine Helbling, Geschäftsführerin Berufsverband Visarte Schweiz

Mit diesen finanziellen Aspekten sei auch eine grundsätzliche Anerkennung des Künstler:innenberufs verknüpft: «Oft herrscht das Bild vor, Künstler:innen hätten ein schönes Leben und könnten machen was sie wollen, ohne dass sie dafür auch noch bezahlt werden müssten. Hier braucht es ein Umdenken, um anzuerkennen, welchen Stellenwert die Kunst in der Gesellschaft hat und dass professionelle Künstler:innen, die meistens ein Hochschulstudium absolviert haben, entsprechend honoriert werden müssen.»

Erwerbslosigkeit

Mehr als Beschäftigte verschiedenster Berufszweige sind Arbeitslose beziehungsweise Stellensuchende laut der Unisanté-Studie einem Suizidrisiko ausgesetzt. Bei arbeitslosen Männern sind Suizide um 95 Prozent häufiger als in der männlichen Gesamtbevölkerung, bei arbeitslosen Frauen entsprechend sogar um 111 Prozent. Leider lässt sich nicht ermitteln, wie häufig in diesen Fällen Erwerbslosigkeit der Ausgangspunkt von psychischer Belastung und wie häufig umgekehrt die psychische Belastung Ausgangspunkt für eine Erwerbslosigkeit war.

Dass Erwerbslosigkeit eine Belastung darstelle, sei erfahrungsgemäss der Fall, bestätigt Philipp Kleiser, Medienbeauftragter des kantonalen Amts für Wirtschaft und Arbeit. Die Gründe dafür seien individuell: «Die Belastung kann aus dem Verlust des sozialen Status, der Ungewissheit der beruflichen Perspektive, sozialer Isolation sowie finanziellen Einschränkungen resultieren.» Auch die Abhängigkeit von einer Sozialversicherung könne als Stress wahrgenommen werden, längere Arbeitslosigkeit wiederum könne eine dauernde Schwächung des Selbstwertgefühls zur Folge haben.

In den Regionalen Arbeitsvermittungszentren (RAV) würden psychische Belastungen auf Wunsch der Betroffenen oder bei starken Indikationen in den Beratungsgesprächen thematisiert. Der Umgang mit solchen Beratungssituationen sei Teil der Ausbildung von RAV-Personalberater:innen im Kanton Zürich: «Zielsetzung ist, dass jede betroffene Person konkrete Vorschläge zu weiteren, unmittelbaren Schritten erhält.» Auf Anfragen in dieser Richtung sowie auf Suizidgedanken oder -drohungen werde immer eingegangen.

Bei akutem Bedarf initiierten Beratungspersonen selbst erste Schrtte zur Terminvereinbarung bei Dritten, wie zum Beispiel der Dargebotenen Hand, dem psychiatrischen Notfalldienst am Universitätsspital Zürich oder der Krisenintervention in Winterthur und Zürich. Mit Einwilligung der Betroffenen werde mit behandelnden Ärzt:innen, der IV, den Sozialdiensten oder auch mit spezialisierten Beratungspersonen des Amts für Wirtschaft und Arbeit zusammengearbeitet. «Im Bereich der arbeitsmarktlichen Massnahmen stehen Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen sowie Einarbeitungszuschüsse zur Verfügung, die eine stabilisierende Wirkung entfalten und Hilfestellungen bieten können», erklärt Kleiser.

Hilfe bei Suizidgedanken

Wenn du in einer schwierigen Lage bist, kannst du Tag und Nacht die Telefonnummer 143 anrufen (Dargebotene Hand). Für Jugendliche gibt es die kostenlose Nummer 147 (Pro Juventute). Wichtige Informationen gibt es auf der Webseite reden-kann-retten.ch.

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