Poetry Slam aus einer anderen Sicht

Die Texte der Künstler*innen stehen bei diesem wortgewandten Wettbewerb im Fokus und stellen den wichtigsten Teil eines jeden Poetry-Slam-Abend dar. Doch etwas ganz Elementares geht bei jeder Veranstaltung unter.

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Dieser Text ist entstanden in Zusammenarbeit mit der technischen BMS-Klasse von Seluan Ajina. Für mehr Informationen, siehe hier.

Text: Annick Vogt

Das Publikum klatscht. Es ist hell begeistert von den Poetry-Slammern. Alles stampft mit den Schuhen, jubelt und pfeift. Der haushohe Sieger nach Punkten: Bauingenieur Eric Jansen. Sein Preis ist die obligate Whiskeyflasche. Sie wird zwischen den einzelnen Poetry-Slammern hin- und hergegeben.

Allen wird gedankt. Den Techniker*innen mit ihren Special Effects und ihrem Punktesystem, den Organisator*innen, den Barkeeper*innen, der Jury aus Publikumsbesucher*innen und dem Kasheme als Host-Café. Nur mir wird nicht gedankt. Ich als etwas ganz Wichtiges, ja sogar etwas schon fast Elementares, ich als vielleicht das Wichtigste überhaupt werde wie schon während des ganzen Abends entweder ignoriert oder zugetextet.

Alle glotzen in meine Richtung, doch niemand sieht mich

Ich stand schon da. Vor allen anderen. Bevor das elegant gekleidete ältere Ehepaar sich setzte. Bevor die langjährigen Freundinnen endlich wieder mal Zeit gefunden haben, etwas miteinander zu unternehmen und nun nicht mehr aufhören können, darüber zu reden, wie froh sie darüber sind. Bevor die mitgeschleppten Freund*innen der jungen Paare sich der klassischen Funktion des fünften Rads am Wagen hingeben und Mitleid verdienen – oder auch nicht verdienen, weil sie lediglich keine Ausrede gefunden haben, nicht als «Spassbremsen» bezeichnet werden wollten und nun fast überflüssig an der gut gefüllten Bar stehen. Bevor die Student*innen ihre FREITAG-Taschen neben den Stuhl stellen konnten. Bevor die unfreiwillig anwesenden Schüler*innen den anderen Zuschauer*innen ein Dorn im Auge werden, weil sie zu laut sind.

Vor allen anderen bin ich schon da gestanden. Einsatzbereit und im hell erleuchteten Teil des sonst gedimmten Cafés. Perfekt im Blickfeld jeder Person, auf einer provisorischen Bühne vor einem schwarzen KALLAX-Ikea-Regal, wovon jeder mindestens eines zu Hause hat. Doch keine Aufmerksamkeit wird mir gegeben, als ich langsam immer nervöser und nervöser werde.

Die Regeln des Poetry Slams

Es ist kurz nach sieben Uhr und der Raum vor mir füllt sich langsam aber stetig. Langsam ist auch der Jazz, der nur kurz im Hintergrund zwischen dem leisen Getuschel ertönt, bis dann endlich alle Besucher*innen anwesend sind. Wie die Musik im Hintergrund verstummt, werden die Regeln des Poetry Slam verlesen, die ich bereits auswendig kenne: Nur selbstgeschriebene Texte, keine Requisiten ausser Textblätter, eine maximale Dauer von fünf oder sechs Minuten und nicht mehr als 94 Prozent Gesang. Zwölf wortgewandte Künstler treten an und erhoffen sich einen Platz im Viertelfinal der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften. «Das kann ja heiter werden», denke ich mir und mache mich bereit für den Eröffnungsslammer des Abends.

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Die Achtelfinals der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften im Kasheme. (Foto: Annick Vogt)

Er ist jung und nicht sonderlich begeistert von seiner Startnummer. Er wirkt nervös, fummelt an meiner Stehvorrichtung herum, bis ich auf derselben Höhe bin wie sein Mund. Er steht ziemlich unsicher da. Man könnte meinen, er verstecke sich hinter mir, so unwohl scheint es ihm zu sein. Seine Stimme tönt fast flüsternd durch die an der Wand befestigten Lautsprecher, während nun alle Augenpaare auf ihn gerichtet sind. Doch bevor ihn die komplette Panik überkommt, wird seine Stimme doch noch etwas bestimmter, da es jetzt auch sein Selbstvertrauen auf die Bühne geschafft hat.

Er fuchtelt wild mit seinen Armen umher, um seine Wortwahl zu unterstreichen. Ich schwanke gleichsam mit, was mich schwindlig macht. Doch schnell ist die Zeit vorbei. Er kassiert 44.6 Punkte.

Vom Gangster-Rap zu Robotern

Der zweite Vortragende trägt einen Gangster-Rap aus der Perspektive von Jesus vor. «Das kann ja heiter werden», denke ich mir erneut, aber gebe die Worte trotzdem laut wieder. In seinem Text wird nichts verschont oder schöngeredet. Er gibt nebst seinen Beatbox-Künsten zu verstehen, dass Gewalt Teil der Menschen und nicht Teil der Religion ist. Wo Gewalt, da auch Liebe. Denn mit Gewalt wird oft die Liebe zur eigenen Religion gezeigt. Man will seiner Religion beweisen, wie lieb man sie hat, indem man für sie im Krieg kämpft. «Das ist doch paradox», denke ich mir und sehne mich nach mehr Liebe.

Doch was ist Liebe? Ist es ein Programm, wie der erste Roboter des nächsten Vortragenden behauptet? Oder ein Virus, wie es der zweite Roboter behauptet? Sie liefern sich technische Argumente und kommen zum Schluss, dass die Liebe so manchen Menschen um seine CPU-Leistung oder wegen der erhöhten Frequenz völlig zum Abstürzen gebracht haben muss.

Während sich nun alle fragen, was zum Teufel eine CPU ist und warum eine erhöhte Frequenz den Absturz dieser bedeuten kann, fliegen dem Poetry-Slammer, der knapp 1 Byte grossen Anzahl der anwesenden mindestens-acht-Becher-Kaffee-am-Tag-Techniker die CPUs nur so zu. Und nein, kalte Pizza wird jetzt hier nicht erwähnt, da es sich hierbei nun wirklich um ein Klischee handelt. Meistens zumindest.

Wenn Menschen Maschinen wären

Hungrig von der nicht vorhandenen Pizza und noch immer von Herzschmerz geplagt, ist mir die erste Frau des Abends eine passende Ablenkung. Sie stellt sich und dem Publikum die Frage wie es wäre, wenn Menschen Maschinen wären.

«Wenn Menschen Maschinen wären, wären meine Hüften aus perfektem Hüftgold», meint sie selbstbewusst. Diese würden unheimlich zu ihren Haaren passen, die sie goldblond gefärbt habe. Doch schliesslich gibt sie allen zu verstehen, dass sie keine Maschine zu sein habe, weil eh jeder die eine oder andere Schraube locker habe und dies auch so sein solle.

Ich verstumme. Ich werde kurz panisch, schreie innerlich wie am Spiess, kann mich nur mühsam an den schnelleren Rhythmus des CPU gewöhnen. Ich fürchte, ich könnte jeden Moment herunterfallen. Ich fange mich erst wieder, als die hüftgoldene Blondine ihres Weges geht und ein in Frieden kommender Österreicher auf die Bühne steigt und mich fest mit beiden Händen umklammert.

Sicherheit breitet sich aus und ich komme wieder zur Ruhe. Doch diese Ruhe ist nur von kurzer Dauer, da der liebe Landesnachbar offenbar doch nicht in Frieden kommt. Er versucht dem Publikum einzutrichtern, dass man Einhörnern nicht vertrauen soll. «Einhörnern?», schreie ich entsetzt, erneut mit einer höherschlagenden Frequenz der CPU. «Denen soll man nicht vertrauen? Ich seh‘ selbst aus wie eins! Ich steh‘ fest auf dem Boden mit meinen vier Beinen. Ich muss aussehen wie ein Horn und schimmere mit leichtem Goldton im Licht!» Auch das Publikum ist wenig begeistert. Sie sind sich mehrheitlich einig, dass Einhörner toll sind und damit Ende. Doch das ist doch eine Meinungsfrage? Und Meinungen sind nun mal verschieden: Sie können so stark auseinandergehen wie Pizza-Hawaii-Hasser*innen und Pizza-Hawaii-Befürworter*innen oder halt so eng beisammen sein wie zwei Finger nach der Arbeit mit dem Sekundenkleber. Meinungen sind nun mal, laut dem nächsten Poetry-Slammer, wie Kontaktlinsen und liegen im Auge der Betrachter*innen. Und obwohl der Spruch ziemlich flach ist, die Schüler*innen hier kurz die Füsse heben, sind sie dennoch alle mit ihm einig. Sie teilen sogar eine so klare Meinung, dass sie ihn für den Viertelfinal qualifizieren.

Goethe nervt Schüler*innen

Nicht für den Viertelfinal qualifizieren würde sich aber – zumindest laut der nächsten Vortragenden — Goethe: «Lest doch Leute, lest! Lest doch Leute, lest! Aber bitte, lest alles, nur nicht Ghoethe!» Während sie mit Zitaten und Textpassagen aus «Faust» ihre Meinung zu Goethes Werk bekanntgibt und ihn nicht so gut davonkommen lässt, verdauen die anwesenden Schüler*innen gerade die Nachricht ihres Lehrers, dass sie das Buch im kommenden Semester lesen werden.

Aber nicht nur die Schüler*innen, auch Bauingenieur*innen haben es schwer: Da verbringt man sechs Jahre seines Lebens im Studium, wird auf alles «Wichtige» vorbereitet, um dann endlich auf der Baustelle das Machtwort zu haben, und dann gräbt ein Baggerfahrer eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg aus. Doch bevor der Bauingenieur diese wieder einbuddeln lassen kann, stürmen bereits die Archäolog*innen mit ihren Pinseln und Vorschriften an. Weinend muss er mitansehen, wie seine allererste Baustelle zu einem Spielplatz der Archäologie wird.

Der Poetry-Slammer kommt zum Schluss, man solle doch etwas wie Medien oder Germanistik studieren – da hätte dann auch die Mutter etwas davon und würde nicht denken, dass der 30-jährige Sohn sein Geld verdient, indem er wie ein Vierjähriger im Sandkasten spielt. So wie es die Archäolog*innen nämlich tun.

Zack zack, ein Slammer nach dem anderen folgt. Kaum eine Verschnaufpause wird mir gegönnt. Zu allem Übel werde ich am Ende des letzten Auftritts zu Boden geworfen. Ein Albtraum, welcher sich zuvor bereits angekündigt hat. Nach kurzem Aufrappeln stehe ich aber dann wieder fest auf der Bühne und weiss trotz der nicht vorhandenen Dankbarkeit, dass die Poetry-Slammer nichts wären ohne mich. Und das ist doch Anerkennung genug.

Titelbild: Kane Reinholdtsen

Dieser Text ist entstanden in Zusammenarbeit mit der technischen BMS-Klasse von Seluan Ajina.

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