Photo Schweiz: Fotografie als Therapie
Dieses Wochenende stellen über 250 Fotograf:innen ihre Werke an der Photo Schweiz aus. Daniel Bolliger ist Lead-Kurator der Ausstellung. Ein Gespräch übers Schlussmachen und das Bild, das um die Welt ging.
Daniel Bolliger ist seit fünf Jahren Lead-Kurator bei der Photo Schweiz, die ab morgen im Kongresshaus stattfindet. Bolliger und das Kuratoren-Team stellen aus über 1000 Einsendungen das Programm für die grösste Fotografie-Werkschau der Schweiz zusammen. Aus der ganzen Schweiz reichen Profis, Amateur:innen und Studierende jedes Jahr ihre Portfolios ein.
Wie wählt man da aus?
Zum Gespräch erscheint ein Mann mit roter Kappe, vom Handrücken bis unters Kinn blitzen Tattoos durch und auf dem rechten kleinen Finger sitzt eine Bulldogge aus Gold. Nach verschiedenen Stationen im Ausland lebt und arbeitet Bolliger heute als Künstler, Creative Director, Fotograf und Kurator in Zürich.
Nina Graf: Ich habe mir eine Aufwärmübung überlegt. Ich zeige Ihnen Fotos von Tsüri.ch und Sie sagen mir, was Sie davon halten.
Daniel Bolliger: Super, das machen wir.
Wir schauen uns die drei Fotografien an: Eins, zwei und drei.
Bei Nummer zwei finde ich das Haus zu dunkel und nicht so einladend. Und auf dem dritten Bild wirkt die Porträtierte hart, was an diesem Muster im Hintergrund liegt. Hier hätte man eine andere Location auswählen müssen. Aber das Erste mit den beiden Personen, das gefällt mir. Hier spüre ich etwas raus.
Was macht den Unterschied aus?
Dieses Bild hat eine Geschichte. Es spricht zu mir. Die zwei sind witzig angezogen und auch der Hintergrund ist interessant. Wo ist das? In ihrem Atelier? Diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Für mich muss ein Bild schnell lesbar sein, dann ist es gut.
Was meinen Sie mit «Bilder lesen»?
Ich kann es nicht ganz benennen. Vieles ist intuitiv. Ich bin 48 Jahre alt und beschäftige mich schon ein Leben lang mit Bildern. Da entwickelst du einen Sinn für Komposition und Ästhetik. Aber für mich haben Bilder auch Schwingungen. Ich liebe es, Familienalben anzuschauen, auch von fremden Leuten. Beim Betrachten von Fotos kann man Dinge fühlen, die nicht erklärbar sind. Das hat vielleicht mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun oder mit etwas, das mich gerade beschäftigt.
Aber Fotografien sind ja nicht immer Privatsache. Ich habe mir überlegt, welches Bild vom letzten Jahr mir am besten in Erinnerung geblieben ist und es ist jenes von Trump.
Das, auf dem er den Arm in die Luft streckt, nachdem er angeschossen worden ist?
Genau.
Bilder haben eine dokumentarische Kraft. Fotografien, wie diese von Trump, gehen um die ganze Welt. Sie können Geschichte schreiben und selbst auch politisch sein. Ich muss aber ehrlich sagen, dass ich Mühe habe mit Reportagefotografie.
«Ich habe Mühe, loszulassen und halte deswegen alles mit der Kamera fest. Jeden Moment, jedes Licht, alles.»
Warum?
Sie ist ein wichtiges Mittel, um zu dokumentieren, um die Wahrheit aufzudecken. Aber das kann auch schnell kippen und das Setting bekommt ausbeuterische Züge: Dann, wenn man in Kriegsgebiete oder in armutsbetroffene Regionen geht und dort dann die Kamera draufhält, um als privilegierte:r Schweizer:in das Leid von anderen zu fotografieren. Da finde ich Bilder spannender, bei denen ich sehe, dass sich jemand mit sich selbst auseinandersetzt.
Fotografie als eine Form von Therapie.
Ja. Ich persönlich habe Mühe, loszulassen und halte deswegen alles mit der Kamera fest. Jeden Moment, jedes Licht, alles. Als mein damaliger Freund und ich uns vor vielen Jahren getrennt haben, wollte ich das unbedingt dokumentieren. Und dann sass er da, weinend und ich sass ihm gegenüber und habe mit meiner Kamera ihn und diese Situation festgehalten.
Die Fotografie ermöglicht mir, eine andere Rolle in meinem Leben einzunehmen. Ich werde dann zum Beobachter und kann zu dem Moment zurückkehren. Ihn wieder erleben. So merke ich auch, wie sich meine Gefühle über die Jahre verändern, wie ich Erinnerungen anders wahrnehme. Für mich ist Fotografie heilend, beruhigend.
Wurde das den Menschen in Ihrem Umfeld auch schon mal zu viel? Ihrem damaligen Freund beispielsweise.
Ich würde niemals solche Fotos irgendwo veröffentlichen, ohne die Einwilligung der jeweiligen Person einzuholen. Deshalb vertrauen mir die Menschen. Aber wenn ich dann beim Entwickeln merke, dass dieses Bild eine Botschaft vermittelt, die über den Moment hinausgeht – oder anders gesagt: Wenn ich merke, dieses Bild kann bei anderen Menschen etwas auslösen, dann frage ich nach: Darf ich die Bilder ausstellen? Und dann gebe ich auch nicht so schnell auf.
Tianyu Wang: «The moment of reaction, the Cake Was Smashed»
Tianyu Wang: «Yan Wenjiang»
Tianyu Wang: «Hiding and Seeking»
Ist das für Sie auch ein Kriterium, ob Sie ein Portfolio für die Photo Schweiz 25 auswählen? Dass die Bilder etwas auslösen?
Unbedingt. Das sieht man auch bei Tianyu Wang, sie studiert noch an der École cantonale d`art in Lausanne (ECAL) und lebt jetzt in Paris. Ihre Arbeit thematisiert ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Frausein. Wo sie auf Erwartungen an sich als Frau trifft und wo sie mit ihnen bricht.
Was unterscheidet ihre Arbeit denn von anderen Frauen, die diese Prozesse auch schon thematisiert haben?
In meinen Augen unterscheidet sich ihre Arbeit aus dem Grund, dass die Bilder auf den ersten Blick humorvoll und beklemmend zugleich sind. Sie widmet sich in ihrer Kunst Körpererfahrungen und Bewusstseinsphänomenen. Ausgehend von den unbequemen Emotionen des Alltags, entfalten sich ihre Arbeiten hin zu surrealen und fantastischen Welten, manchmal sogar ins Groteske. Ihr Fokus liegt dabei auf der unsichtbaren Gewalt und der Unterdrückung von Frauen im familiären Kontext.
Neben Wangs Werken werden im Kongresshaus ja Fotografien von über 250 Künstler:innen ausgestellt.
Genau, es wird viel gezeigt. Das kann überfordernd wirken, aber auf der anderen Seite hat es für etwas für alle. In der Schweiz bekommen wir immer viel Landschaftsfotografie eingesendet. Es gibt aber auch Modebilder oder Street Photography und ein paar wenige AI-Werke. Eines meiner Highlights ist Tiziana Amico, eine junge Fotografin, die in Zürich lebt und junge Mütter porträtiert. Ich musste darum kämpfen, dass ich ihre Bilder in meinem Raum zeigen kann. Denn Aurélia Marine, meine Kuratorinnen-Kollegin, wollte sie auch unbedingt.
Tiziana Amico: «Untitled from the series ‹Nunca Fui Adolescente› »
Tiziana Amico: «Untitled from the series ‹Nunca Fui Adolescente› »
Tiziana Amico: «Untitled from the series ‹Nunca Fui Adolescente› »
Diese Resonanz muss der Traum von allen sein, die ihre Bilder einreichen.
Amicos Arbeiten sind das, was ich mit einer Fotografie meine, die ich sofort lesen kann. Beim ersten Durchsehen der Einsendungen klickte ich auf ihr Portfolio und meine Reaktion war instinktiv: Wow! Wer ist das? Ihre Bilder haben mich von der ersten Sekunde an berührt.
Die Photo Schweiz 25 findet von Freitag, dem 7. Februar bis am Dienstag, 11. Februar im Kongresshaus Zürich statt. Informationen zum Programm unter www.photo-schweiz.ch.
Arbeiten von Daniel Bolliger unter www.danielbolligerstudio.com / danielbolliger.
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