Die Stadt fördert Kultur – aber weiss nicht, wen sie erreicht
Die Stadt versucht, mit Subventionen ein breites und zugängliches Kulturangebot zu schaffen und eine vielfältige Bevölkerung anzusprechen. Doch sie erfasst nicht, wer tatsächlich an der Kultur teilhat.
Möglichst viele Menschen sollen an einem vielfältigen und qualitativ hochwertigen Kulturangebot in Zürich teilhaben. So schreibt es die Stadt im Kulturleitbild 2024 – 2027, in welchem sie die städtische Subvention von Kulturangeboten darlegt. Dadurch sollen Austausch und Debatten ermöglicht werden, welche die «verschiedenen Perspektiven einer pluralistischen Bevölkerung spiegeln».
Viele Institutionen wie das Schauspielhaus Zürich oder die Tonhalle haben heute ein breites Programm, mit dem ein jüngeres, diverses Publikum erreicht werden soll.
Nur: Ob dieses Angebot tatsächlich Wirkung zeigt, ist für die Öffentlichkeit nicht ersichtlich, denn die Stadt erhebt keine Daten zur Demografie der Besucher:innen. Die Kulturinstitutionen führen zwar regelmässig Umfragen durch, die Erkenntnisse werden aber nicht herausgegeben. Auch nicht an Medien – aus Datenschutzgründen, wie es auf Anfrage heisst.
Kulturelle Teilhabe braucht mehr als günstige Tickets
Um eine Vielfalt des kulturellen Angebots zu ermöglichen, investiert die Stadt jährlich in die Kulturförderung. Rund 170 Millionen Franken sind es insgesamt, davon fliessen rund 50 Prozent des Budgets an die drei Institutionen Schauspielhaus, Tonhalle-Orchester und Kunsthaus. Insgesamt sind es 79 Millionen Franken. Die Tickets im Schauspielhaus kosten je nach Platzgruppe und Vorstellung zwischen 20 und über 100 Franken. Ohne Subventionen würden die Tickets durchschnittlich rund 270 Franken mehr kosten.
Neben dem Eintrittspreis spielen weitere Faktoren eine Rolle dabei, wer am Kulturangebot teilhaben kann. Tiina Huber ist Geschäftsleiterin von Kulturvermittlung Schweiz, einem nationalen ebenen- und spartenübergreifenden Dachverband, der sich unter anderem für kulturelle Teilhabe einsetzt.
Sie sagt: «Beim Thema der Inklusion geht es nicht nur darum, dass sich die Leute willkommen und zugehörig fühlen, sondern auch darum, Barrieren abzubauen und Vielfalt selbstverständlich mitzudenken.»
Kultur solle offen sein für die Gesamtheit der Bevölkerung, sagt sie, unabhängig von Bildung, Einkommen, Herkunft oder unterschiedlichen physischen, psychischen und kognitiven Voraussetzungen. «Der finanzielle Aspekt ist nicht zu vernachlässigen», es gehe aber auch um Faktoren wie eine zugängliche Sprache und den Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderungen. «Kulturvermittlung kann eine zentrale Rolle für kulturelle Teilhabe spielen, in dem sie breite Zugänge schafft, Mitgestaltungsangebote macht und Räume für Austausch und Dialog ermöglicht.»
Rollstuhlrampen alleine reichen nicht
Durch gesellschaftliche Entwicklungen und politische Schwerpunkte habe das Thema in den letzten zehn Jahren zwar stark an Wichtigkeit und Sichtbarkeit gewonnen, der Prozess sei aber noch längst nicht abgeschlossen, sagt Huber. «Die Kultur sowie die Politik und die Förderinstitutionen sind diesbezüglich stark in Bewegung, doch es ist auch eine Herausforderung für die Kulturinstitutionen.» Diese Öffnungsprozesse beanspruchten viele Ressourcen, Zeit und Know-how, sagt Huber. «Transformation geschieht nicht von einem Tag auf den anderen.»
«Es reicht nicht, eine rassismuskritische Woche zu organisieren.»
Tiina Huber, Geschäftsleiterin Kulturvermittlung Schweiz
Es habe sich viel getan, doch man dürfe jetzt nicht nachlassen. «Seit ich vor elf Jahren im Verband angefangen habe, sehe ich eine starke Entwicklung in der Kulturpraxis und -förderung.» Man habe viel dazu gelernt und tue es noch immer. «Es reicht jedoch nicht, eine rassismuskritische Woche zu organisieren. Das Ziel ist eine nachhaltige und strukturelle Verankerung kultureller Teilhabe, sozusagen als fester Bestandteil der DNA einer Kulturinstitution.» Man sei da noch nicht ganz am Ziel, aber auf einem guten Weg.
Mit dem Bau von Rollstuhlrampen alleine sei es nicht getan. «Es geht auch um die Frage, wie sich eine Person fühlt, wenn sie zum Beispiel durch den Hintereingang muss. Zugänglichkeit geht über den rein physischen Zugang hinaus.» Diesbezüglich seien viele Kulturhäuser noch zu wenig gut aufgestellt.
Weder Tonhalle noch Schauspielhaus machen Besucher:innendaten öffentlich
Das Thema der Zugänglichkeit beschäftigt auch die Zürcher Kulturinstitutionen. Auf Anfrage schreibt das Schauspielhaus Zürich, dass Kinder und Jugendliche, Schwarze Personen und marginalisierte Gruppen wie Menschen mit geringem Einkommen, Geflüchtete, Menschen mit IV-Ausweis erreicht werden sollen.
Diesbezüglich verfolge das Haus eine Grosszahl von Strategien und Angeboten. Etwa durch Jugendclubs, Ferienkurse und Klassenzimmerstücke, sogenannte Enterspaces und ermässigte Tickets. Durch Audiodeskriptionen sollen auch Menschen mit Sehbehinderungen erreicht werden. Seit 2022 beschäftigt das Schauspielhaus ausserdem eine Diversitätsagentin.
Auch das Tonhalle-Orchester Zürich erklärt: «Wir programmieren immer wieder Konzertprogramme, in denen diese Solisten Musik aus ihrer Heimat spielen.» So etwa der Pianist Fazıl Say, der mit dem Orchester auftritt und die türkische Diaspora anspreche. Mit Angeboten wie «klubZ», vergünstigten Eintritten und gemeinschaftlichen Anlässen wie das Format «tonhalleLATE», das Klassik und Elektronik verbinde, solle zudem gezielt die jüngere Generation adressiert werden.
Sowohl die Tonhalle als auch das Schauspielhaus betonen, dass durch diese Angebote ein breiteres jüngeres Publikum erreicht wird. Das Schauspielhaus schreibt auf Anfrage: «Das Format ‹Das Junge Schauspielhaus› zieht jährlich über 20’000 junge Besucher:innen an, davon sind rund 50 Prozent Schüler:innen – also Kinder und Jugendliche.»
Doch beide Kulturinstitutionen schreiben auf Anfrage, sie würden zwar zum Teil qualitative Messungen erheben und Umfragen bei ihren Besucher:innen durchführen, könnten die Ergebnisse aus Datenschutzgründen aber nicht öffentlich machen.
Stadt erhebt keine demografischen Publikumsdaten
Auch die Stadt bemüht sich, die Institutionen in Sachen Zugänglichkeit zu unterstützen. So gibt es seit 2024 das Förderinstrument «Transformationsbeiträge Kulturelle Teilhabe». Damit sollen Institutionen, die einen wiederkehrenden Betriebsbeitrag erhalten, die Möglichkeit bekommen, ihre Strukturen, Entscheidungsprozesse und ihr Angebot zu überprüfen. «Ziel ist es, Zugangsbarrieren abzubauen und die Chancengleichheit zu verbessern», schreibt die Stadt dazu.
Ob dieses Förderinstrument tatsächlich Wirkung beim Publikum zeigt, weiss die Stadt allerdings nicht. Sie erhebt zwar regelmässig Kennzahlen zur Anzahl der Veranstaltungen oder Besucher:innen, aber «es gibt kein städtisches Kulturmonitoring zu den Publikumszahlen der einzelnen Institutionen nach Alter, Geschlecht, Einkommensstand oder Bildungsstand», schreibt die Stadt. Weiter heisst es: «Grundsätzlich strebt die Stadt eine möglichst breite Zugänglichkeit zu Kultur an.» Das bedeute auch eine aktive, gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Leben und dessen Mitgestaltung.
Tiina Huber summiert: «Unsere Kultur soll unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit widerspiegeln. Veranstaltungen, die eine breite und vielfältige Gesellschaft ansprechen, sichtbar machen und sie auch als Mitgestaltende einbinden, sind sehr wertvoll für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt.»
Dafür setze sich der Verband Kulturvermittlung Schweiz ein. «Wir vernetzen Akteur:innen der Kulturvermittlung und kulturellen Teilhabe miteinander, machen gelungene Projekte und Entwicklungen sichtbar und setzen uns dafür ein, dass kulturelle Teilhabe weiter gestärkt und aktiv in die Kultur- und Bildungspolitik hineingetragen wird.»
Dass die Kulturinstitutionen keine demografischen Daten teilen, sieht Huber einerseits kritisch, hat aber auch Verständnis: «Datenschutz ist heute ein grosses Thema, dass die Institutionen hier genau hinsehen, ist auch wichtig.» Es wäre allerdings begrüssenswert, wenn Optionen entstünden, die positive Wirkung des erweiterten Angebots auch sichtbar zu machen. Das sei auch mit anonymisierten Daten möglich.
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