#methoo: Ehemalige Mitarbeiterinnen werfen ETH-Professor Sexismus vor - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Lara Blatter

Co-Geschäftsleitung & Redaktorin

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11. August 2023 um 06:30

Aktualisiert 13.08.2023

Sexismus und Machtmissbrauch an der ETH: Ehemalige beschuldigen Professor

Fünf ehemalige ETH-Wissenschaftlerinnen erheben Vorwürfe gegen einen Professor. Er soll sie sexuell belästigt, seine Macht missbraucht und sich immer wieder rassistisch geäussert haben. Darüber Bescheid gewusst haben viele – auch die Verantwortlichen.

Über mehrere Monate hinweg haben wir mit ehemaligen ETH-Mitarbeiterinnen gesprochen. Die Vorwürfe: Sexismus, Rassismus, Machtmissbrauch. (Foto: Lara Blatter)

Mit ihrem richtigen Namen wollen die ehemaligen Wissenschaftlerinnen in diesem Artikel nicht erscheinen. Alle Namen der Betroffenen in diesem Text sind frei erfunden. Um die Frauen zu schützen, wird der Lehrstuhl, an dem sie waren, nicht erwähnt, sondern lediglich das Departement: jenes für Management, Technologie und Ökonomie, kurz D-MTEC. Den Professor nennen wir Thomas Meier. 

Die Rede ist von Sexismus, Rassismus und Machtmissbrauch. Die Vorwürfe erstrecken sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Alle Wissenschaftlerinnen, mit denen wir gesprochen haben, waren zwischen 2017 und 2022 am Lehrstuhl desselben Professors. Heute forschen oder arbeiten sie mehrheitlich ausserhalb der Schweiz. 

Ihnen allen ist wichtig zu betonen, dass es sich bei ihren Erzählungen nicht um individuelle Erfahrungen handelt. Sondern dass sie stellvertretend für ein System stehen, das Machtmissbrauch stützt. Es ist die Geschichte der ETH Zürich, ihrer Machtstrukturen und der steilen Hierarchien in der Wissenschaft.

Die ETH ist eine Männerdomäne: 1985 wurde an der ETH erstmals eine Professorin eingestellt. Am D-MTEC gar erst 1997. (Foto: Lara Blatter)

Sara Kuster: «Er respektiert keine Grenzen»

Sara Kuster kam als Doktorandin an den Lehrstuhl von Thomas Meier. In einem Dokument, das sich wie ein Tagebuch liest, sammelte sie akribisch Momente, in welchen sich Meier ihr oder Arbeitskolleginnen gegenüber unangebracht verhalten hat. Wir bekamen Einsicht in ihre Notizen. Dazwischen schleicht sich der Hashtag #mETHoo. Eine Anspielung auf die ETH und die #MeToo-Bewegung.

Da wäre ein Mittagessen unter freiem Himmel, die Luft sei kühl gewesen, ungefragt soll der Professor ihr über den Arm gestreichelt und gemeint haben, dass sie friere. Ein anderes Mal soll er gesagt haben, dass er lieber Frauen einstelle; wie würde sonst die Mikrowelle aussehen? Und bei Besprechungen unter vier Augen meinte er zu Kuster, er sei geblendet – und zwar nicht von der Sonne. In Zeiten, als es der Doktorandin mental nicht so gut ging, bot ihr der Professor an, zusammen einen privaten Ausflug in seinem Auto zu unternehmen. Sie lehnte ab. 

«Ich wollte nur noch raus aus der Wissenschaft und nicht mehr abhängig von irgendwelchen Professoren sein.»

Sara Kuster über ihre Zeit als Doktorandin

Kusters Zeit an der ETH fiel genau in jene der Covid-Pandemie. Masken habe der Professor laut ihren Erzählungen im Büro für überflüssig gehalten. Es sei sowieso schöner, sie anzusehen, soll er zu ihr gesagt haben. Er soll die damalige Doktorandin auch gefragt haben, ob sie aus «Gender-Gründen» an einem Meeting teilnehme, an dem sonst nur Männer anwesend waren.

Mit seinem Verhalten und seinen Sprüchen hat er in mir ein Gefühl von Ohnmacht ausgelöst. Oft ignorierte ich seine Sprüche oder versuchte, die Diskussion wieder auf die sachliche und professionelle Ebene zu bringen. Ist sein Verhalten wirklich so schlimm? Diese Frage schwebte über die drei Jahre, die ich am Lehrstuhl verbrachte, über mir.

Ich schwankte zwischen den beiden Haltungen «Stell dich nicht so an» und «Wehr dich, schweigen schützt Täter». Stets bin ich damit beschäftigt gewesen, ihm nicht zu nahe zu kommen und aufzupassen, was ich sagte. Mein Begleiter über die Jahre an der ETH: ein diffuses Unbehagen. Heute weiss ich, dass sein Verhalten übergriffig ist. Er respektiert keine Grenzen.

Die akademische Welt wollte Kuster, als sie ihren PhD in der Tasche hatte, direkt verlassen. «Ich wollte nur noch raus aus der Wissenschaft und nicht mehr abhängig von irgendwelchen Professoren sein», sagt sie. Die Mittdreissigerin hatte kein Vertrauen mehr in das System und fürchtete sich um ihre psychische Integrität. Zu viel Energie habe ihr die Zeit an der ETH geraubt. Energie, die sie lieber in die Forschung gesteckt hätte, statt in den Kampf für mehr Gleichstellung.

Elena Flohr: «Meine Karriere war zum Glück nicht abhängig von ihm»

Sara Kuster bleibt nicht die einzige, die unter dem Verhalten von Meier leidet. Elena Flohr war als Senior Researcher am selben Lehrstuhl. Heute arbeitet sie als Assistenzprofessorin an einer Universität im nahen Ausland. Zum Gespräch treffen wir Flohr, wie auch die anderen, per Video Call. Spricht sie über die ETH, wird sie emotional und gestikuliert viel. Im Hintergrund der Wissenschaftlerin sind Rechnungen und Gleichungen auf einer Wandtafel zu sehen.

Die Stimmung am Lehrstuhl beschreibt sie als angespannt, alle seien stets gewappnet gewesen, dass der Professor Grenzen überschreite. Laut der Wissenschaftlerin sei Meier nicht nur gegenüber Frauen feindlich gewesen, auch äusserte er sich mehrmals rassistisch. So habe der Professor beispielsweise Geräusche gemacht, um Menschen aus Afrika nachzuahmen oder er zog seine Augen in die Länge, um Chines:innen darzustellen.

Meier habe oft Sprüche zum Aussehen seiner Studentinnen gemacht. Beleidigendes Verhalten und Kränkungen hätten zur Tagesordnung gehört.

Bei einem Lunch hat er mich vor dem ganzen Team blossgestellt und mich als dumm und schwer von Begriff bezeichnet. Ich war etwas älter als die Doktorandinnen und hatte meinen PhD bereits in der Tasche. Ich traute mich darum, mich mit Worten zu wehren. Denn meine Karriere war zum Glück nicht so abhängig von ihm. Als ich aber beim Mittagessen eine Entschuldigung forderte, fragte er mich belustigt, ob ich ihn sonst bei der Leitung melden werde.

Eigentlich wollte ich an der ETH bleiben. Eines Tages meinte er aber, dass meine Stelle nicht verlängert wurde. Das war mitten in der Pandemie. Er behandelte mich nicht wie eine Wissenschaftlerin und meinte: Ich könne ja zu meiner Familie zurück, denn da wo ich herkomme, seien die familiären Strukturen sehr gut ausgeprägt und man sorge sich umeinander. Sowas hätte er zu einem Mann oder einer Schweizerin nicht gesagt. Ich wollte nicht zurück zu meiner Familie, ich wollte als Wissenschaftlerin Karriere machen. Ich will forschen.

Auch heute noch vermeidet Flohr Konferenzen, bei denen Meier teilnimmt. «Ich will ihn nie wieder sehen», sagt sie. Als die Wissenschaftlerin die ETH verliess, realisierte sie, wie erschöpft sie von diesem toxischen Arbeitsklima war. Sie hatte die Situation unterschätzt und hatte nach ihrer Zeit an der Hochschule noch oft Angstzustände. «Ich glaube mittlerweile, dass er mich angestellt hat, weil ich eine Frau bin und nicht, weil er meine Arbeit schätzte. Das schmerzt.»

Über die Vorfälle sprechen die Frauen nur, weil sie nicht mehr an der ETH sind. (Foto: Lara Blatter)

Monique Markowski: «Er ist zu wenig gewalttätig»

Über mehrere Jahre war Monique Markowski an der ETH. Sie doktorierte an der Technischen Hochschule und blieb anschliessend als Postdoktorandin. Ähnlich wie Flohr erlebte sie das Klima am Lehrstuhl von Thomas Meier als toxisch. Unangebrachte Sprüche gehörten zum Alltag. 

Die junge Forscherin hat die Wissenschaft mittlerweile verlassen. Die akademische Welt und ihre Strukturen seien nicht das richtige Umfeld für sie und das habe längst nicht nur mit Meier zu tun. Sie wisse auch von anderen Berufskolleginnen, die geschlechtsspezifische Diskriminierung erfahren hätten. Eine Kollegin beispielsweise habe sich an einer Konferenz mit jemandem über ihre Forschung unterhalten. Im nächsten Moment sei die Frage «Wollen wir im Zimmer weiter darüber sprechen?» gekommen. 

Zwar habe sie an der ETH auch gute Zeiten gehabt, doch «der Professor ist kompliziert im Umgang gewesen», beschreibt sie. 

Mit sexistischen Sprüchen hat er mich bei gemeinsamen Mittagessen blossgestellt. Ich wandte mich darum nach einem spezifischen Vorfall, auf den ich aber nicht weiter eingehen möchte, an die ETH. Es hat mir geholfen, darüber zu sprechen. Ich hatte so wieder die Kontrolle über die Situation. Eine offizielle Meldung hätte ich nicht anonym machen können und das wollte ich nicht. Die Wissenschaft ist eine kleine Welt. Du begegnest immer wieder denselben Menschen, sie lesen deine Papers und du bist abhängig von ihrem Wohlwollen. 

Thomas Meier übte seine Macht sehr subtil aus. Ich erlebte oft rassistische Mikroaggressionen – Kommentare, Fragen, nonverbale Handlungen, die mich aufgrund meiner Herkunft herabsetzen. Rassistisch war er eigentlich zu allen, die nicht nordeuropäisch waren. Viele an der ETH wissen über seinen Führungsstil Bescheid, aber er ist zu wenig brutal, zu wenig gewalttätig, dass etwas geschieht. Und auch für viele von uns waren die Vorfälle nicht schwer genug, dass wir uns beschwerten. Aber die Vorfälle waren bezeichnend für die allgemeinen Strukturen im akademischen Bereich. Frauen verlassen die Wissenschaft wegen genau diesen Strukturen.

Hochschulen sind besonders von Machtmissbrauch betroffen

Thomas Meiers Führungsstil sei aber zu wenig brutal, als dass etwas passierte, schilderte Markowski. Und auch Kuster sagt: «Über einzelne Vorfälle hätte man irgendwie wegschauen können. Doch es ist die Summe an Grenzüberschreitungen, die uns ausgelaugt hat.» 

«Die Toleranz, was Hochschulen dulden oder wo sie wegschauen, ist viel zu hoch.»

Andrea Zimmermann

Ihre Worte sitzen. Erstaunen tun sie Andrea Zimmermann jedoch nicht. Zimmermann führte im Auftrag der Gleichstellungskommission des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Basel am Zentrum Gender Studies eine Literaturstudie zu Gleichstellungsmassnahmen an Hochschulen durch, die Anfang Juli erschienen ist. Auch der Missbrauch von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen ist darin Thema. 

«Die Toleranz, was Hochschulen dulden oder wo sie beispielsweise aus Unsicherheiten wegschauen, ist viel zu hoch. Und wehren tun sich nur wenige Betroffene, zu gross ist die Angst vor Konsequenzen», sagt Andrea Zimmermann. Diskriminierende Strukturen seien tief in den Hochschulen verankert, fasst sie das Problem in wenigen Worten zusammen. Dass die Strukturen an der ETH und auch an anderen Hochschulen Machtmissbrauch begünstigen, hänge mit mehreren Faktoren zusammen: steile Hierarchien, starke Abhängigkeiten von Personen in Machtpositionen, männliche Dominanzkultur und die in der Wissenschaft typische wettbewerbsorientierte Arbeitskultur, in der sich die Forscher:innen gegenseitig ausspielen.

Zimmermann verortet die Probleme klar auf der Führungsebene. Von oben müsse der Kulturwandel kommen. Denn wenn Leitungspersonen sexistische Witze machen würden, dann sei klar, was die Haltung der Institution ist. «Universitäten brauchen auf allen Ebenen bis in die einzelnen Forschungsgruppen hinein Führungspersonen, die sich ihrer Führungsaufgabe bewusst sind, eine Nulltoleranz gegenüber Diskriminierung vorleben und vielfältige Teams etablieren», sagt Zimmermann. 

Die Wissenschaftlerin spricht aber auch von einem Wandel, der gemäss der Befunde der Studie wahrnehmbar ist: Wo in der Vergangenheit Vorfälle isoliert betrachtet wurden, sei man sich heute einig, dass es sich um ein systemisches Problem handle. Aus der Studie geht hervor, dass sexualisierte Belästigung und Diskriminierung Talente abschrecken, Karrieren zerstören und den wissenschaftlichen Betrieb behindern würden. 

Gegen Diskriminierung und sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen, sollte also auch im Eigeninteresse von Institutionen liegen. Dies scheint die ETH in der Theorie erkannt zu haben. 

Der Frauenanteil an der ETH geht laut dem Equality Monitoring 2022 auf allen Stufen schleppend und minimal nach oben. (Foto: Lara Blatter)

Witze über den Code of Conduct

Nebst gesetzlichen Regeln wie dem Gleichstellungsgesetz, das die Arbeitgeberin in die Pflicht nimmt, ihre Arbeitnehmer:innen am Arbeitsplatz vor sexistischer Belästigung, Mobbing und Diskriminierung zu schützen, gibt es auch eigens auferlegte Regeln. 

An der ETH etwa ist das der Code of Conduct. Ein Verhaltenskodex, der für einen respektvollen und professionellen Umgang innerhalb der ETH sorgen soll. Dieser hält beispielsweise fest, dass unerwünschte, wenn auch harmlose Berührungen nicht toleriert werden. Ebenso wie anzügliche und zweideutige Bemerkungen. 

Diesen Kodex soll Thomas Meier laut Aussagen von Sara Kuster jedoch nicht sonderlich ernst genommen haben. Er wisse nicht, warum es so einen brauche, soll er gesagt haben. Dürfe man überhaupt noch in ihr Büro kommen, habe er gefragt. Und auch gegenüber Elena Flohr habe er, nachdem er sie beleidigt hatte, darüber gewitzelt, dass sie ihn ja melden könne. 

Die allermeisten ETH-Professor:innen unterstützten den Kulturwandel und befürworteten auch den Code of Conduct, heisst es in der Stellungnahme der Hochschule. «Dass es einzelne Personen gibt, die das anders sehen, ist äusserst bedauerlich, aber es handelt sich um eine verschwindende Minderheit», sagt Franziska Schmid, Mediensprecherin der ETH Zürich.

Betroffene haben Angst vor Konsequenzen

Instrumente wie Meldeverfahren, Verhaltenskodexe und Leitlinien seien zwingend notwendig. Aber damit diese Massnahmen greifen würden, so Zimmermann, müssten sie glaubwürdig von Führungskräften gelebt werden. Sonst seien sie lediglich hohle Gefässe. Zu oft hätten Massnahmen einen rein symbolischen Charakter. «Zahlreiche Studien legen nahe, dass Hochschulen gelegentlich dazu neigen, aus Angst vor Rufschädigung Vorwürfe zu ignorieren, anstatt transparent und verantwortungsvoll zu handeln», heisst es in der Studie. 
 

«Professor:innen reflektieren ihr eigenes Verhalten heute viel stärker.»

Franziska Schmid, ETH-Sprecherin, über den Wandel

Dass die ETH systemische Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von Fehlverhalten hat, ist schon seit Längerem bekannt: Darauf deutet auch die ETH-Mitarbeitendenbefragung von 2021 hin. Demnach zweifeln viele daran, dass Beschwerden wegen Fehlverhaltens an der ETH angemessen bearbeitet werden, fasste etwa die NZZ letztes Jahr in einer Recherche zusammen. 

Franziska Schmid arbeitet seit bald 17 Jahren für die ETH. Dass die hierarchischen Strukturen im akademischen Bereich ein Problem sind, streitet sie nicht ab. Doch die Hochschule sei im Wandel, es habe sich viel getan in den letzten Jahren. «Professor:innen reflektieren ihr eigenes Verhalten heute viel stärker und auch Doktorierende treten selbstbewusster auf und agieren auf Augenhöhe», sagt sie. 

Um die Abhängigkeiten von einzelnen Professor:innen zu verringern, werden seit 2022 alle Doktorierenden von mindestens zwei Personen betreut. Heisst, die Betreuung wird auf mehrere Köpfe verteilt. Auch wurden Führungskurse für Professor:innen eingeführt. 

Als Betroffene oder Zeugin von Machtmissbrauch über das Erlebte zu sprechen, braucht Mut. Wieso das so ist, darüber gibt die Studie von Zimmermann Aufschluss: Betroffene befürchten negative Auswirkungen, wenn sie Fehlverhalten melden würden. «Dabei müsste die Message klar sein: Wer sich wehrt, erfährt Unterstützung und hat keine karriereschädigenden Konsequenzen zu tragen», kommentiert Zimmermann. Sie plädiert für transparente Prozesse und Sanktionen – auch gegen hohe Uni-Angehörige wie Professor:innen. 

Sara Kuster hat sich entschieden, Thomas Meier zu melden. Jedoch erst, als sie ihren PhD abgeschlossen und den Entscheid gefasst hat, die Akademie und ihre Abhängigkeiten vorläufig zu verlassen. «Ich bin nicht mehr auf seine Gutachten und Empfehlungen angewiesen», so Kuster. Über die Meldung kann sie keine Aussage machen, da es sich um einen vertraulichen Prozess handle.

Die ETH betont in ihrer Stellungnahme, dass es ihr als Hochschule wichtig ist, in solchen Situationen aktiv das Gespräch zu suchen. Sie bestätigt auch, dass mit beiden Parteien separat informelle Gespräche stattgefunden haben. Konkrete Konsequenzen haben diese aber keine. Denn in einer rein informellen Phase besteht grundsätzlich keine Möglichkeit zu personalrechtlichen Massnahmen.

Die anderen Frauen sehen von einer Meldung ab. Und über die Vorfälle sprechen sie nur, weil sie nicht mehr an der ETH sind.

Anonyme Meldungen werden neu beachtet

Mittlerweile wurden die Melde-Möglichkeiten an der ETH erweitert. Seit April können ETH-Angehörige auch ein anonymes Meldeformular nutzen, wenn sie an der Hochschule unangemessenes Verhalten erlebt oder beobachtet haben.

Das Online-​Formular löst aber nicht unmittelbar einen internen Prozess aus, Meldungen werden zuerst lediglich im System erfasst. Heisst: Aufgrund von anonymen Hinweisen allein wird die Hochschule nicht aktiv. Denn die beschuldigte Person habe das Recht, zu wissen, von wem die Meldung kommt, um sich verteidigen zu können. Ohne beschuldigende Person also kein Verfahren. Aber immerhin sammle die Hochschule so Zahlen und Betroffene können Erlebnisse deponieren, findet Kuster.

Und auch die ETH-Sprecherin betont: «Wir möchten keinesfalls bei Betroffenen den Eindruck erwecken, bei einer anonymen Meldung gehe die ETH gegen Beschuldigte vor, obwohl dem nicht so ist.» Zu Konsequenzen kann ein Fehlverhalten von ETH-Mitarbeitenden erst führen, wenn Betroffene eine formelle Meldung eingeben – also mit ihrem Namen dahinter stehen.

Die Abhängigkeit ist hoch: Doktorierende und Postdoktorierende sind auf die Gutachten ihrer Professor:innen angewiesen. Sie werden von ihnen betreut und bewertet. (Foto: Lara Blatter)

Seit der Einführung des Online-Formulars seien erst wenige Meldungen eingegangen, die von einer externen, unabhängigen Stelle gesammelt und ausgewertet werden. Ziel ist es, dass die ETH durch anonyme Meldungen möglichst schnell erkennt, wo es wichtig ist, aktiv zu werden. Die Hochschule müsse aber noch mehr Erfahrungen sammeln, um Aussagen über deren Impact machen zu können. 

Auch Zimmermann sieht die begrenzten Möglichkeiten von anonymen Meldetools. «Aber wir stecken nun mal in einem System, wo Betroffene eher anonym über ihr Erlebtes sprechen. Solange das die einzige Möglichkeit ist, Dinge sichtbar zu machen, müssen wir das ernst nehmen und können Missstände nicht einfach ignorieren, nur weil sie anonym gemeldet werden», sagt sie. Dass die ETH neu auch anonyme Meldungen entgegennehme, sei ein Schritt in die richtige Richtung.

Steile Hierarchien und allmächtige Professoren

Wie Kuster, Flohr und Markowski waren auch Kira Schoon und Ines Johnson am Lehrstuhl von Thomas Meier. Als Postdoktorandinnen war ihre Abhängigkeit von Thomas Meier weniger gross. 

Sie selbst haben keine schlechten Erfahrungen mit Meier machen müssen. Doch die Gerüchte drangen zu ihnen durch und die Hierarchien an Hochschulen kritisieren auch sie stark. «Da kommen junge Wissenschaftlerinnen und treffen auf diese alten weissen Männer, die viel Renommee und Macht haben – dass das in manchen Fällen nicht gut kommt, erstaunt mich leider nicht», so Schoon.

«Thomas Meier ist ein Sexist und das Klima an seinem Lehrstuhl toxisch.»

Ines Johnson

Johnson fühlt sich heute schuldig, erzählt sie uns. Denn erst als enge Arbeitskolleginnen von unangebrachten Sprüchen und unangemessenen Bemühungen seitens des Professors erzählten, schenkte sie den Gerüchten Beachtung und glaubte den Betroffenen. «Ich würde heute der Angst und den Gerüchten mehr Aufmerksamkeit schenken», sagt sie.

Gegen Ende ihrer ETH-Zeit realisierte Johnson: «Thomas Meier ist ein Sexist und das Klima an seinem Lehrstuhl toxisch.» Es seien die Strukturen der ETH, die solche allmächtigen Professoren hervorbringe. Auch schrieb sie in einem Mail vor unserem Treffen: «Professor Thomas Meier ist ein äusserst einflussreicher Wissenschaftler auf seinem Gebiet. Was schwer zu beschreiben ist, ist der Einfluss, den er auf alle von uns ausgeübt hat und der einige von uns immer noch zum Schweigen zwingt.»

Viele von unseren Anfragen an ehemalige und aktuelle Mitarbeiter:innen des Lehrstuhls blieben auch nach vermehrtem Nachhaken unbeantwortet. Und wenn sie antworteten, dann wollten sie nicht zitiert werden. Auch jene, die sich äusserten, waren sehr vorsichtig. Über Erlebnisse, die sie identifizierbar machen, wollten sie nicht sprechen. 

«Offenbar sind viele meiner Mitarbeitenden mit meinem Führungsstil zufrieden.»

Thomas Meier

Thomas Meier selbst wollte zu den Vorwürfen keine Stellung beziehen. Grundsätzlich würde er es begrüssen, wenn sich Personen, die sich in bestimmten Situationen gestört fühlen, dies direkt ansprechen würden. «Ich habe angeboten, mit den Personen, die sich bei der ETH meinetwegen beschwerten, ein Gespräch zu führen – was sie jedoch abgelehnt haben», bedauert der Professor. Auch verweist er auf seine Nomination für einen ETH-internen Award, der Personen mit vorbildlichem Führungsstil auszeichnet. «Offenbar sind viele meiner Mitarbeitenden mit meinem Führungsstil zufrieden», so Meier. 

Eine weitere ehemalige Mitarbeiterin des Lehrstuhls meldete sich auf Anfrage ebenfalls. Sie sei von Thomas Meier stets unterstützt worden und er sei ein sehr verständnisvoller Chef gewesen. Ein Chef, der besonders Frauen und ihre Karriere fördere. Zum Arbeitsklima am Lehrstuhl äusserte sie sich nicht. 

Dass Thomas Meier Frauen in einem technischen Umfeld fördert, bestreitet auch Kuster nicht. Für die ETH seien überproportional viele Frauen am Lehrstuhl gewesen. Seine Methoden und Motive dahinter stellt sie aber infrage. 

Frauen verlassen Wissenschaft

Es wäre im Interesse der Gesellschaft, dass Lehrstühle divers besetzt sind. «Nur so können wir durchbrechen, dass der Mann in der Forschung als universelle Norm weiterbesteht», sagt Zimmermann. Es sei zudem auch ökonomisch verheerend, wenn gut ausgebildete Frauen die Wissenschaft wegen Strukturen, die Diskriminierung und sexuelle Belästigung begünstigen, verlassen.

Ines Johnson findet es zudem widersprüchlich, dass eine renommierte Hochschule wie die ETH diese Missstände nicht in den Griff bekommt. «Wir wollen mit unserer Forschung, geleitet von demokratischen Werten, die Welt verbessern, den Klimawandel bekämpfen und neue, innovative Wege aufzeigen. Gleichzeitig werden Lehrstühle derart patriarchalisch und altmodisch geführt», sagt Johnson. Das macht in den Augen der Wissenschaftlerin keinen Sinn. 

Lehrstühle sollten divers besetzt sein, nur so bleibe die Forschung innovativ, findet Andrea Zimmermann. (Foto: Lara Blatter)

Dem pflichtet auch Zimmermann bei. «Forschung wird dann innovativ, wenn verschiedene Perspektiven zusammenkommen, wenn Unis anfangen, interdisziplinär zu forschen, Lehrstühle divers besetzen und die Hierarchien abflachen», sagt sie. 

Doch dieser Ansatz widerspreche dem problematischen Bild vom Genie. Auch das ist ein Befund der Studie. Das Bild vom exzellenten Wissenschaftler sei stark mit Normen von Männlichkeit verbunden. Er gestaltet seinen Fachbereich ganz nach seinem Willen, er beantwortet die grossen Fragen alleine, ist stets mobil, braucht keine sozialen Beziehungen und widmet sein ganzes Leben der Forschung.

Dieses stereotype Bild eines Professors, das nach wie vor in den Köpfen wie auch in den Organigrammen der Hochschulen verankert sei, gelte es laut Zimmermann aufzubrechen. Ein Stereotyp, das ausbeuterische Verhältnisse gegenüber sich selbst und anderen begünstigt. 

Kuster verliess schliesslich die ETH, nachdem sie ihren Doktortitel erhalten hatte. Dabei seien ihre Karrierechancen gut gestanden. Die Wissenschaft brauche insbesondere weiblichen Nachwuchs. «Ich will nie mehr von Gutachten und Empfehlungen solcher Männer abhängig sein – von Menschen, die die akademische Branche so akzeptieren, wie sie ist, und diese Hierarchien reproduzieren», sagt sie. 

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist gesetzlich verboten. Seit April 2023 kann man Vorfälle als Zeug:in oder als Betroffene anonym via Meldeformular der ETH melden. Es können auch Vorfälle erfasst werden, die Jahre zurückliegen. Weitere Möglichkeiten zu informellen und formellen Meldungen sind bei der ETH-​internen Beratungs-​​ und Schlichtungsstelle Respekt aufgelistet.

Ebenfalls können sich Betroffene von sexueller Belästigung über alle Branchen hinweg auf belästigt.ch anonym und kostenlos beraten lassen.

Diese Recherche wurde ermöglicht und finanziell unterstützt durch «investigativ.ch: Recherche-Fonds der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung».

Nachträglich wurde zum Schutz eine:r Interviewpartner:in eine Passage im Text entfernt.

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